Wie verarbeiten wir die Geschichte in der Kunst?

Dialog mit der Regisseurin Carmen Lidia Vidu

Carmen Lidia Vidu (rechts im Bild) interviewte für das Projekt „Menschen. Zu verkaufen“ Heinz-Günther Hüsch (auf dem Bildschirm) der seitens der Bundesrepublik Deutschland mit dem kommunistischen Regime in Rumänien den Abkauf von rund 220.000 Rumäniendeutschen verhandelte. Vidu erzählte, dass sie sich für das Treffen so gründlich vorbereitet hatte, dass sie sogar wusste, woher der Teppich in Hüschs Zimmer stammte. Im Bild ist links Ionela-Andreea Ghețe vom Deutschen Kulturzentrum in Kronstadt zu sehen, Mitveranstalter des Events beim Gespräch im Apollonia-Kulturzentrum. Foto: Orsolya Balint

Im Januar und Februar hat das Demokratische Forum der Deutschen in Kronstadt mehrere Veranstaltungen zum 80. Jahrestag der Deportation der Rumäniendeutschen in die ehemalige UdSSR organisiert. Dialoge mit Nachkommen von Verschleppten, mit Historikern und Künstlern, sowie eine Ausstellung haben einen tieferen Einblick in ein Thema geboten, das vielen noch unbekannt ist. Sie wurden in rumänischer Sprache durchgeführt, um auch der rumänischen Mehrheitsbevölkerung einen Einblick in diesen Abschnitt der Geschichte zu bieten. Die Veranstaltungen haben eine Analyse der Beziehung zwischen zeitgenössischen künstlerischen Phänomenen und aktuellen sozio-politischen, kulturellen, zivilgesellschaftlichen, humanitären und staatsbürgerlichen Fragen geboten.

Wie erinnern wir uns an Geschichte?
Die Veranstaltungsreihe „NachBild - 80 Jahre seit der Deportation der Siebenbürger Sachsen in die UdSSR“ bot auch ein Treffen mit der Regisseurin Carmen Lidia Vidu am 7. Februar. Die Künstlerin, die durch ihre Multimedia-Theateraufführungen auf sich aufmerksam machte, sprach im Apollonia-Kulturzentrum darüber, wie sie Archivmaterial und Erfahrungsberichte von Menschen verarbeitet, um historische Ereignisse auf anschauliche und verständliche Weise dem Publikum nahezubringen. 

In einem Dialog über dokumentarische und politische Kunst mit der Kulturmanagerin Ionela-Andreea Ghe]e und Vertretern des Deutschen Kulturzentrums, Mitveranstalter der Reihe, schilderte Vidu auch, wie sie persönliche Geschichten von Schauspielern verbindet und daraus eine Brücke von Toleranz, Dialog und Akzeptanz für die Öffentlichkeit schafft. In ihren unterschiedlichen Projekten setzt sie Archivmaterial und individuelle Erinnerungen in ganz unterschiedlichem Maße ein, um dem breiten Publikum neue Per-spektiven zu bieten und ihm zu ermöglichen, sich im Gesehenen wiederzufinden. 

Theaterproduktion über den Freikauf von Rumäniendeutschen 
Im Projekt „Menschen. Zu verkaufen“ beispielsweise, einer Produktion des Deutschen Staatstheaters Temeswar aus dem Jahr 2022, hat das Archivmaterial Vorrang. Zwei Jahre lang hat Carmen Lidia Vidu über den vermutlich größten Menschenhandel des 20. Jahrhunderts intensiv recherchiert und erfahren, dass zwischen 1969 und 1989 rund 220.000 Rumäniendeutsche an die Bundesrepublik Deutschland verkauft wurden. Sie las unzählige Archivmaterialien aus dem Archiv des Nationalrats für die Erforschung der Unterlagen der Securitate (CNSAS), führte Interviews mit u.a. Germina Nagâ], Vorsitzende des CNSAS und mit Zeitzeugen und Betroffenen. Sie interviewte auch den einzigen offiziellen Verhandlungsführer der Bundesrepublik Deutschland,  Heinz-Günther Hüsch, der für den Kauf der Rumäniendeutschen zuständig war. Das Thema ist in Deutschland noch relativ unbekannt. „Ich habe mich hauptsächlich auf den Handel von Menschen konzentriert. Sie wurden wie Vieh verhandelt und das wollte ich in den Vordergrund bringen. Die Tatsache, dass eine Bevölkerung, die hier über 800 Jahre lang gelebt hat und Kirche, Schule, Fernsehsendungen etc. hatte, in 25 Jahren verschwand, das hat mich interessiert.“

