Prolog
Es gibt Orte auf dieser Welt, von denen man immer schon geträumt hat und von denen man eine eher märchenhafte Vorstellung hat, weil sie in einem zu leben und zu bestehen scheinen wie eine große, unstillbare Sehnsucht. Man verortet deren Gegenstand tatsächlich ins eigene Innere, hortet ihn dort immer in der Hoffnung, dass man eines schönen Tages, wenn man vielleicht schon älter und im Ruhestand ist, wenn die persönliche Freiheit und Selbstständigkeit so groß geworden sein wird, dass man nur noch sich selber etwas schuldig bleibt, aber doch nichts mehr zu verlieren hat, vielleicht eine Reise an jenen ersehnten Ort unternehmen wird.
Ein solcher Sehnsuchtsort ist für mich Patagonien. Schon als Kind, als ich Brehms Tierwelt immer wieder durchblätterte und mir die verschiedenen Tierabbildungen ansah, darunter auch Seelöwen, Pinguine, Guanakos und Flamingos, die alle an der Atlantikküste Patagoniens beheimatet sein sollten, stellte ich mir Patagonien als einen Landstrich vor, der nur in der Vorstellung mancher Menschen und im besten Fall in der Literatur existiert, ein Abenteuerland eben, ein Land der Herausforderungen und der Mutproben, wie es in Büchern steht. Und ich träumte davon als Abenteurer und Forscher dieses erdachte, ersehnte Patagonien zu durchstreifen..
Ganz unerwartet erhalte ich vor über einem Jahr zu später Stunde die Einladung, eine Argentinienreise mitzumachen. Der Reiseplan enthält zwei Schwerpunkte: Buenos Aires als Ausgangs- und Endpunkt der Reise und ein Teil der östlichen Küste Patagoniens um Puerto Madryn. Als ich von Patagonien höre, stockt mir regelrecht der Atem, sprachlose Erregung überkommt mich und nachdem ich meine Sprache wiederfinde, zögere ich nicht lange zuzusagen. Ich muss mich überzeugen, dass es Patagonien nicht nur in meiner Vorstellung gibt.
Moloch Buenos Aires
Die Reisevorbereitungen dauern länger als gedacht, es gibt gute und weniger gute Gründe dafür, aber so kann man länger der Reise entgegenfiebern und sich da-ran erfreuen, dass die Monde, die Wochen und schließlich die Tage bis zur Abreise stetig weniger werden. Endlich ist es am 12.April 2024 soweit. Wir, meine Freundin und ich, fliegen von Frankfurt aus dreizehn Stunden lang direkt nach Buenos Aires, wo wir am Morgen des 13.04. erwartet werden. Claudio heißt der Fahrer, den die Reiseagentur für uns bestimmt hat. Er wird uns im Verlauf der zwei ersten Tage in der Stadt zu den anvisierten Sehenswürdigkeiten bringen, zumal die Stadt uns mit Regen empfängt. Immerhin ist auf der südlichen Halbkugel Herbst, selbst wenn noch das meiste an Vegetation grün und lebendig anmutet. Wir sind jedoch gut gerüstet, haben wetterfeste und mit Kapuze ausgestattete Jacken dabei und können, sobald wir das Zimmer im NH Lancaster an der Avenida Cordoba, eine der schnurgeraden Hauptschlagadern der argentinischen Hauptstadt, bezogen haben, einen ersten Erkundungsgang unternehmen. Der Obelisco, das Teatro Colón, der Torre de los Ingleses (der Englische Turm), die Plaza 25 de Mayo, die Florida-Straße mit der Galería Pacífico, die Esmeralda-Straße ziehen einen bald in ihren Bann: Ein Mix, eine Melange von kolonialer Grandezza und Gediegenheit mischt sich mit pragmatischer Protzigkeit der Wolkenkratzer in amerikanischem Stil. Dazwischen aufgelassene Lokale, leer stehende Bauten wie etwa jener, in dem vor wenigen Jahren noch das Harrod´s seine anspruchsvollen Kunden empfing. Traditionelle Steakhäuser sind geschlossen, dafür gibt es jede Menge neumodischer Cafés und Grillbuden, nicht selten von Asiaten betrieben. Trotz des unfreundlichen Wetters durchstreifen wir die Straßen sowie den Park Libertador General San Martín vor dem Englischen Turm. Wir gehen unter Pinien, Palmen, Ginko-Bäumen und Fici, die Luft ist nicht nur wegen des Regens feucht, man meint in einem Treibhaus zu wandern. Auf der Florida-Straße stehen überall Schwarzhändler herum, Männer und Frauen, die uns Pesos anbieten wollen im Tausch mit Dollars. „Cambio, cambio!“ rufen sie und manch einer stürzt auf uns zu, dass nur eine schroffe Geste der Abwehr sowie ein strenges Wort auf Spanisch den Mann zurückzuweisen vermag. An Hauseingängen, Gebäudevorsprüngen aber auch mitten auf dem Bürgersteig liegen Obdachlose wie Mumien in schwarze Plastikfolien gehüllt und schlafen. Ein Moloch, dieses Buenos Aires, sagt meine Freundin, sie scheint enttäuscht, und ich stimme dem zu, sage aber auch, dass mir das alles nicht fremd sei. Es erinnert mich an manch rumänisches Stadtbild der Endachtziger und der Neunziger Jahre. Familiäres liegt hier in der Luft, ich fühle mich keineswegs haltlos wie vor Jahren während meines ersten Aufenthalts an der Ostküste der USA.
