Die Aula der Transilvania-Universität ist voll. Hunderte von Menschen schauen gespannt zu, wie eine Frau aus dem Publikum auf die Bühne steigt. Einer Therapeutin erzählt sie ihre Lebensgeschichte und spricht von einem Problem in ihrer Familie, dass sie bedrückt und das sie bisher nicht lösen konnte. Währenddessen holt sie, auf Bitte der Therapeutin, mehrere Leute aus dem Publikum auf die Bühne. Diese sollen die Rollen der Familienmitglieder der Frau übernehmen. Die Therapeutin stellt ihnen Fragen, sie sollen aus der Perspektive dieser Familienmitglieder antworten.
Was wir gerade sehen, ist eine Familienaufstellung. In dieser Therapie-Methode werden einzelne Personen stellvertretend für Familienmitglieder im Raum positioniert und miteinander in Beziehung gesetzt. Dadurch soll das Beziehungsgeflecht innerhalb einer Familie visualisiert werden. Die Therapeutin ist Sabine Lück aus Deutschland, die zum ersten Mal in Kronstadt eine praktische Demonstration der Generation-Code®-Methode durchführt.
Der Vortrag und die Demonstration waren Teil einer ganz besonderen Veranstaltungsreihe zum Thema „Trauma. Erinnerung. Heilung“, die in der ersten Aprilwoche stattfand und deren Hauptorganisator das Deutsche Kulturzentrum Kronstadt war. Dabei wurde das Thema auf multidisziplinäre Weise behandelt, von der künstlerischen Verarbeitung der Familiengeschichte in der bildenden Kunst oder im Theater, über einen psychotherapeutischen Ansatz.
Die Veranstaltungsreihe wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Transgenerative Prozesse Wendeburg-Deutschland, dem Generation-Code® Projekt Rumänien, dem Deutschen Demokratischen Forum Kronstadt und dem Trei-Verlag, mit Unterstützung des Goethe-Instituts Bukarest, der Universität Siebenbürgen, dem Multikulturellen Zentrum der Universität Siebenbürgen in Kronstadt, der Redoute, der Abteilung für interethnische Beziehungen und der Buchhandlung Cărturești organisiert.
Ängste können erklärt werden
Das Publikum verfolgt die Demonstration wie einen spannenden Film. Am Ende ist das Problem der Frau natürlich nicht gelöst, sie kann sich aber einige Aspekte besser erklären und diese werden ihr sicher in der Zukunft helfen.
Bei der Veranstaltung stand transgenerationale Weitergabe im Mittelpunkt. Es ist ein Thema, über das immer öfter gesprochen wird. Man kann die blauen Augen der Großmutter erben, man kann sogar die Abneigung für Fisch erben, man kann Herzprobleme erben oder das musikalische oder literarische Talent. Aber auch Erfahrungen kann man erben. In einer türkischen Serie auf Netflix wacht eine Frau mitten in der Nacht auf und kann nicht mehr atmen. Während der Therapie erinnert sie sich dann, dass ihre Großmutter auf der Flucht über das Meer fast ertrunken wäre. Warum hat eine Person Angst vor Dunkelheit, vor Ratten oder vor Geschwindigkeit? Warum flüchtet jemand vor festen Beziehungen? Warum fällt es jemandem schwer, mit seinem eigenen Kind zu kommunizieren? Die Antwort kann in der transgenerationalen Therapie stecken – hier werden Einflüsse vorangegangener Generationen aufgedeckt und bewusst verarbeitet.
Start für Generation-Code Rumänien®
Sabine Lück ist psychologische Psychotherapeutin, Lehrerin, Supervisorin, Referentin, Autorin und Spieleentwicklerin. Sie wurde in Namibia geboren, wo sie ihre Kindheit verbrachte, und kam mit 15 Jahren nach Deutschland. Als Tochter einer im Krieg geflüchteten Mutter und eines Vaters, dessen Familie während der Kolonialzeit nach Afrika auswanderte, fühlt sich die Ahnenexpertin auch persönlich eng mit dem Thema der transgenerationalen Weitergabe verbunden. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Ingrid Alexander entwickelt sie seit 1994 das Konzept der Transgenerationalen Psychotherapie Generation-Code®. In den folgenden Jahren arbeiteten die beiden Forscherinnen zusammen und veröffentlichten 2016 das Buch „Ahnen auf die Couch“ (das auch in Rumänien beim Verlag „Trei“ unter dem Titel „Strămoși pe divan“ erschienen ist).
