Eine wundersame Überlebensgeschichte

30 Jahre Astra Film Festival

Ausgezeichnete Dokumentationen gefolgt von guten Gesprächen mit den Filmemachern bringen Jahr für Jahr ein zahlreiches Publikum aus In- und Ausland nach Hermannstadt. Foto: Astra Film Festival

In dieser Szene erzählen die Taschendiebe aus dem Film „Amar“ über Gott und die Welt.

Dumitru Budralas neuester Film „Drumul laptelui“ (deutsch: Die Milchstraße, 2023) feierte seine erfolgreiche Premiere beim AFF. Die Geschichte einer der letzten Schafzüchterfamilien des Landes, die bis vor Kurzem die Wanderweidewirtschaft betrieben hat, konnte im kleinen Dom am Großen Ring angeschaut werden. Die Schaffelle am Boden dienen als Sitzgelegenheiten. Dumitru Budrala, Vorsitzender des Astra Film Festivals wurde anlässlich der 30. Auflage der Festspiele zum Ehrenbürger von Hermannstadt ernannt. Foto: Astra Film Festival

Herbst 1993. Der Fotograf und Filmemacher Dumitru Budrala in Hermannstadt verkauft im Astra-Museum Kartoffeln zum Spottpreis. In wenigen Stunden sind alle Säcke aus den zwei Anhängern weg und Budrala hat das nötige Geld, um für seine Gäste zu sorgen. Er hatte Filmemacher aus dem In- und Ausland in die siebenbürgische Stadt eingeladen, um ihre Werke zu zeigen und mit Interessenten zu besprechen. An einem Fernseher schaute das Publikum Geschichten und Welten, über die es bis dahin nichts oder nicht viel wusste. Beim Anblick einer Leinwandgeschichte zu einem Thema, das hierzulande tabu war und das kein erklärendes Off-Kommentar hatte, gingen die Leute empört aus dem Saal. Die Toleranz und Offenheit des Publikums für Neues oder Anderes war damals sehr begrenzt.

Das war die erste Auflage des Astra Film Festivals in Hermannstadt, den ältesten Filmfestspielen im postkommunistischen Rumänien. 
„Die 1990er Jahre waren sehr düster. Die Gesellschaft war orientierungslos, geprägt von kulturellen Veranstaltungsmustern der kommunistischen Zeit”, erklärt Csilla Kató, die künstlerische Leiterin des Festivals. Beharrlich hat das AFF weitergemacht und Jahr für Jahr immer mehr und immer unterschiedlichere Filme und deren Regisseure eingeladen. Die Zuschauer haben gelernt, die mannigfaltigen Perspektiven, die im Gesehenen verbreitet und erforscht werden und die harte soziale Realität reflektieren, die uns umgibt, voller Neugier und Toleranz aufzunehmen.

Seit 14 Jahren freunden sich auch Kinder ab 6 Jahren mit dem Genre an, lernen es als Ressource der gegenwärtigen Realitäten zu verstehen, lassen sich von den Geschichten junger Protagonisten inspirieren, stellen sich Fragen, suchen möglicherweise nach Lösungen zu diversen Problemen. 20.000 Schüler aus dem ganzen Kreis nehmen dieses Angebot jährlich wahr, kommen mit Bussen und Zügen nach Hermannstadt.

Zeuge der zeitgenössischen Geschichte
In den drei Jahrzehnten wurde das Festival Zeuge der zeitgenössischen Geschichte. Es hat auch die Entwicklung der Projektionen von der VHS-Beta-SP-Kassette, die wie ein dickes schwarzes Buch aussieht, zum digitalen Format miterlebt. 

Und den Ausbau der rumänischen Kinolandschaft. Die alternativen Räumlichkeiten, wo man anfangs Filme zeigte, wurden mit Kulturhäusern und später mit Kinos (staatlich und privat) ersetzt. 

Seit einigen Jahren sind immersive Filme auch in einem „Full Dome“ zu sehen, einem Zelt in Form einer Halbkugel, wo auf die Kuppel projiziert wird, sodass das gesamte Gesichtsfeld ausgefüllt wird.

Karriere-Sprungbrett für junge Filmemacher 
Das Astra Film Festival hat auch einen bemerkenswerten Beitrag zur Entwicklung des non-fiktionalen Films in Rumänien geleistet. Es war ständig der Ort, wo einheimische Produktionen gezeigt wurden und wo junge Leute seit 22 Jahren die Möglichkeit haben, im Rahmen eines mehrtägigen Workshops auf den Geschmack dieses Genres zu kommen.  Viele der rumänischen Regisseure verdanken den Anfang ihrer Karriere dem Astra FF, manche davon waren bei der Jubiläumsausgabe anwesend: mit neuen Filmen, mit Projekten oder als Förderer.
 

