Kronstadts Corona-Geheimnis liegt in der Schwarzen Kirche

Fresko mit der Heiligendarstellung von Viktor und Corona in der gleichnamigen Kirche in Feltre in Italien (Venetien) (Ökumenisches Heiligenlexikon)


Welches ist der älteste Quellenbeleg für die mittelalterliche Geschichte Kronstadts? Welches ist der älteste Quellenbeleg für den Kirchenbau unserer Vorfahren im Zinnental? Um diese Belege lesen zu können, muss man in kein Archiv und man muss auch kein Latein beherrschen. Ein wacher Blick und etwas Vorkenntnis reichen schon. Im ersten Falle geht es um den Stadtplan, der in der Beibehaltung der mittelalterlichen Baulinien der Häuserfassaden und des Straßennetzes enorm viel über die Entwicklungsetappen einer Stadt verrät. Vor etwa 85 Jahren hielt der 1906-1940 im Ingenieuramt des Kronstädter Stadtrates tätige Bauingenieur Gustav Treiber (1880-1973) einen viel beachteten Vortrag über das Thema „Der Stadtplan als Urkunde“. Die damals etablierte Methodik zur städtegeschichtlichen Forschung hat für unsere Gefilde Prof. Dr. Paul Niedermaier zur Meisterschaft gebracht. Der zweite Quellenbeleg, um den es hier insbe-sondere gehen soll, ist die Längsachse eines Kirchenbaus. Diese wird bei Um- und Erweiterungsmaßnahmen einer Kirche in aller Regel beibehalten. Praktisch hat das früher so funktioniert, dass die neue, größere Kirche um die alte herumgebaut wurde, so dass die alte Kirche gegen Ende der Bauarbeiten in Etappen abgerissen wurde. Für unseren Zusammenhang noch bedeutsamer ist die Tatsache, dass die östliche Orientierung der Kirchenachse nicht zufällig erfolgte, sondern einer bestimmten Gesetzmäßigkeit folgte. Wo es die geographischen Gegebenheiten zugelassen haben, wurden, wie Alfred Prox (1906-2006), langjähriger Kustos des Burzenländer Museums (1934-1942), vor 35 Jahren nachgewiesen hat, die heute evangelischen Kirchen des Burzenlandes auf denjenigen Punkt am Horizont ausgerichtet, wo am Tag des ursprünglichen Kirchenheiligen des jeweiligen Ortes, die Sonne aufging.
Als Marienkirche entstand bekanntlich das heutige Aussehen der Schwarzen Kirche im Spätmittelalter. Jedoch weicht die Ostung der Kirchenachse erheblich von jedwedem marianischen Feiertag ab! Aus dieser Feststellung ergab sich für Prox, dass der für die Ausrichtung der Kirchenachse bestimmende Kirchenheilige zum Zeitpunkt der Errichtung des Vorgängerbaus der Schwarzen Kirche ein anderer gewesen sein muss. Zu dem eingetretenen Dilemma passt jedoch der erste schriftliche Quellenbeleg für den Ortsnamen Kronstadt. Er ist erst sehr spät, in der Mitte des 20. Jahrhunderts entdeckt worden und daher noch nicht in allen historischen Veröffentlichungen zu voller Geltung gelangt. Darin hält Friedrich von Hamborn, ein Mönch des Prämonstratenserordens, fest, dass er im Jahr 1235 im Auftrag seines Ordens in dem im kumanischen Bistum gelegenen Corona und in dem im siebenbürgischen Bistum gelegenen Villa hermanni je ein Kloster visitiert hat. Zum Tag der heiligen Corona, stellte Prox fest, passt die Ausrichtung der Längsachse der Schwarzen Kirche!


