Heimatland, Heimatort, alte Heimat, neue Heimat, Wahlheimat, erlebte Heimat, vorgestellte Heimat, Heimatverlust, Heimatvertriebener, Heimatlosigkeit …
Woher kommt diese inflationäre Verwendung des Begriffs? Und was meinen wir eigentlich, wenn wir von Heimat sprechen?
Die Etymologie des Wortes gibt uns eine einfache, vielleicht zu einfache Erklärung: „es ist der Ort, wo jemand sein Heim, d.h. seine Wohnung hat“, so Meyers Konversationslexikon von 1885. Und auch das Grimm´sche Wörterbuch definiert Heimat als „das Land oder auch nur den Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat“. Und heute erklärt Wikipedia Heimat als „Ort, in den ein Mensch hineingeboren wird und in dem seine frühesten Sozialisationserlebnisse stattfinden, die Charakter, Mentalität und Weltauffassung prägen“. Die Konnotation des deutschen Begriffs „Heimat“ ist in keine mir bekannte Sprache übersetzbar: Englisch hometown, homeland, Französisch patrie, pays natal, Italienisch patria, Rumänisch patrie, localitatea natala. All diesen Begriffen fehlt das Sehnsüchtige, das Gefühlsbetonte.
Für mich war der Begriff in meiner Kindheit und Jugend fremd, und ich kann mich nicht erinnern, dass jemand – da ich mit dem sächsischen Dialekt aufgewachsen bin - von „Himet“ gesprochen hätte. Es gab die Wohnung, den Hof und den Garten, die Nachbarschaft, die Straße, das Viertel, später die Stadt und die Dörfer der Umgebung. Hier waren mir die Häuser und Menschen vertraut. Hier hatte ich meine Freunde, mit denen ich die Gegend erkundete, und wenn wir später mit den Fahrrädern den Radius unserer kleinen Welt immer mehr erweiterten, waren wir zuhause.
Hier gab es die ersten Abenteuer, wer auf den höchsten Baum klettert, in welchem Garten es die besten Äpfel gab, Mutproben, wenn wir mit dem Fahrrad über den aus einem Brett bestehenden schmalen Steg des Mittelgässer Bachs fuhren oder Weitsprung über die Jauchegrube im Nachbargarten übten. Selbst als sich unsere Fahrradtouren bis Schäßburg und Hermannstadt ausdehnten, einmal sogar bis in die Westkarpaten, hatten wir nie das Gefühl von Zuhause weg zu sein. Hier war der Obstgarten, wo ich meine ersten Schritte auf Skiern gemacht habe, die an einem Baum und mit kaputten Skier endeten, und die Grundlage für mein lebenslanges Hobby bildeten.
Selbst als ich zum Studium in eine andere Stadt zog, war es nicht die Heimat, die ich verlassen hatte, sondern es gab ein „Dortzuhause“ und ein „Hierzuhause“.
Das Gefühl des Zuhauseseins ist eine Emotion, die individuelle Bilder und Erinnerungen über Jahrzehnte hinterlässt, sich aber nicht klar benennen lässt. Simone Weil, die französische Philosophin, spricht von „Verwurzelung … dem wohl wichtigsten Bedürfnis der menschlichen Seele“. Während Zuhause über lange Zeit gleichbedeutend mit Herkunft war, ist es heute eine Suche nach einem inneren Einklang mit der Welt, einem Ort, an dem man bei sich selbst ankommen kann. Bereits die Bibel verweist auf diese Suche des Menschen: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern eine zukünftige suchen wir“ (Hebräer 13, 14). Doch während sich da die Suche auf das Jenseits bezieht, zu dem wir unterwegs sind, sucht der heute säkulare Mensch nach diesem Ort im Hier und Jetzt. Diese Suche nach Sicherheit und Geborgenheit wird umso stärker je größer die Bedrohungen der Zeit sind, Klimakatastrophen, Kriege, Radikalisierung … .