Institutionalisierung nötig

Trotz aller Errungenschaften des Festivals, das europaweit zu den bedeutendsten seiner Art zählt, ist es jedes Jahr eine Plage, es zu organisieren, sagt Kató. „In jedem Jahrzehnt gab es einen anderen politisch-sozialen Kontext, der die Kinoproduktion und das Schicksal der Festivals beeinflusst hat”. 

Die finanzielle Unsicherheit erschwert das Zustandekommen beträchtlich und raubt den Veranstaltern die wertvolle Energie. In diesem Kontext seien 30 Jahre AFF „eine wundersame Überlebensgeschichte.“ Die künstlerische Leiterin sieht die Institutionalisierung dieses etablierten kulturellen Projekts für nötig, „das mit zu viel persönlichem Einsatz gestartet, entwickelt und aufrechterhalten wurde.“

„Fast ein Luxus“
Eine gründliche finanzielle Unterstützung fehlt in Rumänien auch bei der Produktion von Dokumentarfilmen. „Es ist weiterhin eine zu große Mühe – fast ein Luxus – Dokumentarfilm zu machen, weil man davon nicht leben kann“, erklärt Kató. Trotz der Herausforderung entscheiden sich immer mehr junge wie auch erfahrene Filmliebhaber dafür, Geschichten und Realitäten, die sie bewegen, filmisch umzusetzen. So lief zwischen dem 15. und dem 22. Oktober eine Vielzahl rumänischer Filme in Hermannstadt. 
Insgesamt 130 nationale und internationale Produktionen aus 40 Ländern haben ein zahlreiches Publikum in den Thalia-Saal, dem kleinen und großen Dome am Großen Ring, im Astra-Film-Kino am Kleinen Ring und im Cine-Gold-Kino in der Promenada-Mall zusammengebracht.

 

Mehr als zwei Wochen sind bereits vergangen, seit die 30. Jubiläumsauflage des Astra Film Festivals in Hermannstadt zu Ende ging. Das Zentrum der Stadt schien einzig und allein dem Festival gewidmet zu sein, das von Tausenden von Zuschauern besucht wurde. Überall waren Banner, Fahnen, Poster oder Werbungen für die Festspiele zu sehen. Filmfans oder Leute aus der Filmindustrie waren an den Festivaltaschen oder an den roten Bändern zu erkennen, die sie um den Hals trugen, an denen Badges vom Festival befestigt waren.
Regisseure, Schnittmeister, Kameramänner- oder Frauen, Produzenten, Studenten, Protagonisten aus Filmen - sie alle konnte man auf den Straßen und in den Kinos der Stadt treffen. Und ansprechen. Das ist einer der vielen schönen Aspekte des ältesten Filmfestivals des Landes: der Zugang zu Leuten, an die man sonst nicht oder nur schwer herankommt. Man kann jeden Gast des Fests ansprechen, sich über Filme, Projekte, Kameraeinstellungen oder Montage austauschen. Die Atmosphäre ist sehr freundlich und locker, lädt richtig zur Vernetzung und Unterhaltung ein.

Ein weiterer wunderbarer Aspekt des AFF ist die Auswahl an Filmen. Man kann sich nicht satt sehen an den Geschichten, die oft globale, universelle  Themen anhand von Einzelschicksalen behandeln. Man kann sich über die neuen, frischen oder aber klassischen Darstellungsweisen der Leinwandgeschichten erfreuen. Einige davon sind rumänische Produktionen.

Eine toxische Familie, ein unverschämter Film
Heuer waren zahlreiche Geschichten zu sehen, in denen Filmemacher ihre Vergangenheit im Rahmen ihrer Werke aufzuklären versuchen. Ein solches Beispiel ist „Mrs. Buică” (deutsch: Frau Buică). Regisseur Eugen Buic² filmte über Jahrzehnte seine Eltern und deren toxische Beziehung. Sie leben teils in Rumänien, teils in Amerika, sprechen beide Sprachen vermischt. Sie singen viel, tanzen, machen Spaß, um sich in der nächsten Sekunde gegenseitig zu beschimpfen. Sie sind abwechselnd Opfer und Täter füreinander, leben, wie die Hauptdarstellerin amüsiert sagt: „Wie in einem Narrenhaus“. Die Dokumentation wagt es sehr tief in die Familiengeschichte der Buicăs – eine wahre Tour de Force für den Zuschauer. Teilweise humorvoll, teilweise aggressiv und intrusiv, entfalten sich dem Zuschauer Dramen und Tabus zweier Menschen, denen das Zusammensein anscheinend ständig Leid verursacht hat. Der „unverschämte“ Film, wie ihn der Filmemacher selbst nennt, ist ab dem 8. Dezember im Kino zu sehen.

