„The eyes, Chico. They never lie“. Das berühmte Zitat aus dem Film „Scarface“ mit Al Pacino ist auf die Einkaufstasche einer jungen Frau abgedruckt, die in einer Klausenburger Bäckerei in der Nähe des Bahnhofs Schlange steht. Es ist Montag, der 19. Juni 2023. Der erste Tag nach dem „TIFF“. Die Stadt kehrt langsam wieder zum Alltag zurück. Keine Leute mit Badge um den Hals, die um 10 Uhr morgens mit einem Kaffee-Pappbecher ins Kino „Victoria“ laufen. Kein roter Teppich mehr vor dem „Florin Piersic“-Kino. Keine Chance mehr, dem australischen Schauspieler Geoffrey Rush auf der Terrasse des „Casa Tiff“ auf der Universitätsstraße zu begegnen. Und auf dem Hauptplatz bei der Michaels-Kirche wird an den kühlen Sommerabenden mit Lindenblüten-Geruch nicht mehr der Satz „Ich schau dir in die Augen, Kleines!“ ertönen. Und die Kinosäle im Stadtzentrum werden sich nicht mehr füllen.
Doch auch wenn die rot-schwarzen Werbeplakate von den Straßen verschwinden werden, bleiben die Spuren des Festivals überall. Auf der Einkaufstasche der jungen Frau, die in der Bäckerei in der Schlange wartet. Am Fenster eines Cafes, wo das Logo des Festivals das ganze Jahr hindurch leuchtet. Im Arta-Kino, wo auf einer Stuhllehne noch immer der Satz „I see dead people“ aus dem Film „ Der sechste Sinn“ steht. Und sogar im Zug nach Kronstadt, wo das Handy eines Herren mit dem Lied von „Der Pate“ klingelt.
Schon wieder ist eine Auflage des Internationalen Filmfestivals „Transilvania“ zu Ende gegangen. Für die Klausenburger war es die Edition Nummer 22. Für mich persönlich die 18. Auflage.
Gulasch unter Eichen und ein Dokumentarfilm über die bedingungslose Liebe zum Fußball
Nach zwei Pandemie-Auflagen und einer Edition mit überraschend großem Publikumsandrang im Jahr 2022 kehrte die „TIFF-Normalität“, die man aus den älteren Editionen kannte, wieder zurück: es regnete an fast allen Tagen. Viele Freilicht-Vorführungen musste man wegen des Wetters in Innenräume verlegen, was für etwas Chaos sorgte. Doch das düstere Wetter war perfekt, um den halben Tag in den Kinosälen zu verbringen. In der TIFF-Werbekampagne in diesem Jahr ging es um die Liebe, und besonders um die Liebe zum Kino. Und auch um die Filme, die dich ein Leben lang begleiten und die du nie vergessen kannst.
Und auch in vielen Leinwandgeschichten ging es um die Liebe in ihren diversen Formen.
Der Dokumentarfilm „Die Adler aus Țaga“ in der Regie von Adina Popescu und Iulian Manuel Ghervas handelt von der bedingungslosen Liebe zum Fußball. Er zeigt den Alltag von Nelu, dem 67-jährigen Trainer des Fußballclubs „Die Adler“ im 800-Einwohner-Dorf Țaga im Kreis Cluj.
Die jungen Sportler haben andere Prioritäten: auf Partys und Hochzeiten gehen ist wichtiger als Fußball. Obwohl er davon enttäuscht ist, tut Nelu sein Bestes, um sein Team zu motivieren. Der Film verfolgt die Fußballmannschaft während ein paar Spielen zu Hause und auf einer Tournee in der Slowakei und zeichnet mit Witz und Charme ein rührendes Portrait ihres Trainers.
Nelu setzt sich unermüdlich dafür ein, damit die Sonntags-Fußballspiele im Dorf weiterhin stattfinden und die Tradition weitergeht, obwohl sein Team es nie in eine höhere Liga geschafft hat: bisher haben die „Adler“ alle Spiele verloren.
Der Film, der beim Astra-Dokumentarfestival für beste Regie ausgezeichnet wurde, konnte am Abend des 18. Juni (dem einzigen regenfreien Tag des Festivals) unter freiem Himmel, im ethnographischen Park „Romulus Vuia“ gesehen werden. Davor konnten die Zuschauer an Holztischen unter den riesigen Eichen Gulasch essen, den Park besuchen und an einem Nightlosers-Konzert teilnehmen. Es war vielleicht eine der gelungensten Veranstaltungen des diesjährigen Festivals.
