Es ist ein ganz normaler Vormittag im Herbst, als über den Dächern einer brasilianischen Stadt plötzlich eine rosa Wolke auftaucht. In wenigen Sekunden stürzt sie die ganze Welt in eine Katastrophe- denn die Wolke schwebt nicht nur über Brasilien, sondern über dem ganzen Erdball. Wer das Unglück hat, sich draußen zu befinden, verliert innerhalb von 10 Sekunden sein Leben. Gerade in der Nacht davor hatten sich Giovanna und Yago in einer Bar kennengelernt, nun wachen sie nebeneinander in Giovannas Wohnung auf und da die Menschen davor gewarnt werden, ihre Häuser zu verlassen, finden sie sich in der Situation, während des Lockdowns miteinander leben zu müssen. Doch das gemeinsame Leben unter einem Dach dauert viel mehr als gedacht, weil sich die giftige rosa Wolke nicht mehr verziehen will.
Die rosa Wolke (El nuvem rosa) war einer der 12 Filme, die im Wettbewerb des Internationalen Filmfestivals Transilvania TIFF in Klausenburg gezegt wurden. Im Sommer 2021 feierte TIFF sein zwanzigstes Jubiläum. Es war für Filmfans aus dem ganzen Land ein großer Grund zur Freude- endlich konnte man in die Kinosäle zurück, endlich konnte man den ganzen Tag damit verbringen, Leinwandgeschichten zu schauen, endlich hatte man wieder das Gefühl von „es ist wieder, wie es früher war”.
„Ein Film, der von der Corona-Pandemie inspiriert wurde”, würde man über „Die rosa Wolke” denken. Doch die brasilianische Regisseurin Juli Gerbase, die auch das Drehbuch schrieb, erklärte bei dem Publikumsgespräch dass dieses schon im Jahr 2017 beendet war und das die Dreharbeiten bis Ende 2019, kurz vor dem Corona-Ausbruch, stattfanden. „Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen ist rein zufällig”, steht am Anfang des Films auf dem Bildschirm.
Die Realität hat in diesem Fall die Phantasie eingeholt. Andere Filme erzählen Geschichten, die sich wirklich zugetragen haben. Dabei haben sich die Regisseure und Drehbuchschreiber meistens aus Medienberichten inspiriert. Viele dieser Filme haben wieder einmal bewiesen, dass die besten Geschichten nicht immer komplett erfunden sind.
Eine Jubiläumsauflage, die sich der Normalität nähert
TIFF 2020 war eine Corona-Auflage, mit Filmen, die ausschließlich im Freien und deshalb nur am Abend gezeigt wurden, weißen Plastikstühlen, die 1.5 Meter entfernt voneinander standen, ohne internationale Gäste, ohne Parties, ohne Filmvorstellungen um 10 Uhr vormittags, die man mit einem Cafe Latte-Pappbecher genießt. Trotzdem war TIFF im Jahr 2020 eines der wenigen Festivals, das trotz der Covid19-Pandemie stattfand, und dazu hat es viel Mut gebraucht. TIFF 2021 war ddagegen eine Art Rückkehr zur Normalität. Natürlich galt überall Maskenpflicht und die Corona-Regelungen wurden strengstens eingehalten. Doch die diesjährige Auflage erinnerte etwas mehr an die Zeit „vor Corona”.
Sie endete am 1. August, nach zehn Tagen mit vielen Weltpremieren, ausverkauften Kinosälen und einer beeindruckender Zuschauerzahl- über 100.000 Filmfans haben zusammen das 20. Jubiläum von TIFF gefeiert. Laut Organisatoren war es das größte Event, das nach Corona organisiert wurde. Es wurden 179 Filme aus 47 Ländern in 17 Open-Air und Indoor-Veranstaltungsorten gezeigt. Eins der Highlights- eine Veranstaltung, wofür das Festival auch Kritiken erntete- war eine Show des umstrittenen russischen Star-Ballettänzers Sergei Polunin, die beim Bánffy-Schloss aus Bon]ida stattfand. Der schon als Teenager umjubelte Erste Solotänzer des Londoner Royal Ballet war einst mit 19 Jahren der jüngste Solist in der Geschichte des renommierten Hauses. Doch dann machte er Schlagzeilen mit seiner Neigung zu Drogenparties und fiel immer wieder mit homophoben und sexistischen Aussagen auf. Ebenfalls umstritten ist das Putin-Tattoo auf seiner Brust. Ein weiteres Highlight war das Treffen mit dem ungarischen Filmregisseur István Szabó, dessen Spielfilm Mephisto 1982 mit dem Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet wurde. Doch die größten Highlights des TIFF suind und bleiben die Filme.
