Unter freiem Himmel

Ein Rückblick auf die 19. Auflage des Internationalen Filmfestivals „Transilvania” (TIFF)

Eine kühle Nacht im August. Der Himmel über dem Sportplatz des Báthory-Lyzeums in Klausenburg ist mit Sternen übersät. Ein Flugzeug fliegt vorbei, es befindet sich auf dem Sinkflug. An das Dröhnen der Turbinen während der Filmvorstellungen haben sich die Zuschauer schon gewöhnt. Auch an die Möwen, die über ihren Köpfen kreisen, während auf der riesigen Leinwand Filme spielen. Auch an die weißen Plastikstühle, 1.5 Meter voneinander entfernt und relativ unbequem. Auch daran, dass man auch bei Freiluftveranstaltungen eine Schutzmaske tragen muss. Und dass jedem Zuschauer die Temperatur gemessen wird. An die Kälte und daran, dass es nur ab 21.30 Uhr Vorstellungen gibt. Am vorletzten Abend des Festivals wird auf dem Sportplatz des Báthory-Lyzeums der Wettbewerbsfilm „Babyteeth“ gezeigt, das Regiedebüt der australischen Regisseurin Shannon Murphy. Es geht um die 15-jährige krebskranke Milla, die sich in den 23-jährigen Gelegenheitsdealer Moses verliebt und ihn zu sich nach Hause nimmt, um ihn ihren Eltern vorzustellen. Anna und Henry – eine ehemalige Konzertpianistin und ein Psychiater in Midlife-Crisis – sind alles andere als begeistert vom neuen Freund ihrer Tochter. Doch sie bemerken schnell, dass der extrem unperfekte Moses ihrer kranken Tochter gut tut. „Babyteeth“, ein Film über Sehnsucht und Lebensfreude, wurde am übernächsten Tag zum großen Gewinner der TIFF-Trophäe gekürt und war auch der diesjährige Publikumsliebling – was relativ selten geschieht. 

Eine Auflage, zu der es viel Mut gebraucht hat 
Lange Warteschlangen vor den Kinokassen, übervolle Säle, Parties bis zum Morgengrauen und viele internationale Gäste – das gab es in diesem Sommer beim Internationalen Filmfestival „Transilvania“ nicht. Morgens um 10 Uhr mit einem Kaffeebecher aus Pappe in die erste Vorstellung beim Victoria-Kino gehen – das ging auch nicht. Fünf oder sechs Filme pro Tag sehen – das war auch unmöglich, da die Vorstellungen unter freiem Himmel erst um 21.30 Uhr starteten. Doch die Freude an den Leinwandgeschichten ist gleich groß geblieben. Die 19. Auflage des TIFF war eines der wenigen Festivals in Rumänien, das trotz der Covid19-Pandemie stattfand und das einzige europäische Filmfestival, das unter diesen Bedingungen live und nicht online stattfand. Damit dieser Traum zur Wirklichkeit wurde, hat es viel Mut gebraucht. 

Die ursprünglich für den Junianfang geplante 19. Auflage wurde verschoben und fand  zwischen dem 31. Juli und dem 9. August statt. „Wir haben versprochen, dass wir uns in diesem Sommer wiedersehen und werden unser Versprechen halten. Es wird eine TIFF-Auflage  mit Urlaubs-Stimmung sein, mit Outdoor-Veranstaltungen und einer Menge Überraschungen“, haben die Organisatoren auf Facebook angekündigt. Ob die Kinosäle in Rumänien bis August öffnen werden, war zu dem Zeitpunkt noch unklar. Bis zum Schluss war nur eine der vielen Varianten möglich, und zwar waren alle Filme ausschließlich unter freiem Himmel zu sehen, mit Einhaltung der 1,5-Meter-Distanz zwischen den Stühlen. In 14 Outdoor-Veranstaltungsorten, davon zwei außerhalb Klausenburgs, wurden zehn Tage lang 157 Filme aus 49 Ländern gezeigt, wobei die meisten Veranstaltungen ausverkauft waren. TIFF hat auch in dieser schweren Zeit bewiesen, dass die Menschen Geschichten brauchen. Das TIFF in diesem Jahr war komplett anders. Auf jeden Fall viel ruhiger als in den Vorjahren. „Für viele Zuschauer war es wie eine Eskapade in die Normalität, eine Form von Normalität, die wir seit Langem nicht mehr fühlen konnten“, meinte Festivaldirektor Tudor Giurgiu. 

