„Nichts schmerzt mich mehr als die folgenden beiden Dinge: Meine Tochter...die sich nicht mehr um Wörter schert und die noch nicht „Papa“ gesagt hat, die jedoch... vom Dröhnen der Flugzeuge zwei Buchstaben gelernt hat: Sie heftet ihre Augen darauf wie ein ängstlicher Welpe und sagt: „Bmb“. Ebenfalls schmerzen mich die Clans, wenn sie aus der gleichen Erde zwei Feinde erschaffen“. So lautet das Gedicht „Zwei Worte“ des Syrers Hasan Alhasan. Es beschreibt einen Alltag, der für die meisten von uns unvorstellbar ist. Hasan ist vor dem Grauen des Krieges nach Deutschland geflüchtet. Er musste zusehen, wie seine Heimatstadt zu Schutt und Asche wurde. So wie Hasan ergeht es Tausenden von Flüchtlingen und Migranten, die in Deutschland eine neue Zukunft suchen. Doch es ist schwer, sich in einem fremden Land anzupassen. Die Leute sind misstrauisch. Viele Gesellschaften lehnen es ab, Geflüchtete aufzunehmen. Man kennt die Sprache nicht. In Osnabrück wartet Hassan darauf, seine Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu bekommen. Das Gedicht hat er auf Arabisch geschrieben. Gelesen haben es in deutscher Übersetzung Hunderte von Besuchern der Lyrikausstellung „Wer versteht das schon?“ Der Fremde ist ihnen jetzt weniger unbekannt. Sie haben verstanden: Menschen haben überall die gleichen Ängste und Träume.
Ein mehrsprachiges, partizipatives Projekt
Am Freitag, dem 13. April, fand im Deutschen Kulturzentrum die Eröffnung der Lyrikausstellung „Wer versteht das schon?” statt. Es handelt sich um ein mehrsprachiges, partizipatives Projekt der aus Zeiden stammenden Lyrikerin und Sprachaktivistin Daniela Boltres. Mit einer Ausstellung von Gedichten, im Zuge mehrsprachiger Lesungen, Workshops und Erzählcafés zum Thema „Flucht und Fremdheit“ soll der Rahmen für Begegnung und gemeinsame Erfahrung, Reflexion und Diskussion von Einheimischen und Geflüchteten abgesteckt werden. Das Projekt wird schon seit 2012 erfolgreich in Deutschland durchgeführt. Daniela Boltres bittet Geflüchtete, Migranten und Menschen internationaler Herkunft, dem Projekt ein Gedicht oder ihre Geschichte(n) in ihrer Muttersprache zu schenken. Die Gedichte werden in gemeinsamen Workshops erarbeitet und für Postkarten, Plakate und ein Gedicht- Büchlein aufbereitet. Mehrsprachige Ehrenamtliche übersetzen diese Gedichte und Texte ins Deutsche. Für die Rumänien-Tour der Ausstellung wurden die Gedichte von Daniela Boltres ins Rumänische übersetzt.
Beim „Exil - Osnabrücker Zentrum für Flüchtlinge“, wo sie arbeitet, unterstützt man Flüchtlinge und Migranten bei: Orientierung im Alltag, Deutsch lernen, Kontakt zu Einheimischen, Entfaltung künstlerischer Fähigkeiten, Verwirklichung eigener Initiativen, Erfahrungen mit Diskriminierung und Fragen zum Flüchtlings- und Migrationsrecht. Boltres macht dort die Sprachkurskoordination. Bei den Kursteilnehmern handelt es sich vorwiegend um Geflüchtete, die da-rauf warten, ihre Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu bekommen. Bevor diese Verfahren starten, leben sie sechs bis zehn Monate in Unterkünften.
20 Länder, 15 Sprachen
Ausgangspunkt für die Kunst-Aktion waren die kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien 2012. Seit den großen Fluchtbewegungen in 2015 schließlich hat das Projekt mittlerweile Menschen aus 20 Ländern in mehr als 15 Sprachen für die Teilnahme gewinnen können. In mehr als 20 Veranstaltungen kamen sie buchstäblich zu Wort.Die Themen der Gedichte reichen von Heimat und Identität über Liebe bis hin zu Eindrücken in der neuen Heimat. Oft wird über die Familie gesprochen, die man zurücklassen musste: „Als sie dich aus dem Bauch deiner Mutter gehoben haben, sahst du bereits weise aus. Umwickelt in Tücher und Sanftheit, entspannst du dich jetzt, lernst deine Umgebung kennen. Du wirst schon längst geliebt. Nimm deinen Platz in unseren Herzen ein, neuestes Mitglied unseres Clans. In Polen beschämt deine Babcia den Tod, bis sie von deiner Ankunft erfährt. Erst dann macht sie sich in andere Gefilde auf. Auch sie wird in einer völlig neuen Welt willkommen geheißen. Vielleicht kamt ihr aneinander vorbei: sie auf ihrem Flug dorthin, du auf deinem Weg hierher“- so lautet ein Gedicht von Mary Goggins Stakemeier.