„Heimat entdeckt man erst in der Fremde“, so Siegfried Lenz. Heimat gibt es erst, wenn wir sie verloren haben. So erklärt sich auch die Renaissance dieses Begriffs, je weniger wir uns zu Hause fühlen, desto stärker wird die Idee von Heimat, sie ist das Unverwechselbare, das Permanente. Hierbei aber liegt der Schwerpunkt auf einer kollektiven, angeblich von uns allen geteilten Identität und ist nicht das Gleiche wie das individuelle Gefühl von Zuhausesein.
Zum ersten Mal verspürte ich einen Verlust meines Zuhauses, als wir die Ausreisegenehmigung erhalten hatten, die Wohnung sich nach und nach leerte und im leeren Zimmer zwei Kisten mit unserem Namen und einer fremden, bundesdeutschen Adresse standen. Am Vorabend der Abreise, als auch diese fort waren, wurde mir bewusst, dass jetzt etwas unwiederbringlich verloren gegangen war. Was würde bleiben und was kommen?
Erst nach Ankunft in Deutschland wurde ich mit dem Begriff „Heimat“ konfrontiert. Da gab es den Heimatverband, die Heimatortsgemeinden, Heimattreffen … Nicht nur die Begriffe waren mir fremd, sondern auch die Treffen selbst, das Aufleben der Trachten, die hier bei vielen Gelegenheiten als Zeichen der Zugehörigkeit getragen werden. Der einzige Anlass, bei dem ich genötigt worden war, eine Tracht zu tragen, war meine Konfirmation, wo ich mir damit nicht zugehörig, sondern nur verkleidet vorkam. Das alles hatte für mich etwas Rückwärtsgewandtes, erinnerte bestenfalls an die Idylle von Heimatfilmen. Neben den „Weißt du noch…“- Gesprächen suchen wir bei solchen Treffen auch im Kulinarischen, Mici, Baumstriezel, Hanklich…, diese gemeinsame Identität.
„Das Vergangene ist niemals tot, es ist noch nicht einmal vergangen.“ Diese Beobachtung William Faulkners wird in der Literatur von vielen Autoren geteilt. Es lebt nicht nur in den individuellen Familiengeschichten und Erzählungen weiter, sondern überträgt sich auch auf Denk- und Verhaltensweisen der nächsten Generation. Zwar hat meine Generation die Traumata von Krieg, Deportation, Enteignung nicht selbst erlebt, und trotzdem haben sich die posttraumatischen Folgen dieser Erfahrungen auf uns übertragen, eine latente Angst aufzufallen, sich nicht zu wehren, Ungerechtigkeit hinzunehmen, das Gefühl anders zu sein. Auch als Kinder wussten wir, dass das, was unsere Eltern erlebt hatten, nicht allein die Anekdoten waren, die sie davon erzählten. In geselliger Runde wurde vom Stacheldraht erzählt, unter dem man sich durchrobbte, um die Freundin im Nachbarlager zu besuchen. Es gab auch makabre Geschichten, wenn von der aus der Erde am Friedhof herausragenden Hand erzählt wurde, da der Tote wegen des gefrorenen Bodens nicht tief genug beerdigt worden war. Doch von dem alltäglichen Leid, dem Hunger, der Kälte, den Misshandlungen, der Ungewissheit und dem allgegenwärtigen Tod wurde geschwiegen, noch war das Trauma nicht soweit verarbeitet, um es in Worte fassen zu können.
Angst, Ungerechtigkeit, vermeintliche Minderwertigkeit, die ich als Nachdeportationskind erfahren habe, wurden zu einem Teil meiner Persönlichkeit und auch heute, mehr als sechzig Jahre später, verfolgen sie mich, selbst wenn ich weiß, wo sie ihre Wurzeln haben.