Es gab trotzdem Highlights 
Horrorfilme mitten im Wald, ein Faust-Kinokonzert in einem Dorf außerhalb Klausenburgs, der Gewinner der diesjährigen Berlinale, der auf der größten Feilichtleinwand Rumäniens am Unirii-Platz ausgestrahlt wurde, ein ergreifender rumänischer Dokumentarfilm über 5 Frauen, die seit 50 Jahren befreundet sind, viele  Filme über die moderne Familie, viele sympathische Antihelden, interessante Diskussionen beim „Casa Tiff“  und wie in jedem Jahr leckerer Spinat mit Spiegeleiern im Restaurant neben dem (jetzt geschlossenen) Victoria-Kino - das waren nur ein paar der vielen Highlights der diesjährigen Auflage. Was alle Teilnehmer zu schätzen wussten, war die gute Organisation und die strikte Einhaltung aller Sicherheitsregeln zur Eindämmung der Verbreitung der Covid-Pandemie. Über die Leinwandgeschichten, die in diesem Jahr zu sehen waren, in der nächsten Ausgabe der KR. 

 

Ein Klausenburg wie in Fellini-Filmen 
Zu TIFF gehört auch der offizielle Werbespot, der in jedem Jahr mit großem Interesse erwartet wird. Dieses Mal war es eine Schwarz-Weiß-Hommage an den italienischen Filmemacher Federico Fellini, dessen Filme die Fantasie, den Traum und die Sinnlichkeit feiern und der im Januar 100 Jahre alt geworden wäre. Im Werbespot geht es, genau wie in Fellinis Meisterwerk Achteinhalb, um einen jungen Regisseur in der Schaffenskrise. Es erscheinen Paparazzi, Pfarrer mit Covid-19-Schutzmaske, Faschingsgestalten und Oldtimer-Autos, die Stimme des Regisseurs hat einen transilvanischen Akzent, es wird auch ein wenig von der Pandemie gesprochen und Klausenburgs Altstadt wird zur romantischen Filmkulisse. Im offiziellen Poster von TIFF 2020 erkennt man die rumänische Schauspielerin Monica Bârl²deanu, die in schwarzem Abendkleid mit tiefem Dekollete in den Brunnen vor dem Klausenburger Casino steigt- genauso wie Anita Eckberg in die Fontana di Trevi im Film La dolce vita. 

Übrigens wurde der Klassiker La dolce vita (1960) an einem Abend, bei Sonnenuntergang, auf der größten Freilicht-Kinoleinwand Rumäniens, die sich auf dem Klausenburger Hauptplatz befindet, ausgestrahlt. Eine schönere Kulisse, um den vielleicht bekanntesten Film Fellinis zu sehen, gibt es wohl kaum. Besonders für Nostalgiker, die den Film zu seiner Zeit in einem der kommunistischen Kinos in Rumänien gesehen haben und für die Tickets stundenlang Schlange stehen mussten, war es ein Highlight des Festivals. 

Familiengeschichten und viele Anti-Helden 
Obwohl begeisterte TIFF-Fans in diesem Jahr keine Überdosis an Filmen nehmen konnten (man konnte höchstens zwei Filme pro Abend zu sehen), war die Auswahl sehr gut. 

