„…immer wieder war es die Musik, die mir über diese schweren Jahre hinweghalf“

Kronstädter Musikerinnen (I): Else Bömches von Boor, geb. von Roll (1886-1967)

Konzertsängerin und Gesangspädagogin Else Bömches von Boor Foto: Atelier O. Netoliczka

Das Typoskript dieser ersten Folge der neuen KR-Serie „Kronstädter Musike-rinnen“, einer, wie bereits berichtet, im Jahr 1943 entstandenen Dokumentation, ist betitelt: Else Bömches von Boor, geb. von Roll, in Wien an der k. u. k. Akademie für Musik und darstellende Kunst staatlich geprüfte u. diplomierte Gesangspädagogin. Dem autobiografischen Text ist eine Konzertchronik über das Kronstädter Debüt der Sängerin im Jahr 1911 angefügt.

Am 27. Juni 1886 wurde ich als Tochter des Kaufmannes Otto von Roll und der Hermine geb. Thiess in Kronstadt geboren.
Nach Beendigung der Volksschule, 4 Jahre Mittelschule, besuchte ich Literatur-, Näh- und Haushaltkurse. Mit 10 Jahren erhielt ich Klavierunterricht. Mein Vater beschenkte uns mit einem herrlichen Bösendorfer Flügel, aber so groß unsere Freude darüber war – es fehlte mir doch noch der nötige Ernst, und erst als ich mit 15 Jahren den Unterricht bei meinem so hochverehrten Musikdirektor Rudolf Lassel (1) fortsetzte, ging mir der Knopf auf, und mit viel Liebe und wachsendem Verständnis ging ich nun an die Arbeit. Ich trat auch in die von Musikdirektor Lassel geleitete Chorschule ein, wo wir auch die Grundbegriffe der Harmonielehre lernten. Lassel war es auch, der mich auf meine Stimme aufmerksam machte. Ich nahm bei ihm Gesangunterricht. Es waren Stunden schöner Erbauung. Auf Lassels Anraten setzte ich meine Gesangstunden bei Julie Hesshaimer (Gesanglehrerin) (2) fort und wurde auch hier gefördert.

Ich fasste den Plan, Musik zu studieren. Es war nicht leicht, meinen Vater dafür zu gewinnen, denn damals war es noch eine Seltenheit, dass Mädchen studierten. Aber ich ließ nicht locker, und im Herbst 1906 fuhr ich mit meinem Vater und meiner Schwester nach Wien. Gerhard Jekelius (3), der auch dort studierte, hatte mit seinem Professor Franz Haböck (4) schon wegen mir gesprochen. Ich sang diesem vor, und er war gerne bereit, mich als Schülerin aufzunehmen. Als er aber hörte, dass mein Vater mich nur ein Jahr in Wien lassen wollte, meinte er: „Verehrtester Herr von Roll, dann nehmen Sie ihre Tochter lieber gleich mit nach Hause. Ein Jahr ist viel zu wenig. Lassen Sie sie das Pädagogium und Konzertfach im Konservatorium absolvieren, dann ist sie in 4 Jahren fertig und staatlich geprüfte diplomierte Gesanglehrerin.“ Mir hüpfte das Herz vor Vergnügen, meinem Vater dagegen weniger. Er blieb bei seinem einen Jahr.

So nahm ich bei Professor Haböck Privatstunden und besuchte eine gute Musikschule, wo ich mich im Klavierspiel, in Musikgeschichte und Harmonielehre ausbildete. Während dieses Jahres gelang es mir, die Erlaubnis meines Vaters zum weiteren Studium zu erlangen. Im Herbst 1907 machte ich auf der k. u. k. Akademie für Musik eine Aufnahmsprüfung mit dem Ergebnis, dass ich dank meiner Vorkenntnisse die erste Klasse überspringen konnte. Zufrieden und beglückt stürzte ich mich mit Liebe und Begeisterung in die neue Arbeit.