Persönliche Erfahrungen von Schauspielern im Vordergrund 
In „Tagebuch Rumänien“, einer anderen Produktion des Deutschan Staatstheaters Temeswar, verwendet die Regisseurin nur wenig Archivmaterial, um die Geschichte zu verarbeiten. Das Stück ist auf persönliche Erfahrungen von Schauspielern verschiedener Generationen aufgebaut, die die Revolution von 1989 erlebt haben. Ihre Geschichten, die sie miteinander verband, bieten dem Zuschauer mehrere Perspektiven auf die Geschehen von 1989, andere als die offizielle, die im Fernsehen präsentiert wurde. Das hilft dem Publikum, sich eine eigene Meinung zu dem historischen Moment zu machen und ihn vielleicht besser zu verstehen. „Ich hatte einfach das Bedürfnis, mit den Schauspielern zu reden, weil ich fühle, dass ich meine Generation und die Gemeinschaft besser kennen muss. Ich brauchte den anderen und ich fühlte, dass ich selbst irgendwie verschwinden muss.“ Der Dialog mit den Protagonisten, die Verarbeitung deren Aussagen, die gemeinsame Lektüre aller Texte – denn nur zusammen, als kollektive Geschichte, funktioniert das Stück – und letztlich das Schreiben des Drehbuchs halfen Carmen Lidia Vidu, Menschen und historische Ereignisse besser zu verstehen. „Es war auch eine Arbeit an mir selbst“, sagte sie. „Mit den ersten Interviews, die ich geführt habe, hat meine Bürgerkultur und meine politische Bildung begonnen.“ Dass sie erst mit 35 Jahren damit begann, findet sie sehr spät im Vergleich zur jungen Generation, die sehr informiert, engagiert und aktiv ist. 

Der Künstler muss zur Bildung des Publikums beitragen
Deswegen will sie, dass ihre Stücke auch zur Bildung anderer beitragen sollen. So macht sie die Schauspieler zu urbanen Helden, die Missbrauch, Romantismus, Historie, Schwäche in einem chaotischen Land erlebten und durch ihre Auftritte zum Nachdenken und Dialog anzuregen. „Das Publikum soll nach dem Theaterbesuch  zu Hause sein eigenes Tagebuch schreiben und verstehen, dass es nicht alleine ist, die Leute sollen sagen können, ich habe mich in dem und jenem wiedergefunden.”

Carmen Lidia Vidu sucht immer ein breites Publikum, das ihre Botschaft verstehen soll. Daher werden ihre Werke nur in staatlichen Theatern und in großen Sälen gezeigt, wo Zuschauer kommen, die Komödien mögen, nicht etwa politisches, historisches, dokumentarisches oder anthropologisches Theater suchen. „Ich suche immer den Zugang zu 250 bis 600 Leuten, die offen sind, etwas Neues zu sehen und eventuell sich nach der Veranstaltung Fragen zu stellen.“ Kultur soll Emotionen vermitteln, aber vor allem den Zuschauer einladen sich über die Beziehung zum anderen Fragen zu stellen und zu versuchen, ihn zu verstehen, um eben die Geschichte und somit auch die Gegenwart zu verstehen.
„NachBild – 80 Jahre seit der Deportation der Siebenbürger Sachsen in die UdSSR“ wurde vom Demokratischen Forum der Deutschen in Kronstadt und dem Deutschen Kulturzentrum Kronstadt mit Unterstützung des Apollonia Kulturzentrums in Kronstadt, des Goethe-Instituts Bukarest und dem Departement für Interethnische Beziehungen in Bukarest organisiert.