Viele aufwühlende Dramen behandelten das Thema Familie. So wie der diesjährige Gewinnerfilm und Publikumsliebling Babyteeth, in dem die Figuren extrem unperfekt sind, man sie aber trotzdem liebt. Ein großer Anti-Held ist der Vater der jungen Milla, der fast eine Affäre mit der schwangeren Nachbarin beginnt. Man kann seine Angst spüren, dass die Beziehung mit seiner Frau nach dem Tod ihrer Tochter zugrunde gehen wird und trotzdem fühlt man auch die Liebe, die diese unperfekte Familie zusammenhält. 

Antihelden gibt es auch im dänischen Wildland, ein anderer Wettbewerbsfilm. Die junge Ida muss zu ihrer Familie aufs Land ziehen, nachdem ihre alleinerziehende Mutter, eine Ex-Prostituierte, in einem tragischen Autounfall ums Leben kommt. Innerhalb der eigenen vier Wände lebt die Familie (die Schwester von Idas Mutter, Bodil, ihre drei Söhne und ihre Partnerinnen) ein liebevolles und ruhiges Leben. Doch sehr schnell merkt Ida, dass ihre Familie in kriminelle Geschäfte verwickelt ist. Die Tante Bodil ist das weibliche Äquivalent eines Mafia-Bosses, wobei ihre drei Söhne Jonas, David und Mads ihre Gehilfen sind. Draußen ist das Leben der Familie, die in erster Linie Pfandleihe betreibt, geprägt von Verbrechen, Drogen und Gewalt. Obwohl Ida ein moralisches Gewissen besitzt, wird sie nach und nach in die kriminellen Geschäfte der Familie verwickelt und gerät in einen Strudel von fatalen Folgen. Wie weit ist man bereit, zu gehen, um das Beste für seine Verwandtschaft zu tun? 

Unperfekte Beziehungen 
Über das Zerbrechen von Beziehungen innerhalb einer Familie erzählt auch das packende Drama „Madre“ des spanischen Filmemachers Rodrigo Soro-goyen, das auf einer Leinwand  im Hoia-Wald  zu sehen war. Es ist die Weiterentwicklung eines Kurzfilms mit demselben Namen, der im Jahr 2019 für den Oscar nominiert wurde. Elena erhält einen Telefonanruf von ihrem sechsjährigen Sohn, der ihr mitteilt, dass er sich auf einem Strand in Frankreich verirrt hat und seinen Vater nicht mehr finden kann. Es ist das letzte Mal, dass Elena mit ihrem Sohn spricht. Seit dem Tag verschwindet der kleine Junge spurlos und wird nie mehr gefunden. Zehn Jahre später trifft Elena auf demselben Strand, auf dem ihr Sohn verschwunden ist, den Teenager Jean. Zwischen den beiden entwickelt sich eine sehr starke Beziehung, die von vielen nicht verstanden wird. Auch der bulgarische Film „Sister“ (Schwester) handelt über unperfekte Familienverhältnisse. Rayna verkauft zusammen mit ihrer Schwester und ihrer Mutter Tonfiguren.

Vorbeikommenden Touristen erzählt sie verschiedene Geschichten, mit denen sie mehr Geld verdienen kann. Zum Beispiel, dass ihre Familie brutal von der Mafia ermordet wurde. Sie tut es nicht unbedingt für das Geld, sondern mehr, weil das Leben in der bulgarischen Provinz ohne diese Lügenmärchen viel langweiliger sein würde. Bis der Freund ihrer großen Schwester eingesperrt wird. Rayna eilt ihm zur Hilfe und erfährt dabei einiges über ihre Mutter, was lieber ungesagt geblieben wäre. „Sister“ ist ein ungewöhnliches, bildsprachlich eindrucksvolles Frauenportrait, das zu Recht mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde. 