Wien, du herrliche Stadt der Musen!
Die Oper stand damals auf der Höhe, am Burg-, jetzt Staatstheater wirkten die besten Kräfte mit, und in den Konzerten hörten wir die berühmtesten Sänger und Sängerinnen. Wir hatten einen Kreis musikbegabter Menschen, in welchem ständig musiziert wurde, oft bis spät in die Nacht. Unsere Zimmernachbarn teilten unsere Begeisterung nicht. Einmal drohte sogar einer durch die Wand zu schießen. Wenn wir eine Wagner- oder Mozart-Oper besuchen wollten, brachte unser Freund Stefan Temesváry (5), jetzt Musikdirektor in Gießen, den Klavierauszug, und wir nahmen die Oper durch. Oft sangen wir vom Blatt die einzelnen Arien. Gerhard Jekelius und Dr. Hermann Hintz (6) ließen ihre herrlichen Stimmen erklingen, Adele Reissenberger-Umling (7), die genialste und musikalischste von uns, sang die Sopran-, Tenor-, Alt-, Basspartien, wie es eben kam, mit unfehlbarer Sicherheit vom Blatt. Meine Wenigkeit flötete noch mit zarter Stimme, und ich muss sagen, es gab oft einen guten Zusammenklang. Adele Reissenberger, der lieben, heiteren, allzu früh verstorbenen Freundin, verdanke ich viel Anregung und Förderung.

Die Jahre vergingen im Fluge. Am Ende des 4. Jahres machte ich mit gutem Erfolg mein Staatsexamen (Konzertfach und Pädagogium).
In die Heimat zurückgekehrt, stellte ich mit Musikdirektor Lassel das Programm für mein erstes Konzert zusammen. Nicht ohne Bangen sah ich diesem Tag entgegen, weil man in der Heimat immer schärferer Kritik ausgesetzt ist. Mein anfängliches Lampenfieber wich aber schon nach dem ersten Liede, und ohne Erregung konnte ich die folgenden gestalten. Meine lieben Bekannten und Freunde bezeugten mir durch reichen Beifall und viele Blumenspenden ihre Anerkennung. In den folgenden Jahren wirkte ich oft in Kirchen– und Wohltätigkeitskonzerten mit.

Der Hauptzweck meines Studiums aber war meine Ausbildung als Lehrerin gewesen. Gleich im ersten Jahr bekam ich viele liebe Schülerinnen, und meine Freude am Unterricht wuchs von Jahr zu Jahr.

Am 4. August 1914, dem ersten Mobilisierungstag, heiratete ich den Oberleutnant Emil Bömches von Boor. Zweimalige Verwundung meines Mannes gewährten uns während der ersten zwei Kriegsjahre jeweils ein kurzes Beisammensein. Im Jahre 1916 geriet mein Mann in russische Kriegsgefangenschaft, und ich war wieder allein. Am 28. August desselben Jahres mussten wir von Kronstadt nach Budapest fliehen, von wo ich im Dezember mit meiner in Budapest geborenen ersten Tochter Else heimkehrte.

Ich nahm meine Gesangstunden wieder auf, und immer wieder war es die Musik, die mir über diese schweren Jahre hinweghalf.
Nach vierjähriger Kriegsgefangenschaft kehrte mein Mann wieder in die Heimat zurück. Unserer Ehe entsprossen drei Kinder, Else, Eva und Susanne. Auch der Schmerz blieb mir nicht ferne, denn eine heimtückische Krankheit raubte uns unsere liebe Eva in ihrem 13. Lebensjahre.
Auch in den Kriegsjahren sang ich in Wohltätigkeitskonzerten oder vor verwundeten Soldaten in Lazaretten, wo ich als freiwillige Helferin tätig war.
In den Jahren nach dem Kriege wirkte ich unter Leitung von Musikdirektor Victor Bickerich (8) – Musikdirektor Rudolf Lassel war im Jahre 1918 gestorben – einige Male in der Kirche und bei Aufführungen des Männer-Gesangvereins mit.