Die Welt der Taschendiebe
Einen ganz tiefen Einblick in eine Welt, die uns verborgen ist, zeigt „Amar“,  die wohl größte Überraschung des Festivals. Der Film der Rechtsanwältin und Regisseurin Diana Gavra bringt das Universum der Taschendiebe groß auf die Leinwand. Gavra wurde auf einem Bukarester Marktplatz beraubt. Die Polizei fand den Täter, einen jungen Roma, Amar Răducanu. Er war vor wenigen Tagen wegen Diebstahls aus dem Gefängnis entlassen worden. In der Hoffnung, einer neuen Haftstrafe zu entkommen, bot Gavra das geklaute Geld zurück. Sie wollte aber lieber einen Tauschhandel: sie zeigt ihn nicht an, wenn er ihr erlaubt, einen Film über sein Leben zu drehen.

Die Regisseurin verbrachte mehr als ein Jahr mit dem Täter, sie trafen sich regelmäßig, freundeten sich an und so erlangte sie kompletten Zugang zu Amars Familie, zu seinen Gedanken und zu seinen Bemühungen, ein neues Leben, fern von Verbrechen, zu beginnen. Mit der Zeit wollten auch Amars Freunde gefilmt werden, sodass das Filmteam die Taschendiebe auch bei ihren Festen oder privaten Diskussionen begleiten durfte, ja sogar bei der Arbeit – in Bukarest, Madrid, London oder Berlin. 

Gut angezogen, gehen sie immer in Gruppen von mindestens zwei an bevölkerten Orten, beobachten die Passanten, wählen sich die „Opfer“ aus und handeln unbemerkt. „Du musst so atmen, wie der Mensch atmet, dich genau wie er bewegen, du musst eins mit ihm werden, damit er dich nicht bemerkt“, erklärt einer der Diebe die Taktik, „unsichtbar“ zu bleiben. Ein anderer betont, dass er nur Leute beraubt, die böse erscheinen, die guten Menschen verschont er.

Dieses intime Portrait der Leute am Rande der Gesellschaft zeigt deren persönliche Seite und man beginnt sie zu verstehen, vielleicht sogar, sie nicht mehr zu verurteilen: sie bringen ihre Kinder in die Schule, trauern um ihre Toten, wünschen sich, ein sicheres Leben zu führen, sorgen sich für morgen. Wie jedermann.

Ein Teufelskreis
Amar und seine Freunde, alle von ihnen Roma, sind auf der Straße aufgewachsen. Jeder von ihnen war im Gefängnis, kennt die Konsequenzen seiner Taten. Der Hauptprotagonist erklärt aber ausdrücklich und vermehrt, dass er in Freiheit leben möchte. Doch wie soll er seine Frau und Kinder unterhalten? Er hat nie etwas anderes „gearbeitet“, als das, was er auf der Straße gelernt hat. Außerdem finden Analphabeten schwer eine Arbeitsstelle, vor allem eine, die ihnen ausreichend Geld für die Nöte einer mehrköpfigen Familie sichert. Die einzige Lösung für sie scheint der Raub zu sein. Es ist ein Teufelskreis, dem die gefilmten Straßendiebe entkommen möchten, aber nicht können.Das Versagen des rumänischen Staates, Leute wie Amar in die Gesellschaft zu integrieren, wird in der Dokumentation, die mit dem Preis für „Neue Perspektive“ ausgezeichnet wurde, sehr deutlich. Wie eine Faust aufs Auge kommt die Erfolgsgeschichte von Bebe, einem ehemaligen Straßendieb, der dasselbe Schicksal wie Amar und seine Freunde hatte: Roma, Analphabet, diskriminiert (noch dazu homosexuell). In Deutschland musste er sich sogar prostituieren. Dann half ihm der Staat mit einer Sozialwohnung und einer Schulung, so dass er seit einigen Jahren nun als Gärtner arbeitet und ein ruhiges Leben in Deutschland führt. „In Rumänien wurde ich immer diskriminiert. Ich hatte dort gar keine Perspektive”.

