Ehe ich mich in den vorbereiteten Text vertiefe, möchte ich kurz auf die Baum-Wurzel- bzw. Baum-Krone-Metapher eingehen, da mit ihr bei dieser Gala künstlerisch so intensiv und eindrucksvoll gearbeitet wurde. Nachdem die Heilige Corona – in der griechisch-orthodoxen Tradition die Heilige Stephana, warum Kronstadt auf Griechisch auch Stephanopolis heißt – in Vergessenheit geraten war, was zeitlich mit dem Wechsel des Kirchenpatroziniums der Schwarzen Kirche von der Heiligen Corona auf die Heilige Maria wohl zu Beginn des 14. Jahrhunderts festzumachen ist, wurde Corona als Ortsname v.a. mit einer Krone in Verbindung gebracht. Daher sind die ersten Stadtsiegel aus dem späten 14. Jahrhundert auch mit einer Krone allein illustriert und sollten die politische Grundlinie der Stadt als Aufstiegs- und Entwicklungsgarant unterstreichen, nämlich ihre Königstreue. Johannes Honterus ist zwar nicht der Erschaffer des Wurzel-Krone-Wappens von Kronstadt, aber es ist ganz eindeutig ihm zu verdanken, dass sich dieses Wappen durchgesetzt hat und auch heute das offizielle Stadtwappen ist – das sollte jeder Honterianer wissen.
Mit Sicherheit hatte Honterus bei seinem umfassend angelegten gesellschaftlichen Erneuerungswerk eine ganz ähnliche Vorstellung von der Fokussierung der Kronstädter auf die wertvollen, das Leben krönenden Inhalte, wie wir sie heute in der Gala gehört haben. Man kann sogar so weit gehen, im Krone-Wurzel-Wappen von Honterus sein reformatorisches Selbstverständnis zu erkennen. Wenn in einem irdischen Leben die Ehrungen beginnen, heißt das zumeist, man ist ein alter Sack geworden und soll nun weggelobt werden. Die Honterusplakette ist aber, wie auch die historische Person von Johannes Honterus, etwas anderes, etwas Besonderes, das sich von der Normalität abhebt.
In den letzten Jahren hat sich der Brauch eingebürgert, durch die Vergabe der Honterusplakette herausragende Honterianer zu ehren, gleich welcher Altersstufe sie angehören – ein guter, verbindender Ansatz, der auch das Problem mit dem „alten Sack“ etwas relativiert… Dennoch, die Zeit verrinnt, v.a. ungenützte Zeit verrinnt besonders schnell – nicht umsonst, steht daher am Ziffernblatt der Schwarzen Kirche „Sic transit gloria mundi“ – „so vergeht der Ruhm der Welt“, eh man sich versieht, hat man graue Haare und wird von der Jugend gesiezt, was sehr gewöhnungsbedürftig ist und unter Honterianern vielleicht abgeschafft werden sollte.
Sich ehren zu lassen, ist weit schwieriger, als ich es mir gedacht habe. Wieso ich? Es gibt doch genügend andere, die Wichtigeres und mehr geleistet haben als ich selbst! Fluchtgedanken kommen auf… Es gibt nur einen einzigen Ausweg: die angedachte Auszeichnung ehrt zugleich und v.a. den Ehrenden, euch das Jugendforum Kronstadt und euch die Honterusabsolventen und in erster Linie die Persönlichkeit und die Werte dessen, in dessen Namen wir uns hier versammelt haben, von Johannes Honterus.
Ja, ihr habt richtig gehört, euch Honterusabsolventen! Zur Familie der Honterianer will ich mich gerne hinzurechnen, zur Familie der Honterusabsolventen kann ich mich nicht dazuzählen, da die Weltgeschichte 1989/1990 dazwischengefunkt hat, Abitur und Studium in meinem Fall in Deutschland erfolgt sind. In der Rückschau stelle ich nun fest, dass mir doch einiges an Zeit am Honterus bis zum Abschluss der 9. Klasse gegeben war, die als geistiges Gepäck in vielerlei Hinsicht später Anknüpfungspunkte geboten hat. Überdurchschnittlich viel vom Schulleben habe ich während der 1980er Jahre auch deswegen mitbekommen, weil meine Eltern, teils gleichzeitig, Sportlehrer am Honterus waren. Zu eben dieser unmöglichen Jahreszeit, also jetzt zwischen den Jahren, wo man doch eigentlich…ja, v.a. verdaut, isst und wieder verdaut, organisierten v.a. meine Mutter Skilager für die Oberstufenschüler, an denen ich bereits als Drittklässler teilnahm. Unglaublich umständlich war der Transport gelegentlich, schwer die langen Aufstiege zu den Schutzhütten, meine eigene Ausrüstung konnte ich nicht einmal selbst tragen.