Ein visionärer Film
„Die rosa Wolke” ist nicht nur ein Science Fiction-Film über eine Weltkatastrophe. Er zeigt nicht nur die Art und Weise, wie man im Lockdown leben muss- die beiden Protagonisten kommunizieren mit Freunden und Familie übers Internet und erhalten Nahrung am Fenster durch ein von der Regierung installiertes Liefersystem- es ist hauptsächlich ein Film über eine Liebesbeziehung. Das frischgebackene Lockdown-Paar durchlebt anfangs ungewollt alle Phasen einer Beziehung, von der Leidenschaft über die Verantwortung bis hin zur Langeweile, Trennung und Wiedervereinigung. Dabei sind die beiden sehr verschieden: Yago bemüht sich um eine positive Sichtweise, Giovanna fühlt sich gefangen und depressiv, ihr gemeinsames Kind, das zwei oder drei Jahre nach dem Erscheinen der rosa Wolke geboren wird, hat nie eine andere Welt erlebt, kann also auf seine eigene Weise glücklich sein. So wie ein Tier, das im Zoo geboren wurde und nie die Freiheit kennengelernt hat.
Nach allen Erfahrungen der zwei letzten pandemischen Jahre schaut man den Film natürlich mit anderen Augen an- man kann sich besser in die zwei Protagonisten hineinversetzen, denn die Gefühle, die sie durchmachen- Ungewissheit, Stress, Wut, Angst, Sehnsucht nach dem alten Leben- kennen alle seit März 2020. Science Fiction kann manchmal unglaublich visionär sein und man fragt sich, wie der Film beim Publikum angekommen wäre, hätte es nicht die Pandemie gegeben.
Viele Fragen bleiben offen
Doch manche Science Fiction-Story kann unglaubwürdig wirken. Während des Films fängt man an, sich allerhand Fragen zu stellen. Manche Leute waren im Auto oder Bus auf dem Weg zur Arbeit, als die rosa Wolke am Himmel erschien. Andere waren in der U-Bahn, im Supermarkt, im Flugzeug, in einem Cafe, beim Arzt, in der Schule- was ist mit ihnen während der über 10 Jahre Lockdown passiert? Sind sie alle gestorben? Und was genau passiert mit den Toten? Bleiben sie auf der Straße liegen? Was passiert mit denen, die während dieser 10 Jahre zu Hause sterben? Es sterben wohl keine mehr Menschen in Verkehrsunfällen, aber aus anderen Gründen- sie bekommen ihre Medikamente nicht mehr, sie können nicht mehr ins Krankenhaus eingeliefert werden, Tausende nehmen sich wegen Depressionen in einer derartigen Situation ihr Leben. Eine andere Frage, die offen bleibt: wie wird die Nahrung an die Menschen gebracht, wenn niemand aus dem Haus darf? Wer produziert alle Gegenstände, die sich die Leute nach Huse liefern lassen, wenn der ganze Erdball in jahrelangem Lockdown ist? Wie kann man dann arbeiten und Geld verdienen, wie kann man durch Medien die Leute informieren, wie kann man nur von zu Hause aus Apps entwickeln? Wie funktionieren noch Elektrizität und Gas, wenn der Planet stillsteht und niemand aus den eigenen vier Wänden hinaus darf? Vielleicht wäre es eine Lösung für das Drehbuch gewesen, wenn die Wolke nur über Brasilien geschwebt hätte. Dann hätten vielleicht die anderen Staaten versucht, dem Land zu helfen und es wäre ein wenig glaubwürdiger gewesen, dass die Leute jahrelang mit Essen versorgt sind.
Gewinnerfilm über Drang nach Freiheit
Vom Gefangensein und von dem Drang nach Freiheit, aber auch von der Liebe erzählt, diesmal auf poetische Weise, auch ein anderer Wettbewerbsfilm. „Der Walfänger” (The Whaler Boy) in der Regie von Philipp Yuryev.
