Folge 6 der Dokumentation über Kronstädter Musikerinnen stellt die Schwestern Ella Gmeiner, Lula Mysz-Gmeiner und Luise Gmeiner vor. Das Typoskript, betitelt „Die Schwestern Gmeiner“, ist mit der Jahreszahl 1943 datiert und mit dem Monogramm Ma.Co. unterzeichnet. Wir vermuten, dass sich dahinter die Schauspielerin Manna Copony (1892-1960), Tochter von Traugott Teutsch (1865-1941), Direktor der väterlichen Papierfabrik in Zernescht/Z˛rne{ti und Abgeordneter im ungarischen Reichstag, sowie Schwester der Malerin Grete Csaki-Copony (1893-1990), verbirgt. Manna Copony war in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg als Schauspielerin in Berlin engagiert und hat später dem Ensemble des 1933 ins Leben gerufenen Deutschen Landestheaters in Rumänien angehört.
Wegen seines beträchtlichen Umfangs werden wir Manna Coponys Beitrag auf drei Ausgaben verteilt in der „Karpatenrundschau“ veröffentlichen. Im ersten Teil ist hauptsächlich von der Opernsängerin, Konzertsängerin und Gesangspädagogin Ella Gmeiner die Rede. Als nachfolgender Text über sie geschrieben wurde, stand sie bereits im 69. Lebensjahr. Sie verstarb am 21. Dezember 1954 in Stuttgart.
Die Schwestern Gmeiner, Ella, Lula und Luise, sind die lebendige Versinnbildlichung zweier entgegengesetzter Thesen. Dieses: dass alles, was aus einer Wurzel sprießt, artverwandt und gleich ist, und überdies: dass jedes Lebewesen einmalig sei und gleiche Anlagen in jedem Menschen auf andere Weise zur Auswirkung gedeihen.
Unter der Zinne ist jede von den Schwestern geboren. Eingereiht in den reichen Kranz der Geschwister, blühten sie auf dem Boden wohliger Bürgerlichkeit. Das schöne Familienhaus, mit den alten Bäumen im Garten, ist noch heute als eines der altsächsischen Patrizierhäuser unserer Stadt zu erkennen (1).
Liebe und Talent zur Kunst brachte die Mutter aus ihrer Familie mit, das Feuer für alles deutsche Geschehen in der Welt, den kämpferischen Geist, der Vater (2). Bismarcks und Moltkes Büsten waren als gute Hausgeister im Wohnzimmer aufgestellt.
Die Neigungen des Vaters wie der Mutter schlugen Wurzel in den Kindern, und wie das so oft geschieht: Die Töchter erbten mehr als die Söhne den Sinn für Kampf und den Mut zum Leben.
Von zehn Kindern starben vier im frühen Alter, fünf wurden Musiker, und nur der Jüngste wählte, dem Vater gleich, einen kaufmännischen Beruf. – Heute freilich studieren zwei von den drei Kindern dieses „bürgerlichen“ Gmeiners Musik! – Art lässt nicht von Art!
Doch von den Schwestern soll die Rede sein!
Ella, die älteste, wurde Opernsängerin – Lula, Konzertsängerin – Luise ist Pianistin.
Das Leben und Wirken dieser drei besonderen Frauen kennen wir als Landsleute, und über die Grenzen der Heimat hinaus kennt es der musikgebildete Zeitgenosse. Was zu sagen bleibt an dieser Stelle, ist ein Zusammenfassen dessen, was uns an jeder der Persönlichkeiten wesentlich dünkt. Zu diesem Zweck müssen wir zurückgehen auf alte Tage und Bilder: Wie die Gmeinermädel noch kleine Kronstädterinnen waren, die auf dem Honterusfest um ihre blauroten Zopfbänder kämpften, wie Ella, die „Bandenführerin“, in der Schule ist und die schüchterne Lula im Theater nach dem Herrn Dr. Gusbeth (3) äugt, um zu wissen, wann man lachen darf, wann weinen – wie Luischen von den Brüdern sekkiert wird und Trost sucht in den ersten Klavierstunden bei der Tante Marie Hintz (4) – wie dann aber alle drei Schwestern die erste Weihe der Kunst bei unserem unvergesslichen Rudolf Lassel empfangen, und wie sie alle schon als ganz junge Mädchen vom Podium der Kronstädter „Redoute“ herab ihre Landsleute in Freude und Erstaunen setzten durch frühreife Kunstgabe. Und es folgen die Zeiten, in denen man mit dem Vater, von welchem man das Kämpfen geerbt, nun in Kampf gerät, über Wünschen und Gewähren, Planen und Verwerfen der widerstreitenden Lebensanschauungen.
Wir wissen es – wüssten es auch, ohne ihr Schicksal zu kennen –, dass der junge Mut gesiegt hat gegen die alte Vorsicht und dass jede der drei Schwestern ihren Weg zur Kunst gefunden hat.