Trotzdem der eine Skischuh bei Helge Zoltner, der andere bei Norbert Zölde im Rucksack war, musste meine Mutter mich beispielsweise beim Aufstieg nach Mădăraş im Harghitagebirge mit Schokoladenstücken aus westdeutschen Fresspaketen an jeder Wegeskrümmung zum Weitergehen überreden. Am Folgetag war alles vergessen, improvisiertes Skispringen auf einer selbst gebauten Schanze, am Abend Hüttentaufe für all jene, die zum ersten Mal in Mădăraş waren, eine ulkige Zeremonie, die mit je einem saftigen Klapps auf den nackten Allerwertesten endete; am Ende des Skilagers das obligatorische Skirennen, wo oft mein kindlicher Ehrgeiz und Siegeswille größer war als mein Können. Die Illusion, die 12.-Klässler schlagen zu können, platzte immer wieder, öfters stand ich heulend dann am Pistenrand. Erlebnisse dieser Art überstrahlten die zahlreichen Mangelerscheinungen und Zwänge der Zeit vor bald 35 Jahren.
Ich bin mir auch sicher, dass der Papierkrieg, der damals für die außerschulischen Aktivitäten am Honterus sicher auch geführt werden musste, weit harmloser war als heute, da Papier ja auch teils Mangelware war. Man musste Pionier sein und wir hassten die Uniformen genauso wie die eigentlich vorgeschriebene ideologische kommunistische Gleichschaltung – vieles funktionierte in diesem Bereich nur auf dem Papier, unsere Lehrer verstanden es, unsere Kindheit von der ideologischen Penetrierung weitgehend frei zu halten. Die deutsche Sprache war zugleich eine Nische, die weit mehr Weltkultur zuließ und den vorgeschriebenen Proletkultismus in Grenzen hielt.
Oft war es kalt, die Winter waren winterlicher als heut, die Mittelstufe hatte Nachmittagsunterricht, als Skifahrer hieß das, vormittags am Schuler beim Training, dann ab in die Schule, gerne über den Alten Weg in halsbrecherischer Schussfahrt, die Zeit drängte, man kam besser nicht zu spät. Im Schlittschuhschritt durch das Schei (Obere Vorstadt), die Skier im Schulhof abgeschnallt und schleunigst ins Klassenzimmer – unser Rekord lag bei 25 Minuten vom Schuler (Kanzel) bis in den Honterushof. Am Abend im Schlittschuhritt die Mittelgasse hinunter bis nach Hause – heute undenkbar bei dem Verkehr, aber damals bei dem Benzinmangel ging das richtig gut und war zudem auch richtig schnell.
Der erste Schultag kam auch nach den revolutionären Ereignissen von 1989 unweigerlich im Januar 1990. Ich erinnere mich noch gut, wie zu Hause plötzlich die Frage aufkam: Schuluniform? Braucht es das noch? In der Rückschau war der Kern der Frage eigentlich dieser: sind wir nun wirklich frei? So ganz und vollkommen frei und was bedeutet das eigentlich? Mein Bruder und ich nahmen uns die Freiheit und zogen die verhasste Uniform nie wieder an und waren in der Schule dann froh, zu den rund 70% der jeweiligen Klasse zu gehören, die sich ebenfalls für die Freiheit entschieden hatten. Die Tilgung der Spuren der kommunistischen Unrechtsherrschaft war das Gebot der Stunde. Das in jedem Klassenzimmer obligatorische Porträt des Genossen Ceau{escu hängten wir als erstes ab.
Die Karpatenrundschau (in der Person des Chefredakteurs Dieter Drotleff) wurde in der Schule mit einem zeittypischen Problem vorstellig: das auch unter uns Schülern beliebte Taschenbuch der Karpatenrundschau, „Ich hab’s“, lag frisch gedruckt vor, enthielt aber wie all die Jahre zuvor verstreut im ganzen Buch etwa 10 Artikel, die man als ideologische Pflichtübung bezeichnen kann, Fotos von Ceau{escu und Lobeshymnen auf die Errungenschaften des Kommunismus etc. Die galt es zu tilgen. Dafür hatte die Redaktion große Stempel anfertigen lassen mit der Aufschrift: „Das Volk hat den Tyrannen gestürzt“. Es galt nun, die Stempel in allen Exemplaren je 10 Mal anzubringen, wofür Freiwillige am Honterus gesucht wurden. Wenig später waren wir zu dritt aus unserer Klasse in der Redaktion und begannen drauflos zu stempeln und stempelten und stempelten etwa drei Tage jeweils mehrere Stunden lang. Zu keinem Zeitpunkt sind wir auf die Idee gekommen, uns nach der Gesamtanzahl der Bücher, die es zu stempeln galt, zu erkundigen. Das Stempelritual hatte uns vollkommen in seinen Bann geschlagen, mit jedem Stempel befreiten wir uns ein Stück weit mehr von der Unrechtsherrschaft, wir fühlten uns immer freier, wir verspürten eine gewisse Macht und das machte insgesamt irgendwie glücklich.