Für die Bestätigung der Annahme, dass der erste Vorgängerbau der Schwarzen Kirche die der heiligen Corona gewidmete Klosterkirche gewesen ist, sind jüngst neue Belege erarbeitet worden. Die von Dr. Dana Marcu 2012-2013 geleiteten Ausgrabungen rund um die Schwarze Kirche haben auf der Südseite der Schwarzen Kirche im Bereich des Pfarrhauses eine erste bescheidene und auf die Kirchenachse hin orientierte Ansammlung von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden freigelegt, denen jedoch ein jähes Ende der Entwicklung widerfahren ist. Die Tiefe der historischen Zäsur lässt sich daran ablesen, dass sie von einer Brandschicht markiert ist und dass die Nachfolgebauten einem völlig neuen Ordnungsprinzip folgten. Das kann nur so viel bedeuten, dass die um das Jahr 1200 beginnende Geschichte des Prämonstratenserklosters mit der Invasion der Mongolen aus dem Jahr 1241/42 abbrach und dass der Wiederaufbau auf die dadurch angestoßenen Veränderungen in der Siedlungsstruktur auf dem Kronstädter städtischen Territorium reagierte. Die Gefahr der Mongolen stand auch nach 1242 auf der Tagesordnung. Der Staat hatte darauf mit der Errichtung der Burg auf der Zinne reagiert, so dass die städtischen Berufen nachgehenden Kronstädter ihre Nähe für den Gefahrenfall suchten, was v.a. auf Kosten des Altstädter Siedlungskerns um die Bartholomäer Kirche verlaufen sein dürfte. Die Abgeschiedenheit, die ein Kloster meist sucht, war nicht mehr gegeben. Der Wiederaufbau der Kirche erfolgte daher als Pfarrkirche für die umgebende Gemeinde, möglicherweise wurde sie bereits in dieser Zeitspanne der heiligen Maria geweiht. Die Ansiedlung der Prämonstratenser nach dem Abzug des Deutschen Ordens aus dem Burzenland 1225 kann aus ordensgeschichtlichen Gründen übrigens ausgeschlossen werden.
Der Kern der Heiligenlegende der Corona stellt sie in Verbindung zu einem weiteren frühchristlichen Märtyrer, Victor, und handelt von ihrem grausamen Märtyrertod als Folge ihres öffentlichen Bekenntnisses zum Christentum: angebunden an zwei heruntergebogene Palmen wurde sie bei deren Emporschnellen in der Luft zerrissen. Chronologisch und geografisch bestehen unter Beibehaltung des Legendenkerns zwei Varianten: die Christenverfolgungen in Syrien mit dem Todesjahr 177 und jene unter Kaiser Diokletian in Alexandria in Ägypten mit dem Jahr 303.


Etymologisch steht die lateinische Namensform „Corona“ gleich der griechischen „Stephana“ sowohl für „die Gekrönte“ als auch für „Märtyrerin“ allgemein. An diese Doppeldeutigkeit knüpft die Corona-Geschichte in dreierlei Hinsicht, teils in überraschend verwirrender Weise, an:
1. Bereits während ihrer Verehrung im 6. Jahrhundert in Norditalien kommen zum Attribut der Palmen in der Darstellung der Heiligen jene der Krone hinzu, die zeitgleich insbesondere im christlichen Abendland zu einem nicht wegzudenkenden Merkmal königlicher Herrschaft wurde. 997 wurden Gebeine der heiligen Corona von Kaiser Otto III. in den Aachener Dom gebracht, der Krönungskirche der deutschen Könige bis ins 16. Jahrhundert.

Über die Verbreitung des Corona-Kultes im Raum Aachen liegen zur Folgezeit keine Belege vor. Im 15.-16. Jahrhundert lässt sich die Ausbreitung der Corona-Verehrung im ostbayrisch-österreichischen Raum verfolgen, wobei festzustellen ist, dass ihre Schutzfunktionen recht vielgestaltig ausfallen: neben Standhaftigkeit im Glauben tritt sie als Schutzpatronin der Metzger und v.a. der Schatzgräber auf, ist ferner auch für Geldangelegenheiten insge-samt zuständig und insbesondere im niederösterreichischen St. Corona am Wechsel soll sie auch zum Schutz vor Seuchen verehrt worden sein, was angesichts des gegenwärtigen Medieninteresses vor Ort wieder aufleben dürfte. Von der Geldzuständigkeit scheint sich im österreichischen Raum gar eine Verbindung zur erst 1892 in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie als einheitlichem Zahlungsmittel eingeführten Krone entwickelt zu haben.