„Der süße Kuss der Erde”
Der Hauptdarsteller aus Gautier Gumppers Film „Der süße Kuss der Erde”, der beim Astra Film Festival als bester rumänischer Film gekürt wurde, lebt auch am Rande der Gesellschaft. [tefan Hladiuc wohnt in Straßburg, unter einer Brücke gegenüber dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er wartet auf ein positives Urteil der europäischen Institution, die eine Ungerechtigkeit, die ihm in Rumänien widerfahren ist, ändern soll. Acht Jahre sind bereits vergangen, seit er so lebt und friedvoll protestiert. In der Zwischenzeit hat er sich eine  Baracke errichtet und einen zauberhaften Garten eingerichtet, auf einem Landfleck unter der Brücke. Hladiuc findet in seinem Garten und in den Blumen Halt weiterzumachen und seine Würde und Integrität, trotz den unfreundlichen Lebensbedingungen, zu erhalten. Er macht das beste aus seiner Situation. Über sein Leben in Rumänien, über die Lage des Prozesses wird nichts berichtet im Film. Man sieht nur, dass der Senior fließend Französisch und Englisch spricht, die Benennung aller Blumen auch in Latein kennt und dass er ein sehr guter und fleißiger Handwerker ist - er baut ständig etwas. Doch bleibt der Fokus des Regisseurs einzig und allein auf dem Protest des Rumänen, auf sein Leben unter der Brücke und auf ihn als Person. Und das, wie auch der schöne Dreh und der geschickte Schnitt, macht den Film so besonders.

Filme, die über Dich sprechen
Anlässlich der 30. Auflage des AFF wurde das Buch der Journalisten Bogdan Br˛tescu und C˛lin Hera „Filmele care vorbesc despre tine. Trei decenii de Astra Film Festival“ (deutsch: „Filme die über dich sprechen. Drei Jahrzehnte Astra Film Festival“, im Eikon Verlag erschienen) im festlichen Rahmen vorgestellt. Jede Edition wird kurz unter die Lupe genommen, sodass man einen ganz guten Überblick über die Geschichte der Festspiele erhält. Preisgekrönte Filme werden rezensiert und manche davon können dank eines QR-Codes gesehen werden.

BONUS 

Astrafilm online: Über Videokassetten und Liebe
Filmfans, die es in diesem Jahr nicht zum Festival geschafft haben, hatten die Möglichkeit, bis zum 30. Oktober eine Auswahl von 43 Filmen gegen eine Gebühr von 20 Lei pro Film online zu schauen. 

Die Qual der Wahl war groß: wenn man sich die Trailer anschaute, konnte man sich nur schwer entscheiden, welche Filme man sehen will. Dabei fiel ein interessanter Aspekt auf: viele der Filme waren autobiografisch. Ihre Autoren setzten sich mit Ereignissen aus der eigenen Kindheit auseinander und sprachen offen über die Beziehungen zu ihren Eltern. Der dänische Film „The Mountains“ zum Beispiel zeichnet das Porträt einer Familie, die den Trauerprozess auf sehr besondere Weise bewältigt: indem sie ihre Angehörigen filmt. Zeitgenössische Gespräche über das Leben und den Film werden vom Regisseur Christian Einshřj mit Filmmaterial aus seinem persönlichen Archiv kombiniert, das von seinem Vater über einen Zeitraum von dreißig Jahren aufgenommen wurde. Auch im Film „Briefe an Orsk“ verarbeitet Andreas Boschmann die eigene Biographie. Seine Eltern, die Anfang der 90er Jahre von Russland nach Deutschland zogen, starben, als der Regisseur erst 5 Jahre alt war. Von Andreas’ Eltern ist ihm und seiner Schwester Vanessa genau eine Videokassette geblieben. Als der Filmemacher sie nach fast 20 Jahren findet, begreift er: Seine Schwester und er haben nie über ihren Verlust gesprochen. Aufgewachsen bei den deutsch-russischen Großeltern in einem russlanddeutschen „Ghetto“, war auch nie Platz dafür. Mit einigen Briefen seiner Mutter an die Großmutter und anhand der Videokassette macht sich Boschmann auf die Suche nach der eigenen Vergangenheit. 