Der Dokumentarfilm über die „Adler aus Țaga“ war laut Organisatoren einer der am besten besuchten Filme des diesjährigen Festivals. In die Top 5 der Publikumserfolge schafften es auch Wes Andersons „Asteroid City“, der am letzten Abend des Festivals von 3200 Menschen auf dem Hauptplatz unter freiem Himmel gesehen wurde oder die isländische Komödie „Northern Comfort“, die das Festival eröffnet hat, aber auch der Klassiker „Casablanca“, den man an einem der wenigen regenfreien Abenden ebenfalls auf dem Hauptplatz sehen konnte und der neue Film von Tudor Giurgiu, „Freiheit“ (Originaltitel: Libertate), der in den Tagen der Revolution von 1989 spielt. Die Bilanz der Organisatoren zu Ende des Festivals war erfreulich: über 100 ausverkaufte Veranstaltungen, 110.000 verkaufte Karten und über 125.000 Besucher der Filme und des Rahmenprogramms. Man braucht nur noch zu hoffen, dass in der Ära von Netflix&Co die Kinosäle nicht leer bleiben. Denn der beste Ort, um einen Film zu sehen, bleibt immer noch das Kino.
Das brutale Ende einer Jugend
Wenn man schon zum 18. Mal beim TIFF ist, kennt man das Gefühl: nach einer Woche, in der man mehr als zwanzig Filme geschaut hat, bleiben nur wenige in der Erinnerung haften. Einer davon ist „Roter Himmel“ des deutschen Regisseurs Christian Petzold, der in diesem Jahr mit dem Silbernen Bären (Großer Preis der Jury) bei der Berlinale ausgezeichnet wurde. Ein heißer, trockener Sommer an der Ostsee. In der Ferne wüten Waldbrände, seit Wochen hat es nicht mehr geregnet. In einem Ferienhaus nahe am Strand treffen vier junge Leute aufeinander: die Jugendfreunde Leon und Felix, Nadja, die während der Sommersaison als Eisverkäuferin an der Strandpromenade arbeitet und der Rettungsschwimmer David. Der junge Schriftsteller Leon hat einen erfolgreichen ersten Roman geschrieben. Doch der zweite Roman, wie viele Leute behaupten, ist immer am schwersten zu schreiben. Nach einem Erfolg etwas Neues zu produzieren, übt einen so hohen Erwartungsdruck aus, dass viele daran scheitern. Und obwohl man Spaß daran haben sollte, wird das Schreiben zur Höllenqual und man würde alles mögliche tun, um ihm zu entweichen. Jeder Autor, der schon mit Schreibblockaden und fehlender Inspiration gekämpft hat, aber auch jeder, der jemals pünktlich zur Deadline etwas abliefern musste und Zweifel daran hatte, kann Leon verstehen. Während die anderen jungen Leute den Sommer am Meer genießen, fühlt sich Leon von so viel Lebensfreude provoziert. Dazu kommt, dass er sich in die geheimnisvolle Nadja verliebt. Doch in der Unbeschwertheit des Sommers lauert eine Gefahr. Das Feuer, das den Wald ergreift, bringt eine Tragödie mit sich. Und nach diesen heißen Tagen wird nichts mehr so sein, wie es war. Ein Film über Umweltkatastrophen, über das brutale Ende einer Jugend und darüber, wie wichtig (oder unwichtig) Kunst ist, der bis zur letzten Minute spannend bleibt.
Packendes Familiendrama
Über die Liebe ging es auch in dem diesjährigen Gewinnerfilm der TIFF-Trophäe– der iranische Spielfilm „Wie ein Fisch auf dem Mond“ (Like a fish on the moon) in der Regie von Dornaz Hajiha. Diesmal über die Liebe zwischen Eltern und Kindern. Das Leben des Ehepaares Haleh und Amir als Angehörige der Mittelschicht einer iranischen Stadt scheint völlig normal zu sein. Sowohl Haleh als auch Amir arbeiten, sie haben eine Wohnung und ein Auto und ihr Sohn, der vierjährige Ilya, hat Spielzeug und Videospiele. Natürlich kommt es manchmal zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen, und manchmal hört Ilya sie streiten. Plötzlich hat die Familie mit einer schwierigen Situation zu kämpfen: Ilya hört plötzlich auf, zu reden. Jeder Arzt und jeder Therapeut, den das Paar aufsucht, hat seine eigene Theorie, und jeder Bekannte hat einen Arzt oder Therapeuten, den er empfehlen kann. Der Erziehungsstil der beiden Eltern unterscheidet sich jedoch: Haleh ist eher eine „Helikopter-Mutter“, während Amir eher ein strenger, strukturierter Vater ist. Am Schluss findet ein Psychoterapeut eine radikale Lösung. Die beiden sollen bei der Betreuung ihres Sohnes die Rollen tauschen. Ilyas Mutter, die sich bisher um ihn gekümmert hat, soll in den Hintergrund treten, während der Vater ihre Rolle als Betreuer des Kindes übernimmt. Diese Änderung der etablierten Ordnung versetzt die Familie in eine Abwärtsspirale aus Spannung und Aggression, aus der es äußerst schwierig ist, einen Ausweg zu finden. Die Kluft zwischen den beiden Eheleuten wird immer größer.