Leshka lebt in einem kleinen Dorf auf der Bering-Straße, einer Meerenge zwischen den Kontinenten Asien und Amerika. Wie die meisten Männer in seinem Dorf ist der Teenager ein Walfänger und führt ein monotones Leben in diesem Kaff am Ende der Welt. Ein gefangener Wal ist hier immer ein Ereignis, nicht nur für die Nahrung, sondern auch für die Identifikation als Volk. Es ist eine uralte Tradition, denn nur durch die Wale wurde diese Küste seit Jahrtausenden zu ihrer Heimat. Doch nicht nur mit uralten Traditionen leben die Dorfbewohner. Auch das Internet ist hier eingedrungen, und die männliche Bevölkerung trifft sich jeden Abend, um auf einer Erotik- Webseite tanzenden Camgirls zuzusehen. Für die meisten Männer ist es nur ein Zeitvertreib, aber Leshka nimmt es ernst. Er verliebt sich in eins der Videochat-Mädchen, das in Detroit lebt und beschließt eines Tages, sie in Amerika zu besuchen. Ein waghalsiger Entschluss, auf Grunde dessen er auch seinen besten Freund verliert. Doch nichts scheint Leshka im Wege zu stehen, durch die tosenden Gewässer der Beringsee macht er sich auf die Suche nach der Liebe seiner Lebens. Ob er es bis nach Detroit schafft, ist eigentlich unwichtig. „Der Walfänger” ist einer der besten Coming-of-Age Filme der letzten Jahre. Es begeistern und beeindrucken vor allem die Musik, die Atmosphäre im Walfängerdorf, die Poesie, die durch die Bilder geschaffen wird, das Ende, das auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann- der Film wurde zu recht mit der großen Transilvania-Trophäe ausgezeichnet.
Rumänischer Film nach einer wahren Begebenheit
“Denn wahrlich ich sage euch: So ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so mögt ihr sagen zu diesem Berge: Hebe dich von hinnen dorthin! so wird er sich heben; und euch wird nichts unmöglich sein” (Matthäus 17:20). Die Bibel lehrt uns, dass Glauben Berge versetzen kann. Doch nicht nur Glaube, sondern auch Liebe kann so stark sein, dass nichts unmöglich scheint.
„Der Vater, der Berge versetzt” lautete der Titel einer Fernsehnachricht, die beim Sender PROTV im Februar 2009 ausgestrahlt wurde. Ende November des Vorjahres waren ein Student und seine Freundin tödlich im Bucegi-Gebirge verunglückt. Die beiden wollten auf dem Wanderweg „Jepii Mici” bis zur Caraiman-Hütte gelangen, haben sich im Nebel verirrt und den Bergrettungsdienst angerufen. Doch konnten sie nicht gefunden werden und man ist davon ausgegangen, dass sie von einer Lawine erwischt wurden. Der Vater des Studenten, ein ehemaliger Informationsdienst-Offizier aus Bukarest, hatte die Hoffnung bis in die letzte Sekunde nicht aufgegeben. Da er mit den Leistungen der Bergretter nicht zufrieden war, hat er eine eigene Rettungsaktion auf die Beine gestellt. Ebenfalls hat er Spezialisten des Rumänischen Informationsdienstes (SRI) zu Hilfe gerufen. Diesen gelang es, die Handys der beiden Bergsteiger zu orten. Auch drei Monate seit dem Verschwinden seines Sohnes ging der Vater noch Tag für Tag an den Ort, wo die Handys (und vermutlich auch die Leichen) unter meterhohem Schnee lagen und schaufelte stundenlang. Er wollte seinen Sohn finden und begraben. Währenddessen wurde in Bukarest sein zweiter Sohn aus einer neuen Ehe geboren.
Von der Geschichte des Vaters, der Berge versetzt zeugen heute noch ein paar Zeitungsartikel, die im Internet zu finden sind. Die PRO-TV Nachricht und diese Artikel waren eine Inspirationsquelle für den Regisseur Daniel Sandu. Sein zweiter Spielfilm, „Tata mut? mun?ii”, wurde bei TIFF im Rahmen einer rumänienweiten Tournee gezeigt. Am PROTV-Titel hat er nur eine Änderung vorgenommen: statt „Der Vater, der Berge versetzt“, „Vater, der Berge versetzt“. Somit ist alles viel persönlicher und der Titel scheint aus der Perspektive des toten Sohnes.