2. Aus dem skizzierten Wandel der Schutzfunktionen der heiligen Corona im Laufe der Zeit wird erkennbar, dass die Schwerpunkte der Corona-Verehrung um 1200, als es zur Klostergründung im Zinnental kam, dem Dunkel der Vergangenheit nicht entlockt werden können. Gewiss ist nur, dass sowohl die Prämonstratenser als auch die Corona-Verehrung in der Aachener Gegend damals sehr verbreitet waren, so dass wir einen Herkunftsbezug der ersten Kronstädter aus diesem Raum annehmen dürfen. Geblieben ist daher zunächst nur der Ortsname Corona bzw. Krunen (sächsisch) und Kronstadt mit Bezug v.a. auf das unter der Bezeichnung „Innere Stadt“ später mit Stadtmauern befestigte Zentrum der Stadt. Sodann ist eines der Attribute der heiligen Corona in das Stadtwappen übergegangen: die Krone, was kein Einzelfall ist, wie das Wappen der toskanischen bzw. etrurischen Ortschaft Canepina belegt, wo bis auf den heutigen Tag der Brauch der Prozession am Tag der Heiligen beibehalten wurde, ganz ähnlich im nahe gelegenen Monte Romana in Viterbo. In der gegenwärtigen Corona-Pandemie wird in Italien auch schon touristisch unter Hervorhebung ihres Seuchenbeistandes darauf hingewiesen, selbst wenn heuer auf Prozessionen verzichtet werden muss. Das erste Kronen-Wappen Kronstadts (Siegel von 1396) fällt in die Phase des atemberaubenden wirtschaftlichen Aufstiegs der Stadt unter der Förderung der Anjou-Könige und ihres Nachfolgers Sigismund von Luxemburg im 14. Jahrhundert, so dass man sich gewiss gern zum Beweis der Königstreue dieser Wappenform bediente. Jenseits der höheren Wertigkeit im Rahmen der katholischen Heiligenvorstellungen, welche der heiligen Maria gegenüber der heiligen Corona zukam, was sich auch in erheblichen Preisunterschieden für den Erwerb authentischer Reliquien niederschlug, ist noch ein weiterer Aspekt zu beachten: der Aufstieg Kronstadts ging auf Kosten des ehemaligen politisch-administrativen Zentrums aus der Herrschaftsperiode des Deutschen Ordens im Burzenland (1211-1225) – Marienburg. Es muss den damaligen Führern der Stadt also wichtig gewesen sein, auch auf dem heilsstiftenden Terrain des Kirchenpatroziniums dem Konkurrenten den Rang abzulaufen. War die heilige Corona damit in Kronstadt vergessen? Oder lebte sie im Volk weiter in Erinnerung an das politikferne, der urchristlichen Gemeindeform verpflichtete Ideal des Prämonstratenserinnenklosters aus der Zeit vor dem Mongolensturm von 1241/42? Nachdenklich macht in dieser Hinsicht die Tatsache, dass erstmals bei Georg Reicherstorfer 1550 und ab da regelmäßig Kronstadt u.a. mit der griechischen Namensform „Stephanopolis“ auf den Landkarten genannt wird, ohne dass dafür irgend ein sonstiger Nachweis für den Gebrauch dieser Bezeichnung bis zu diesem Zeitpunkt gefunden werden konnte. Da der griechische Begriff für eine königliche Krone ein anderer ist, knüpft die griechische Ortsnamensform von Kronstadt bewusst an die heilige Stephana/Corona an! Steht hier allein die Souveränität humanistischer Gelehrter vor uns, der dieser Bezug geläufig gewesen sein sollte? Die Nachdenklichkeit vertieft die folgende Tatsache: für den Baumstumpf mit Wurzeln unter der Krone im Wappen von Kronstadt – einer Form der Johannes Honterus zum Durchbruch verholfen hat – liegt bislang keine überzeugende wappenkundliche Deutung vor. Honterus hielt sich zumindest in den Jahren 1520-1525 in Wien zu Studienzwecken auf. Nur 16 Jahre vor seinem Eintreffen erreichte der von Bayern ausgehende Corona-Kult den niederösterreichischen Raum, als eine angeblich in einem Lindenstamm aufgefundene Corona-Statue eine Wallfahrtsbewegung nach St. Corona am Wechsel auslöste. Sollte das Erleben der Corona-Frömmigkeit, die auch in Wien damals sehr beliebt war, Honterus beeindruckt haben? Sollte die Erinnerung daran wiederkehren, als er sich in Kronstadt inmitten der Umsetzung des pädagogisch-theologischen Reformationsprogramms, der als Weg zu den eigentlichen Glaubenswurzeln gedacht war, entschloss, im Wappen der Stadt unter die Krone die Wurzel zu setzen? Sollte es neben der allgemeinen Glaubensrückbesinnung der Reformationszeit in Kronstadt eine lokale Parallele in der Rückbesinnung auf die Frömmigkeit aus der Gründungszeit der Stadt gegeben haben? Gewiss, Heiligenverehrung und Reformation schließen sich aus. Freilich hat das Kronstädter Reformationsgeschehen deutliche Spitzen gegen Ablasshandel und kostspielige Prunkentfaltung, an dessen Beginn die Einführung von Maria als dominante Heilige der Stadt steht. Die Ablehnung dieser Praktiken muss in Kronstadt vor der Reformation eine breite Grundlage gehabt haben, so dass die Verstärkung der ikonographischen Anknüpfung an die heilige Corona, durch die Hinzunahme des Wurzelstumpfes auch eine örtliche Wiederaufnahme alter, reiner Glaubensformen andeuten sollte, um die das gegenwärtige Kirchenregiment ablehnenden Bevölkerungsschichten für die Reformation zu gewinnen. Zugegeben, gewagte Gedanken, jedoch begleiten neben der Krone stets Palmen, in St. Corona am Wechsel ein Lindenstamm, die bildliche Darstellung der heiligen Corona. Im Falle Kronstadts wäre es der Wurzelstumpf, der zum Auftauchen der Ortsbezeichnung „Stephanopolis“ passt.