Täter und Opfer beim Speed-Dating
Um Liebe geht es auch in „Der glücklichste Mann der Welt“ (The happiest man in the world) in der Regie von Teona Strugar Mitevska. Der Film beginnt wie eine Komödie: Asja, eine Frau Mitte Vierzig aus Sarajevo, geht zu einem Speed-Dating-Event, um die Liebe zu finden. Doch als Asja den zwei Jahre älteren Zoran trifft, der auf Vergebung für seinen Kriegseinsatz hofft, wird es ernst. Es stellt sich heraus, dass Zoran der Mann ist, der am 1. Januar 1993 auf Asja, die damals ein Teenager war, geschossen hat und sie schwer verletzte. Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit: die Drehbuchautorin Elma wurde als Kind während der Belagerung von Sarajevo verletzt. Nach dem Krieg traf sie in einem Workshop an der Filmakademie auf den Täter von damals. Sie wurden aufgefordert, über die schlimmsten Dinge zu sprechen, die ihnen widerfahren waren. Ihr Zusammentreffen war Zufall, doch sie blieb mit dem Mann im Kontakt, obwohl die Begegnung bei ihr sehr widersprüchliche Gefühle auslöste. „Der glücklichste Mann der Welt“ stellt die Frage, was uns als Menschen definiert, was uns trennt und uns eint. Ist es die ethnische Zugehörigkeit, die Religion, das Herkunftsland, unser Geschlecht? Es ist eine ergreifende Geschichte über zufällige Begegnungen, die Täter und Opfer zusammenbringen und die schmerzhafte Vergangenheit wieder aufleben lassen, eine Geschichte über Vergebung und zugleich die Geschichte einer unmöglichen Liebe.
Ein finnisches Before Sunrise
Bei jeder Tiff-Auflage gibt es den einen Film, an den man sich auch in 10 Jahren erinnern wird. 2023 war dieser Film „Abteil Nummer 6“, Finnlands Kandidat für den Oscar 2022.
Die schüchterne finnische Archäologiestudentin Laura ist fest entschlossen, die Felsenmalereien von Murmansk nahe am Polarkreis zu besichtigen. Nach einer unglücklichen Romanze verlässt sie Moskau allein. Die Aussicht auf eine beschauliche Eisenbahnreise zerschlägt sich, als sie den Mitreisenden im Abteil kennenlernt. Ljoha ist Bergarbeiter, trinkfest und laut, ein Typ, der kaum Grenzen kennt. Doch während ihrer gemeinsamen Reise müssen die ungleichen Passagiere auf engstem Raum miteinander auskommen, bis allmählich eine Annäherung spürbar wird. Ein Road-Movie auf Schienen durch das Russland der späten 1990er Jahre, auf der sich zwei Außenseiter über alle Kultur- und Klassengrenzen hinweg begegnen und näher kommen. Diese Geschichte einer Freundschaft (denn auch Freundschaft ist eine Form von Liebe) wurde in Cannes mit dem „Großen Preis der Jury“ geehrt. Man kann nur hoffen, dass der Film in die rumänischen Kinos kommt oder bei anderen Festivals zu sehen sein wird.
Die 22. Auflage von TIFF war kaum zu Ende, als man schon die Termine für das nächste Jahr bekanntgab: vom 14. bis zum 23. Juni 2024 wird Klausenburg wieder zur Filmhauptstadt. Bis dann freut man sich, wenn man bei einem Spaziergang durch die Stadt Spuren des Festivals entdeckt. Wie etwa eine Einkaufstasche mit einem Zitat aus „The Matrix“. Oder ein Cocktail mit dem Namen „Orange Pulp fiction“. Oder die Aufschrift auf einer Fassade: „Make films, not war“.