Eine ausgezeichnete schauspielerische Leistung
Eigentlich gibt es fast nichts Erfundenes in Daniel Sandus Film. Der Vater hatte wirklich zu Hause im Fernseher eine Nachricht über zwei Touristen gesehen, die im Bucegi-Gebirge verschollen sind. Dass es sich um seinen eigenen Sohn handelt, ahnte er damals noch nicht. Alles hat sich wirklich so begeben: das Treffen mit seiner Exfrau im „Silva“-Hotel aus Bu{teni, die Konflikte mit den Bergrettern, die schwangere neue Ehefrau, die SRI-Mitarbeiter, die ein Zelt vor dem Hotel aufgeschlagen haben und illegale Methoden verwenden, um die Verschwundenen zu orten. Sogar der letzte Anruf der jungen Frau beim Bergrettungsdienst ist zu 100% rekonstruiert. Es wurde an denselben Orten gefilmt, wo sich die traurige Geschichte zugetragen hat. Und auch im Gebirge wird die Geschichte realitätstreu nachkonstruiert. Als Zuschauer erkennt man das Hotel Silva und die Drahtseilbahn dahinter, man erkennt den Weg „Jepii Mici”, der steil hinaufgeht, erinnert sich, dass man hier auch im Sommer über brökelnde Steine tritt und sich dauernd an Ketten und Kabeln festhalten muss, um nicht auf der feuchten Erde auszurutschen und in die Schlucht zu fallen. Man erinnert sich auch an die vielen Kreuze von Wanderern, die hier ihr Ende gefunden haben: der Weg ist in den Wintermonaten gesperrt, eigentlich hätten die zwei Studenten dort nichts zu suchen gehabt.
Die Hauptrolle spielt Adrian Titieni. Es ist für den Schauspieler eine weitere Vater-Rolle nach „Bacalaureat”, „Ilegitim” und einer Reihe von Kurzfilmen, doch es ist mit Sicherheit bis jetzt seine beste. Als Zuschauer tut er einem zuerst Leid, dann findet man ihn für ein paar Sekunden sympathisch, dann nervt er mit seinem kleinbürgerlichen Hauptstadtleben und mit seiner viel jüngeren Ehefrau, später hasst man ihn plötzlich, versteht nicht wieso er egoistisch handelt (als die Mutter einer anderen verschollenen Touristin ihn um Hilfe bittet, leht er ab, obwohl sich das Mädchen erst seit ein paar Stunden im Gebirge verirrt hatte, ihre Überlebenschancen also sehr groß waren), ist ergriffen, mit welcher Zielstrebigkeit er handelt, trauert mit ihm, ist wütend weil er sich manchmal so aufführt wie Menschen, die glauben dass alles auf der Welt käuflich ist, ist empört, weil er fordert, dass andere ihr Leben riskieren. Und zum Schluss bewundert man ihn für seinen Willen, nicht aufzugeben- auch als klar wird, dass sein Sohn keine Chancer mehr hat, macht er einfach weiter und sieht es als seine Verantwortung, ihn zu finden- ob tot oder lebendig. Und man versteht, dass fast jeder Vater auf der Welt vielleicht so gehandelt hätte. Beim Publikumsgespräch nach der Outdoor-Projektion großen Hof der Universität für Landwirtschaft und Tiermedizin (USAMV) erzählte der Regisseur Daniel Sandu dass die Dreharbeiten, die Anfang 2020 in Bu?teni und dem Bucegi-Gebirge stattgefunden haben, von der Corona-Pandemie gestoppt wurden. Man hatte aus Helikoptern und Dronen und in großer Höhe bei meterhohem Schnee gefilmt. Doch nur ein Tag ging verloren. Der letzte Drehtag im März 2020 war zugleich der erste Lockdown-Tag. „Vater versetzt Berge” ist atemraubender Thriller und Kunstfilm zugleich. Er zeichnet das Portrait eines Mannes, der in seinem Leben Fehler über Fehler begangen hat. Aber etwas ist ihm gelungen: seinen Sohn zu lieben.
Auch andere rumänische Filme sind aus der Realität inspiriert. Mohnfeld/Câmp de maci in der Regie von Eugen Jebeleanu (der den Publikumspreis, sowie den Preis für die beste Regie erhielt) basiert auf einer wahren Begebenheit: 2018 wurde die Projektion eines Films mit LGBT-Thematik im Bukarester Bauernmuseum von einer Gruppe Rechtsextremisten und Ultranationalisten verhindert. Unidentifiziert/Neidentificat (Regie Bogdan George Apetri) handelt von einem Polizisten, der aus Rache eine grausame Tat begeht- über ähnliche Fälle berichten unzählige Zeitungsartikel.
Die rumänischen Filme, die bei TIFF gezeigt wurden, kommen demnächst alle in den nächsten Wochen in die Kinos. Manche von ihnen kann man schon jetzt sehen, obwohl der Sommer eigentlich keine gute Zeit für Filmpremieren ist. Die Produzenten fürchten sich aber, dass der Herbst und die vierte Corona-Welle eine neue Schließung der Kinosäle bringen könnte. Hoffentlich wird das nicht so sein. Während der Corona-Pandemie haben viele Leute ihre Zeit mit Netflix verbracht. Doch die diesjährige Jubiläumsauflage von TIFF hat wieder einmal bewiesen, dass der beste Ort, Filme zu schauen, noch immer der Kinosaal ist.