Drei starke Persönlichkeiten, aus gleicher Erbmasse, gleicher Lebensgrundlage geboren, gleichermaßen gesegnet durch Talent, mit gleichem Rüstzeug solider Familientradition ausgestattet, beziehen einen fast gleichen Wirkungskreis, und doch – wie verschieden leben sich die Temperamente dieser drei Gmeiners aus!
Ella rüstet als erste zum Studium nach Leipzig, wo sie sich durch Gesangs- und dramatischen Unterricht bei Prof. Rebeling (5) und Prof. Proft (6) für die Bühne vorbereitet und zugleich auch pianistischen Unterricht erhält. In späteren Jahren studiert sie in Berlin bei Kammersängerin Herzog (7) und Gerster (8) und in Bologna bei dem Kapellmeister der Scala, Maestro Venturi (9). Fleiß und Energie ist auf ihr Banner geschrieben. Ihre wehrhafte Natur glaubt allen Schwierigkeiten gewachsen zu sein, aber in Hader mit den kleinlichen Wirklichkeiten, die so oft das Bühnenleben als Beigabe zum großen Glück der Kunst spendet, erkennt die gediegene Kronstädter Bürgerstochter schmerzlich, wie tief sie, trotz aller kühnen Fluchtgedanken, im warmen Schoß der Heimat und Familie geruht und geträumt hatte.
Jahre des Sturmes und Dranges härten ihr Schild. Drei Jahre im Hoftheater in Weimar, 1905-1908, spenden ersten Erfolg. Besondere Ehrung: die Mitwirkung bei den Wagnerfestspielen im Prinzregenten-Theater in München 1907. Von 1908-1912 ist Ella Gmeiner am Hoftheater in München als erste Altistin verpflichtet und findet hier das ihr entsprechende künstlerische Milieu. Man schreibt nach ihrem Antrittsgastspiel: „Eine höchst erfreuliche Überraschung bot Frau Ella Gmeiner vom Weimarer Hoftheater. Eine schöne, große Altstimme von sattem, warmem Tone, zugleich entsprechend bedeutende Auffassung und die gut ausgebildeten technischen Mittel zu deren wirkungsvoller Ausführung, das sind die ansehnlichen Vorzüge der Sängerin, deren Akquisition sich deshalb sehr empfiehlt.“
Sie singt unter Richard Strauss die Klytämnestra in „Elektra“ und die Herodias in seiner „Salome“, musiziert mit Felix Weingartner (10), Mottl (11), Kienzl (12), Furtwängler (13).
Im Münchner Kreis lernt Ella Gmeiner aber auch den Schriftsteller Tim Klein (14) kennen und folgt ihm als Gattin nach Berlin, wo die beiden schöpferischen Menschen Jahre voll geistiger Anregung erleben, für sich und andere ergiebig. Ellas Talent als Lehrmeisterin, ihre Konzerte und anregenden Musik-Tees in ihrem Hause erlangen nicht nur Beliebtheit, sondern direkt Berühmtheit in Berliner Musikkreisen. Hugo Rasch (15), der bekannte Berliner Musikkritiker, schreibt zu der Zeit über die Künstlerin: „Auf große Maße zugeschnitten ist die Kunst Ella Gmeiners. Hier offenbart sich eine echte, begabte Musikerseele. Ungemein überzeugend wirkt auch das hervorragende Können, über das diese Künstlerin verfügt. Manch eine der gefeierten Konzertgrößen hätte an dem Abend noch vieles hinzulernen können...“
Das Jahr 1910 brachte gelegentlich eines Konzertes am Hofe der Carmen Sylva den rumänischen Kammersängerinnentitel, schon 1909 war Ella Gmeiner durch königliches Dekret königlich bayerische Hofopernsängerin geworden. Ein Gastspiel in London, andere in Brüssel, Amsterdam, in Köln, Stuttgart usw. sowie Konzerte in allen großen Städten Deutschlands, der Schweiz, Ungarns und Italiens bereichern ihr Leben und erweitern den Rahmen ihres Wirkens. Eine ansehnliche Schar von Schülern trauert der Scheidenden nach, als sie im Jahre 1923 aus Berlin in die Schweiz übersiedelt, um auch in Zürich bald als Musikkapazität ersten Ranges den Ruf zu genießen (16). In dieser Zeit beginnt die Frau im Alter der Reife, müde des Haders mit der Welt, sich mehr und mehr an ihren Flügel und an ihren Schreibtisch zurückzuziehen. Ihre im Druck erschienene Familienchronik (17) weiß in persönlicher, fesselnder Darstellung viel Inte-ressantes über die Gmeiner-Hintzische Musiker-Generation zu erzählen.