In der Zeit von 1910 bis 1913 fuhr ich jeden Herbst für einige Wochen nach Wien, um meine Studien zu erweitern.

In den Jahren nach dem Krieg (Weltkrieg) hatte ich das große Glück, bei dem Ehepaar Jekelius gelegentlich ihres Sommeraufenthaltes in Kronstadt Gesangstunden zu nehmen. Es waren Stunden, die nicht nur musikalisch förderten, sondern auch seelisch bereicherten.

1929 vertrat ich ein Jahr lang am hiesigen Konservatorium Sofie Munteanu (9) als Gesanglehrerin.

Im Jahr 1936 übernahm ich den Gesangunterricht an der Frauenschule und der Mädchenhandelsschule, wo ich auch jetzt noch tätig bin.
Das Zusammenarbeiten mit der Jugend gewährt mir große Freude und Befriedigung.

Else Bömches v. Boor
(Redigiert und mit Fußnoten versehen  von Wolfgang Wittstock)

1 - Rudolf Lassel (1861-1918), Organist, Chordirigent und Komponist in Kronstadt
2 - Julie Hesshaimer (1858-1941), Gesangslehrerin in Kronstadt (wird in Folge 9 dieser Serie vorgestellt)
3 - Gerhard Jekelius (1885-1945), aus Kronstadt stammender Konzert- und Oratoriensänger
4 - Franz Haböck (1868-1921), österreichischer Musikpädagoge
5 - Stefan Temesváry (1886-1967), aus Kronstadt stammender Dirigent, Chorleiter, Musikwissenschaftler und Komponist
6 - Dr. Hermann Hintz, geb. 1880 in Marienburg/Burzenland, gest. 1948 in Reps, Arzt, Bruder des Opernsängers und Schauspielers Fritz Hintz-Fabricius (1891-1968)
7 - Adele Reissenberger-Umling (1882-1933), in Hermannstadt wirkende Konzert- und Oratoriensängerin
8 - Victor Bickerich (1895-1964), in Kronstadt wirkender Chordirigent (Begründer des Bachchores), Organist und Musikpädagoge
9 - Sofie (= Sofia) Munteanu, als Gesangslehrerin am Astra-Konservatorium in Kronstadt in den Jahren 1929/30 bezeugt
10 - E.H. = Emil Honigberger (1881-1953), Chordirigent, Schulmusikpädagoge, Journalist, Komponist, Aquarellist

 

Liederabend Elsa v. Roll

Nach den Entschuldigungen und Motivierungen des Konzertes durften die Erwartungen nicht hoch gespannt werden. Umso angenehmer war die Enttäuschung. Die frische, runde, wohlgebildete Stimme, die klare und deutliche Aussprache, das gute, leichte und anspruchslose Programm und vor allem das einfache, sympathische Auftreten der Künstlerin, ohne jede Pose und Manieriertheit, gewannen ihr von vorneherein Freunde. - Die zahlreichen Verwandten und Bekannten gestalteten durch fast zu reichlichen Beifall u. zu viele Blumenspenden den Abend auch äußerlich lebhaft und festlich. Immer neue Blumenspenden in Gestalt von mehr oder weniger geschmackvollen duftigen Ungetümen überraschten die Konzertgeberin.
Jedenfalls war der Abend durchaus berechtigt und erfreulich. Wir erwarten von Frl. Roll auch in Zukunft ab und zu einen so sorgsam vorbereiteten, sympathischen Liederabend. Gaben wie Fischerweise, Die Forelle, Soldatenbraut, Elfenlied werden in ihrer frischen anspruchslosen Unaufdringlichkeit stets willkommene Abwechslung zu der Tiefgeisterei und Effekthascherei überzeugter Gottesgnadenkünstler sein.
Musikdirektor Lassel, der treffliche und immer sichere Begleiter, erfreute auch als Komponist zweier ansprechender Lieder, die großen Beifall fanden.

E.H. (10)
(Kronstädter Zeitung, 23. November 1911)