Flüchtlinge versuchen immer wieder, von der Türkei aus über das Schwarze Meer nach Rumänien zu gelangen. Zwischen August und September 2017 hat die rumänische Küstenwache 157 Flüchtlinge aus dem Schwarzen Meer gerettet. Die meisten von ihnen wollten weiter nach Deutschland. Auf die mögliche neue Flüchtlingsroute über das Schwarze Meer durch Rumänien reagieren die Bewohner bisher gelassen. Auch gibt es keine offiziellen Stellungsnahmen seitens Politikern. Auch die Medien berichten nur sehr selten über die Flüchtlinge. Das Thema ist noch fremd. Doch über die Arbeitsmigration der Rumänen berichtet man täglich. In der Ausstellung gibt es nicht nur Gedichte von Kriegsgeflüchteten, sondern auch von westeuropäischen Expats, die beruflich in Deutschland leben oder von Leuten aus Osteuropa, die in Deutschland arbeiten, weil sie in ihrem Heimatland keine Jobs finden.
Das Publikum macht mit
Die Autoren der Gedichte kommen aus Syrien, Sudan, dem Irak, dem Iran, Afghanistan, Türkei, China, Indien, Irland, England, Litauen, Brasilien, Rumänien, Polen, der Ukraine, Russland, Ghana, Peru. Unter ihnen gibt es Ärzte, Studenten, Arbeiter, Rentner. Ihre Gedichte stehen auf großen Plakaten. Eines der Plakate ist leer, darauf steht kein Wort. Es steht für jene, die unsichtbar geblieben sind. Für jene, die in den Schlepper-LKWs erstickt sind, für jene, die im Mittelmeer ertrunken sind, deren Körper auf einem Bett von Korallen liegen und nie wieder gefunden wurden.
Nach der Gedichtlesung im Deutschen Kulturzentrum gab es ein Erzählcafe, in dem auch Geflüchtete und Migranten zu Wort kamen, die in Kronstadt leben – eine Frau aus der Dominikanischen Republik und ein Mann aus Syrien. Auch das Publikum konnte der Ausstellung ein paar Worte schenken. Die Worte wurden auf Blanko-Karten aufgeschrieben und werden langfristig in das „Wer versteht das schon“-Wörterbuch aufgenommen. Ein paar Wochen lang kann man die Ausstellung im Deutschen Kulturzentrum besuchen. Im Juli wird sie auch in der Zeidner Kirchenburg zu sehen sein.
In einem der Gedichte geht es um die Heimatstadt, die man verlassen musste: „Am puren Meer schläft eine Perle. Das ist meine Stadt. So eine süße Luft, wie Marshmallow. Hier hab ich Freunde. Glitzerne Glaspaläste. Kleine Straßenhändler. Verschiedene Perspektiven existieren wundervoll nebeneinander. So ist das Leben hier. Faszinierend“, schreibt Anyi Massami aus China.
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Zweiter Text
Als wären die Wölfe,
die ersten Wölfe,
die alten Wölfe,
deren Haut wir uns überzogen,
die Wölfe,
die wir vor tausend Jahren töteten,
damit wir ihr Revier bewohnen,
die Wölfe, die heute unseren Körpern innewohnen.
Wir heulen,
als ob wir einen Leib beweinen
oder ein verlorenes Paradies
in verlorener Tinte.
Gedicht von Ahmad Eskander Suleiman, Syrien
aus dem Arabischen von Fouad El-Auwad
Rostocker Möwe
Das Meer klingt bis in das Herz der Stadt,
Der Hunger der Möwenbabies weckt mich auf.
Der Möwenpapa holt einen Fisch aus dem Brötchen.
Heißes Sommerdach, Regenbogen,
Krabbenreste auf dem Balkon.
Warnemünder Freiheit
und ein Schal für die Möwe auf dem
Rostocker Neuen Markt.
An der Ostsee begrüßen sie alle
Jahreszeiten wie ich.
Agnieszka Gniewosz, Polen
Deutsche Schule in Zeiden: das blaue Klassenzimmer
rote Blumen und grüne Blätter schwimmen die hölzernen Wände
meines Klassenzimmers entlang
wie Wellen schwappt das Blau über die Konturen der Ornamente
zieht sich wieder in sein blaues Schweigen
zurück gehe ich nicht mehr
ich greife danach und pflücke ein paar Erinnerungsreste
der kantige Wehrturm mit den dunklen Nischen als Krone
wächst ins Klassenzimmer schief herein
ein Buchstabenprofil- ein A oder ein O?- klebt in meinem Fibelheft
an chinesischer Zahnpaste fest
von meinem zopfbeschwerten Kopf fließen
lange, bestickte Bänder in rot und grün
auf das blaue Laibchen über der weißen Wiesenbluse herab, alles geborgt,
auch die Verzweiflung, nicht deutsch genug zu sein.
Daniela Boltres