Heute gehört die unermüdliche Arbeiterin Ella Gmeiner den Jahren nach wohl schon zu den alten Damen, dem Temperament nach ist sie, wie alle Gmeiner-Schwestern, von ewiger Jugend! Ihr überlegener Geist und ihre Fülle an Können bändigt auch heute noch – seit 1933 wieder im geliebten Deutschland, Stuttgart – ein Dutzend Schüler und mehr am Tage, nicht nur Musik lehrend, sondern überall auch ein Tröpfchen Philosophie dem Trank beimengend, den sie ihren andächtigen Jüngern und Jüngerinnen kredenzt. Sie aber hat das Leben selbst – das für Ella Gmeiner voll Prüfungen war – diese philosophische Lebenseinstellung gelehrt, unter welcher nur ab und zu noch die alte Flamme Gmeinerischer Leidenschaft aufblitzt. Aus der einstigen Opernsängerin ist längst eine umfassende Musikerin geworden… „Ihr Kennzeichen:“ (sagt der Kritiker der Münchner Neuesten Nachrichten) „die Herrschaft des Geistigen im Musikalischen und im Gedanklichen. Namentlich Balladen und den balladesken Gesängen ihres Programmes kam dies zugute, und in Löwes – mit fast unheimlicher dramatischer Lebendigkeit gesungenem – ‚Edward‘ feierte dieser Zug künstlerischer Spiritualität den höchsten Triumph. Zu bewundern war in allen Gesängen die technische Vollendung der Stimmbehandlung.“ Das Gebiet der Ballade ist jenes dramatische Feld, auf dem sich die scheinbar so verschiedenen Sangesschwestern Ella und Lula Gmeiner begegnen. So verschieden und so blutsverwandt sind die beiden Schwestern, die dramatischen Ausdruck sprühend in ihrem „Edward“, in „Erlkönig“ und im „Feuerreiter“ den Beweis erbringen, dass es auch in der Kunst keine absolute Norm für „gut“ und „schön“ gibt, es sei denn diese, dass jeder das ihm Gemäße in persönlicher, reifer Klarheit zum Ausdruck zu bringen versteht.
1943
Ma.Co.
Anmerkungen:
(1) Das Haus stand in Kronstadts Oberer Vorstadt, Katharinengasse (heute Constantin-Brâncoveanu-Straße) Nr. 1.
(2) Ella Gmeiner war die älteste Tochter des Kronstädter Großkaufmanns und Fabrikanten Julius Gebhard Gmeiner (1840-1903) und der Julie geb. Hintz (1851-1923).
(3) Der Arzt Dr. Eduard Gusbeth (1839-1921) hat der Nachwelt wichtige Arbeiten auf dem Gebiet der Kronstädter Sozial- und Medizingeschichte hinterlassen.
(4) Marie Hintz (1846-1908) war die ältere Schwester von Ella Gmeiners Mutter.
(5) Friedrich Rebeling (1835-1900) war Opernsänger (Tenor) sowie Lehrer der Stimmbildung und der Gesangunterrichtmethode am Konservatorium in Leipzig.
(6) August Proft (1852-1940?) war Schauspieler, Sänger und Gesangspädagoge; er wirkte 1882-1912 am Stadttheater sowie 1889-1932 am Konservatorium in Leipzig.
(7) Emilie Welti-Herzog (1859-1923) war eine bekannte, aus der Schweiz stammende Opern- und Konzertsängerin sowie Gesangspädagogin.
(8) Die Sängerin (Koloratursopran) Etelka Gerster-Gardini (1855-1920) wirkte in den Jahren 1896-1917 als Gesangslehrerin in Berlin.
(9) Aristide Venturi (1859-?) wirkte in den Jahren 1894-1913 als Chorleiter am Opernhaus Scala in Mailand.
(10) Felix Weingartner (1863-1942) war ein österreichischer Dirigent (1923 gastierte er in Kronstadt in einem Konzert der Kronstädter Philharmonischen Gesellschaft).
(11) Felix Mottl (1856-1911) war ein österreichischer Dirigent und Komponist.
(12) Wilhelm Kienzl (1857-1941) war ein österreichischer Pianist, Dirigent und Komponist.
(13) Der deutsche Dirigent Wilhelm Furtwängler (1886-1954) gilt als einer der bedeutendsten Orchesterleiter des 20. Jahrhunderts.
(14) Tim Klein (1870-1944) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller.
(15) Hugo Rasch (1873-1947) war ein deutscher Musikkritiker, Komponist und Gesangspädagoge, der auch politisch aktiv war (u.a. 1931 Mitglied der NSDAP).
(16) 1923 folgte Ella Gmeiner in dritter Ehe dem Maler Hans Weise nach Zürich.
(17) Gmeiner, Ella: Familien-Chronik. Urkunden – Berichte – Briefe – Erinnerungen, Zürich 1934.