Sabine Lück ist heute Leiterin des DGSF-anerkannten Instituts für Transgenerationale Prozesse ITP und bietet hier zertifizierte Weiterbildungen in systemischer und transgenerationaler Therapie an. In über 25 Jahren Praxis hat sie erfahren, wie bedeutsam der Einfluss transgenerationaler Erfahrungen auf die Lebens- und Identitätsentwicklung eines jeden Menschen ist. Mit ihrer Arbeit möchte sie möglichst vielen Menschen helfen, ihren eigenen Generationscode® zu entschlüsseln, die Verbindungen zu ihren Vorfahren zu erkennen und dann die kindlichen Loyalitätsverträge zugunsten einer authentischen und reifen Persönlichkeit auflösen zu können. Als pädagogische Psychotherapeutin, die mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen arbeitet und ihr tiefenpsychologisches Wissen mit ihrer systemischen und transgenerationalen Kompetenz verbindet, möchte sie ihr langjährig erprobtes Wissen auch an andere Fachleute weitergeben. Mit einer lebendigen Kreativität und vielen innovativen Ideen lebt sie ihren Beruf mit Leidenschaft und Hingabe und inspiriert so die Teilnehmer ihrer Fortbildungen nachhaltig.
Was ist transgenerationale Weitergabe?
Forscher sind sich heute einig, dass traumatische Erlebnisse genetisch weitergegeben werden können. Wie diese Weitergabe genau stattfindet, ist bisher unklar – es ist schwer, die Mechanismen dahinter zu verstehen, weil so viele Faktoren einen Einfluss auf unsere Psyche und die Gesundheit haben. Transgenerationale Weitergabe bezeichnet die Übertragung von Erfahrungen der Angehörigen einer Generation auf die Mitglieder einer nachfolgenden Generation, wobei es sich in der Regel um ein unbeabsichtigtes, oft unbewusstes und nicht selten auch ungewolltes Geschehen handelt. In erster Linie geht es um unverarbeitete seelische Traumata, die in verschiedenen Zusammenhängen erworben wurden. Dass Traumata womöglich vererbt werden können, wurde 1966 das allererste Mal im Zusammenhang mit Kindern von Holocaust-Überlebenden bedacht – in Kanada suchten die Kinder und Nachfolger der Überlebenden des Holocausts in den 60er-Jahren damals vermehrt nach psychischer Hilfe in Kliniken.
Trauma ist nicht nur das Schreckliche, was einem Menschen widerfährt, sondern das, was daraufhin mit ihm geschieht, dass er Angst hat, darüber zu sprechen, dass er seine Gefühle abspaltet und verdrängt, um weiterzuleben. Daraus entstehen immer große Schwierigkeiten, nahe Beziehungen einzugehen. „Die meisten Menschen entwickeln schon als Kinder eine unbewusste Loyalität zu Mutter, Vater und Vorfahren. Statt das zu leben, was ihr eigener Weg wäre, bemühen sie sich, unerfüllte Träume früherer Generationen umzusetzen oder sie für erlittene Entbehrungen zu entschädigen. In dem Wunsch, den eigenen Kindern bessere Eltern zu sein, werden diese Wunden häufig an die nächste Generation weitergegeben, denn unbewusst besteht die Hoffnung, dass ihnen gelingt, was man sich selbst so gewünscht hätte“, erklärt Lück. Durch die Entschlüsselung des eigenen familiären Codes und die Auflösung des kindlichen Treuevertrages wird das Selbst befreit und die Entwicklung unseres gesamten Potenzials möglich. Dann können wir endlich sein, wer wir geworden wären.
Erlebte Traumata wirken bis in die nächsten Generationen fort. Es zeigen sich dann von der Grossmutter bis zum Enkel ähnliche Verhaltensmuster. Sie zu durchbrechen ist nicht einfach. Man kann aber den Bann brechen, indem man über Geschehenes mit der Familie, mit Freunden, mit ebenfalls Betroffenen oder mit einem Therapeuten redet. Neben zahlreichen nachteiligen Folgen kann auch die Resilienz genannte psychische Widerstandsfähigkeit eines Menschen auf dem Weg einer transgenerationalen Weitergabe gestärkt werden.
Der Vortrag, den Sabine Lück Anfang April in Kronstadt abgehalten hat, ist der offizielle Startschuss für das Projekt Generation-Code Rumänien®. Die Therapiemethode, über die die deutsche Psychotherapeutin gesprochen hat, verbindet eine Reihe neuer Konzepte und Theorien mit Erkenntnissen aus der systemischen Familientherapie, der abyssalen Psychotherapie (psychodynamisch orientiert), der Hypnotherapie und der Neurobiologie. Sabine Lück schlägt einen transgenerationalen Ansatz zur Wiedererlangung des authentischen Selbst vor, indem sie unbewusste Verbindungen zu den Vorfahren auflöst. Nur wenn wir aufhören, unsere Eltern an ihrem empfindlichsten Punkt zu schützen, können wir unseren eigenen Weg gehen. Für jeden, der sich besser kennenlernen oder von negativen Gefühlen befreien will, kann die Teilnahme an so einem Vortrag ein guter Einstieg sein.
Mehr Informationen unter:
www.itp-wendeburg.de und Generation-Code Romania generationcode.ro