Die Liebe ist keine Orange 
Ebenfalls anhand von Videokassetten wird auch eine andere Geschichte über Migration erzählt. Die Arbeitsmigration, besonders nach 2007, dem Jahr des EU-Beitritts Rumäniens, ist hierzulande ein sehr bekanntes Thema. Über eine ganze Generation Kinder, die ohne ihre Eltern aufgewachsen sind, weil diese in Spanien oder Italien arbeiteten, wurden Bücher, Zeitungsreportagen und Theaterstücke geschrieben und natürlich auch viele Dokumentarfilme gedreht. Wenige wissen aber von der Migration der Frauen aus Moldawien und von den Videokassetten, anhand deren sie mit ihren Kindern zu Hause kommunizierten. Anfang der 90er Jahre verließen viele Frauen Moldawien, um ihre Familien zu versorgen. Da sie nicht nach Hause zurückkehren konnten, fanden sie einen besonderen Weg, um in Kontakt zu bleiben: Sie schickten große Pappkartons, gefüllt mit Geschenken und Lebensmitteln. Im Gegenzug schickten ihre Kinder Videokassetten. Dieser Austausch wurde für Tausende von Familien zu einem Ritual. Videokameras und Geschenke ermöglichten es den Müttern und Kindern, Einblicke in ihre Realität zu erhalten, während sie getrennt waren. Mit der Zeit wurden aus den Kindern Teenager, man konnte via Skype telefonieren, es wurde klar, dass die Mütter nicht so bald zurückkehren würden und die jungen Leute stellten desillusioniert die Aufnahmen ein. Nach Daten von 2011/2012 hatten etwa dreißig Prozent der moldauischen Kinder einen Elternteil im Ausland. 

Die moldawische Filmemacherin Otilia Babara zeigt anhand dieser intimen Privatarchive die Zerbrechlichkeit der Familienbande mit den Augen einer Generation von Müttern und Töchtern, die gezwungen waren, getrennt zu leben. Dabei gelingt ein Portrait eines postsowjetischen Landes, wobei der Alltag in den Plattenbauten stark an Rumänien erinnert. Die Videos bezeugen die schmerzhaften Leerstellen der Abwesenden im Leben der Daheimgebliebenen. Besonders ergreifend ist eine Szene, wo zwei Schwestern in der Pubertät zusammen Silvester feiern. Sie filmen für ihre Mutter, wie sie eine Sektflasche öffnen und tanzen, im Hintergrund hört man Politiker im Fernseher ein glückliches Neues Jahr versprechen. Doch obwohl man lacht und tanzt, ist eigentlich niemand so richtig glücklich. 
Im Kurzfilm „Dansez și eu la nunta părinților mei“ (deutsch: Auch ich tanze bei der Hochzeit meiner Eltern) sind es wieder einmal  Videokassetten, anhand deren die Vergangenheit rekonstruiert wird. Die junge Filmemacherin Andreea Chiper sieht sich eine VHS-Kasette mit der Hochzeit ihrer Eltern aus dem Jahr 1996 an, in einem sehr persönlichen Versuch, diese und sich selbst besser kennenzulernen. Als sie heirateten (nur zwei Monate, nachdem sie sich kennengelernt haben) waren ihre Eltern ungefähr so alt wie die Filmemacherin heute. Nach drei Jahren wurde ihre Ehe schon geschieden. Jahrzehnte danach analysiert ihre Tochter jede Szene des Amateurvideos: die standesamtliche Trauung, die Zeremonie in der orthodoxen Kirche, die Party, wo zu Casablanca von Jessica Jay und anderen Hits der 90er getanzt wird. Die Aufnahmen werden aus dem Off kommentiert, wobei die Regisseurin versucht,  Entscheidungen zu rechtfertigen oder ihre eigenen Ängste und Unsicherheiten zu erklären. Ein ergreifender Film, der auch ein Zeitdokument über die rumänische Gesellschaft in den Jahren nach der Revolution ist. 

Im Gegensatz zu den Eltern von Andreea Chiper hält die Ehe von József, ein taubstummer Leichtathletikmeister und seiner Frau seit 52 Jahren. Welches ist das Geheimnis dieser langen Partnerschaft? Laut der Ehefrau soll es das Fehlen der Liebe sein. Der Kurzfilm „Never in love“ von Ibolya Simó zeigt in nur 15 Minuten ein authentisches Porträt zweier Eheleute in ihren 80ern. Er ist taubstumm aber topfit und läuft täglich Dutzende von Kilometern. Über dem Ehebett hängen seine vielen Medaillen. Sie hingegen hört und spricht, manchmal sogar in seinem Namen, kann aber nicht mehr gehen und bewegt sich mit Hilfe eines Gestells fort. Dennoch gelingt es den beiden, sich zu verständigen, sich zu verstehen und ein langes gemeinsames Leben zu führen, wie in diesem kurzen Dokumentarfilm über das Alter, aber auch über Loyalität zu sehen ist. Und über die Liebe, die auch vorhanden ist, obwohl es die Ehefrau von József heftig abstreitet. 

Man kann nur hoffen, dass diese Filme auch bei anderen Gelegenheiten zu sehen sein werden.