Die Spuren der Welt, in der wir aufgewachsen sind, wirken fort, auch wenn wir denken, wir hätten mit der Vergangenheit abgeschlossen. In jungen Jahren glauben wir, uns unabhängig von unserer Herkunft machen zu können, doch die Geister der Vergangenheit holen uns irgendwann im späteren Leben ein.
Die Art und Weise, wie wir die Welt sehen, ist zuhause, bei mir die Langgasse, Bartholomä, Kronstadt…, und unter bestimmten Umständen, Familie, Freunde, Schule …, entstanden und bleibt in ihren Grundzügen ein Leben lang erhalten. Die Essayistin Susan Stewart weist nach, dass jede Erzählung, ob biographisch oder literarisch, immer auch den eigenen Ursprung behandelt. Die englischen Wörter „longing“ (Sehnsucht) und „belonging“ (Zugehörigkeit) haben den gleichen Wortstamm. Diese Sehnsucht nach Zuhause lebt in jedem von uns, obwohl wir wissen, dass es sowas wie ein ideales Zuhause nicht gibt. Es ist kein Paradies, aus dem wir vertrieben wurden, dieses Paradies gab es nie, es ist eine Utopie (griechisch „nicht Ort“), sondern eine Idee.
Erst durch die Sprache haben wir einen Zugang zur Welt, mit ihr können wir unsere Wahrnehmungen verarbeiten. Doch jede Sprache müssen wir erlernen, auch unsere Muttersprache. Durch sie wird uns nicht nur unser Umfeld zugänglich, wir lernen durch sie auch eine bestimmte Sicht der Welt. Ich bin mit unserem siebenbürgisch-sächsischen Dialekt als Muttersprache aufgewachsen. Mit ihr habe ich meine kleine Welt erfahren, doch sobald ich das Haus verlassen habe, ob Kindergarten oder Freunde, musste ich meine erste Fremdsprache lernen, Deutsch. Zwar eng verwandt, stellte ich aber fest, dass sie in einigem voneinander abweichen. Damit weicht auch die Sicht auf die Welt voneinander ab, es gibt Dinge, die nur in der einen oder nur in der anderen Sprache Bezeichnungen haben. Da auf unserem Hof unterschiedliche Ethnien mit verschiedenen Sprachen lebten, war ich sehr früh mit weiteren Sprachen konfrontiert. Eine ungarische Nachbarin sprach mich in ihrer Muttersprache an, und ich antwortete in meiner. Bis heute verstehe ich die Sprache recht gut, kann sie aber aus Mangel an Grammatik nicht sprechen.
Als ich meine Begeisterung für Bücher, besonders Bergabenteuer entdeckte, ob Erstbesteigung des Mt. Everest, oder der Kampf um das Matterhorn, stellte ich fest, mit welcher sprachlichen Ausdruckskraft hier etwas geschildert wurde, das ich im Kleinen bei meinen Bergtouren auch empfunden hatte.
Die so bildhafte rumänische Sprache weckte mein besonderes Interesse, und als ich anfing, sie besser zu beherrschen, lernte ich auch die seit Jahrhunderten tief verwurzelte Lebenshaltung, die man in rumänischen Gedichten und Liedern findet, jenen „mioritischen Raum“ (Lucian Blaga) verstehen, ein wehmütig, schicksalsergebenes Verständnis des eigenen Lebens als Teil der Natur.
Jede neue Sprache heißt auch einen neuen Zugang zur Welt zu schaffen, und damit sich selbst anders zu sehen.
Sprache gibt Auskunft über die eigene Sicht der Welt: Fragen wir deutsche Landsleute, wenn sie nach Siebenbürgen fahren, wohin sie fahren, so ist die Antwort geteilt: einige fahren in die „(alte) Heimat“, während andere „nach Hause fahren“. Stellen wir Rumänen die gleiche Frage, ist die Antwort einheitlich: „Merg acasa“.
Doch ganz gleich, ob Heimat oder Zuhause, und egal wohin man geht, man nimmt sich immer mit.