Ein ergreifender Film über Hinrichtungen im Iran 
Ein Highlight der diesjährigen TIFF-Auflage war der iranische Film „There is no evil” in der Regie von Mohammed Rasoulof, ein heimlich gedrehter Film über Hinrichtungen, der im Februar den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Der Iran ist laut Amnesty International mit rund 500 regis-trierten Exekutionen pro Jahr für rund die Hälfte aller verifizierbaren, vollstreckten Todesurteile weltweit verantwortlich, darunter auch gegen Minderjährige und für absurde Delikte wie Blasphemie oder Homosexualität.Der Film besteht aus vier Teilen, die inhaltlich von der Todesstrafe zusammengehalten werden. Im ersten Teil sieht man einen  liebevollen Familienvater in seinem Alltag. Er holt seine Tochter von der Schule und seine Frau von der Arbeit ab, sie besuchen zusammen die Großmutter, gehen am Abend Pizza essen und bereiten sich vor, am Wochenende auf eine Hochzeit zu gehen. Dann sieht man ihn nachts, auf dem Weg zur Arbeit, wie er in seinem Auto vor der grünen Ampel stehen bleibt, als wolle er nie am Arbeitsplatz ankommen. In den letzten Sekunden erfährt man auch, wo er arbeitet. Der Mann ist ein Henker. Im zweiten Teil sieht man einen Soldaten, der es ablehnt, während seines Wehrdienstes eine Hinrichtung zu vollstrecken. Ihm gelingt es, zu fliehen, aber es ist klar, dass man ihn fangen wird. In einigen Gefängnissen im Iran werden die Todesstrafen von Wehrdienstleistenden vollstreckt. Als Belohnung erhalten sie einige Tage Urlaub.  So auch der Soldat, der zum Geburtstag seiner Freundin fährt und ihr einen Heiratsantrag macht. Vorher musste er einen zum Tode Verurteilten erhängen. Es stellt sich heraus, dass dieser Tote ein guter Freund seiner neuen Familie war. Im vierten und letzten Teil muss ein Mann seiner Tochter erklären, warum er den Wehrdienst verweigert hat, obwohl es der Familie viele Nachteile eingebracht hat. Der Film wirft wichtige Fragen auf: Wie ist es möglich, vor dem Hintergrund der Tyrannei und Unterdrückung Verantwortung für unser Handeln zu übernehmen? Kann man es trotzdem vermeiden, unmoralische Befehle zu befolgen? 

Familie sind die Freundinnen 
Die mit großem Interesse erwarteten rumänischen Filmtage brachten viele einheimische Spiel- und Dokumentarfilme. Mihai Chirilov, künstlerischer Leiter von TIFF, meinte zu Beginn des Festivals, dass 2019 kein gutes Jahr für rumänische Filme war. Trotzdem war es ein Jahr mit hervorragenden Dokumentarfilmen. So wie „Das Puppenhaus“ in der Regie von Tudor Platon. Letzten Sommer hat der junge Regisseur seine 70-jährige Großmutter und ihre vier Freundinnen in einem Ferienhaus in der Nähe von Râmnicu Vâlcea gefilmt. Die Frauen treffen sich jeden Sommer hier, um ein paar Tage zusammen zu verbringen und über alles mögliche zu plaudern - von Kosmetik-Geheimtipps bis zu Männerproblemen. Letzten Sommer feierten sie das 50-jährige Jubiläum ihrer Freundschaft. Die fünf munteren Frauen kann man nur beneiden. Dass eine Freundschaft so lange hält, wünscht sich jeder Mensch. In einer Zeit, in der man Leute, die am anderen Ende der Welt leben, wann immer per WhatsApp, Facetime oder Skype erreichen kann, ist es paradoxal schwerer, eine Freundschaft zu pflegen, als früher, wenn man mit Briefen und Telefonaten auskommen musste. Ein emotionaler Film, der zeigt, dass Freunde eine zweite Familie sind. Nicht nur für den Mut, die diesjährige Auflage unter Corona-Bedingungen zu organisieren und nicht nur für die Qualität der Filme war TIFF 2020 bemerkenswert. Das Schönste an dieser Edition war, dass sie in eine Welt, in der nichts mehr so ist wie es früher war, einen Hauch Normalität gebracht hat.