Die Schulleitung wurde durch demokratische Wahlen der Lehrer neu legitimiert, Prof. Hannelore Schuller blieb Schulleiterin, Stellvertreter wurde Prof. Heinz Fleps – ich komme nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass sich an dieser Stelle in die Direktorenlisten im Jahrbuch des Honteruslyzeums ein Fehler eingeschlichen hat. Aufbruchsstimmung machte sich breit, ich fand mich in der Redaktion der Schülerzeitung wieder, die damals „Honterusschule Heute“ hieß. Zahlreiche Initiativen wurden besprochen. Ich erinnere mich noch daran, dass wir uns dafür einsetzten, einen Fahrradschuppen zu bekommen, damit man auch mit dem Rad in die Schule kommen konnte und nicht immer auf die überfüllten und unzuverlässigen öffentlichen Transportmittel angewiesen sein sollte. Es ist in diesem Fall bei der Idee geblieben – das ist auch heute noch so, weder die Schule noch Kronstadt sind fahrradfreundlich, aber das kann und sollten wir mal ändern, dafür gibt es schließlich Kommunalwahlen…
Doch mächtiger als die Aufbruchsstimmung war die Abschiedsstimmung in der ersten Jahreshälfte 1990. Eine Auswanderungsparty folgte der nächsten, als meine Familie das Land verließ, Mitte Juni 1990, war die halbe Klasse schon weg und ca. 10 weitere Schüler waren praktisch reisefertig. Man versprach sich gegenseitig, in Verbindung zu bleiben, was mehr recht als schlecht in der Folge klappte, wenn überhaupt alle zwei Jahre beim Honterusfest in Pfaffenhofen in Deutschland.
Man muss die Dinge, die man haben will, machen, denn sonst werden sie nie sein. Das ist logisch, aber selten ist das auch einfach, aber es geht – die ersten Erfahrungen dieser Art habe ich am Honterus gemacht und wünsche mir, dass möglichst viele Honterianer von heut, die Zeit an der Schule für derartige Erfahrungen nützen, sie sind Gold wert im Laufe eines Lebens. Die Aneignung des Lernstoffes ist in der Rückschau noch nicht einmal die halbe Miete.
Ohne die oben skizzierte Vorgeschichte hätte ich mich wohl nicht dafür begeistern können, jahrelang für Studium Transylvanicum um diese Zeit, jetzt zwischen den Jahren, wissenschaftliche Siebenbürgen-Tagungen für den akademischen Nachwuchs zu organisieren. Ich konnte das Gemaule über den ungünstig gewählten Zeitpunkt teilweise nicht mehr hören – den Organisatoren der Honterus-Gala dürfte es gegenwärtig nicht viel besser ergehen – Gegenfrage aber: wann im Laufe eines Jahres in einer globalisierten Welt haben alle Zeit und sind im Falle der Honterianer zu Hause? Jetzt. Also?
Gedanken und Taten dieser Art stellen uns direkt in die Nachfolge von Johannes Honterus. Aus dem Nichts ließ er diese Schule um das Jahr 1539 entstehen, er versorgte sie selbst mit den notwendigen Schulbüchern und sah darin, wie Paul Philippi bemerkt hat, die wichtigste Stufe der Reformation als erreicht und abgeschlossen an, noch ehe sie in der Kirche im Oktober 1542 umgesetzt werden konnte. Johannes Honterus gab wohl im Frühjahr 1542 die finale Fassung der „Rudimenta cosmographica“, die „Grundzüge der Weltbeschreibung“, sein Hauptwerk, in Kronstadt für seine Schule in den Druck. Vor über einem halben Jahrhundert wies Paul Philippi auf die Neuformulierung der Stelle zu Kronstadt darin hin. Sie lautet: „sitam sub monte Coroanam, / Quam prima Europae Christi documenta sequente / sol oriens radiis lustrat proprioribus urbem“. Auf Deutsch: „am Fuße des Berges gelegen Kronstadt, das als erste der Städte Europas, die den Quellen/Urkunden/Zeugnissen Christi folgen, von der heraufziehenden Sonne wirksam erleuchtet wird.“ Die Regel war, dass die Schule erst nach der Kirche reformiert wurde. Honterus hat uns vor fast 475 Jahren gezeigt, dass man das auch andersrum machen kann, man muss die Zeit nur nutzen, immer.