3. Die unter dem Mikroskop sichtbar werdenden Kronenform der gegenwärtigen neuartigen Coronaviren haben mit dem bisher geschilderten v.a. eines gemeinsam: äußere Form und tatsächlicher Inhalt gehen weit aus-einander, sind eigentlich genau so gegensätzlich wie die Etymologie der Krone gegenüber jener der Märtyrerin im Falle der heiligen Corona/Stephana. Freilich wird angesichts der Gefährlichkeit der gegenwärtigen Pandemie das Verschwinden der Anknüpfungen an Corona in der Namenskultur Kronstadts, was Vereins- oder Firmennamen anbelangt, zum völligen Nebenaspekt. Zugleich bietet die katastrophenfixierte Sensationslust der Medienlandschaft, für die es kein zu exotisches Thema zu geben scheint, auch Möglichkeiten, die es mit Blick auf die heuer schwierige Tourismussaison zu nutzen gilt. Sie wird im besten Fall vom Binnentourismus geprägt sein. In Aachen, so ist dieser Tage zu lesen, wird jedenfalls in Erwartung der Wiederkehr der Besucher und ihres neuen Interesses gegenwärtig der Bleisarg der heiligen Corona unter Hochdruck für die Ausstellung vorbereitet.


Der 14. Mai ist der letzte Tag des nationalen Notstandes, zugleich aber auch der katholische Gedenktag der heiligen Corona. Es ist der Geburtstag Kronstadts, bzw. der Inneren Stadt! Stellen wir uns vor, wie vor rund 820 Jahren die Prämonstratensernonnen, vielleicht auch Mönche, gewiss die zugehörigen Laienbrüder und -Schwestern am Morgen dieses Tages zusammenkamen, am Bauplatz einen Stab in den Boden rammten und seinen Schatten, den er erste Sonnenstrahl warf, zur Längsachse der heutigen Schwarzen Kirche machten und sich sogleich an die Arbeit machten. Welch ein verheißungsvolles Bild des Aufbruchs in eine neue Zeit! Nehmen wir es mit in unseren bevorstehenden Corona-Alltag, in dem wir uns erst noch werden zurecht finden müssen und wo es stärker als bisher darauf ankommen wird, menschliche Nähe durch verantwortungsvollen Abstand zu zeigen.


(Die Fortsetzung des Artikels „Das Bürgerspital“ von Erwin Hellmann folgt in der nächsten Nummer.)