Nach einem so langen Flug und bei dem Gedanken, dass die Freundinnen zuhause vielleicht doch kopfüber auf ihrer Halbkugel zeitweilen, möchte man sich mit einem argentinischen Rindersteak und einem Glas roten Weines stärken. Das El Establo liegt in unmittelbarer Nähe des Hotels und entspricht in jeder Hinsicht unseren Erwartungen. Das Bife de lomo, zu deutsch Rinderfilet, schmeckt herb würzig, ist saftig und zergeht uns regelrecht auf der Zunge. Dazu passt einzig und allein der Rote von Malbec, der seinerseits eine herbe, leicht ölige Würze aufbringt. Als Nachtisch empfiehlt sich Flan – die argentinische Variante der Karamellcreme, auch als crem˛ de zah˛r ars in der rumänischen Gastronomie bekannt – mit Dulce de leche, der sehr süßen Milchcreme. Schon nach wenigen Stunden weiß ich: Buenos Aires riecht nach gegrilltem Rindsfilet und nach in Milch karamellisiertem Zucker. Später kommt der Geruch von Empanadas, von Seetang und menschlicher Misere hinzu.
Nekropolis von Recoleta
Es ist Sonntag in Buenos Aires und es regnet weiterhin. Claudio ist um 9.30 Uhr zur Stelle und fährt uns ins Stadtviertel Recoleta zum ersten Friedhof der Stadt, der 1822 von Prospero Catelin, einem französischen Ingenieur, entworfen worden ist und zwar im Garten der Basílica Nuestra Senora del Pilar. Der Recoleta-Friedhof erstreckt sich über fünf Hektar und besteht aus größeren und kleineren Mausoleen und Pantheons, die die Gebeine zahlreicher argentinischer Persönlichkeiten bergen. Am wichtigsten jene von Eva (Evita) Perón. Der Friedhof präsentiert sich uns wie eine eigenständige Stadt: Die Grabmäler reihen sich wie die Häuser auf den Straßen schnurgerade aneinander, bilden Straßen, die sich im rechten Winkel kreuzen, kaum Platz frei lassen für Pflanzen, denn alles besteht aus Stein – aus Marmor oder Granit. Hin und wieder vermag das eine oder andere Unkraut in brüchig gewordenem Mörtel zunächst zaghaft, dann immer kräftiger zu sprießen, sich zum wuchernden Laubwerk auszubreiten und fröhlich die Wand des einen oder andern Grabmals zu überwuchern. Alle Todeshäuser sind fest verschlossen. Vorhängeschlösser oder schwere Riegel, mitunter schmiedeeiserne Gittertüren sorgen dafür, dass der Tod hinter Schloss und Riegel bleibt. Es ist, als fürchte man, er könne jederzeit aus der Krypta steigen und einen anfallen. Und gleichzeitig ist jede einzelne dieser steinernen Festungen ein Zeichen der Verehrung und der Verherrlichung, sodass sich der Tod einem hier zweifach verkörpert: als Schreckensgespenst und als ehrwürdiger Patriarch und König. Viele Grabmäler sind mehrstöckig, das sieht man: Wie in Schubläden stehen Urnen und Särge liegen übereinander, der Tod lässt hier auf barock opulente Weise seine Majestät zelebrieren. Und am Ende gelingt es ihm, aus jedem noch so fest verschlossenen Verlies zu entkommen, er stiehlt sich unbemerkt heraus und legt sich sachte über seine steinerne Stadt wie eine zärtliche Liebkosung, wie ein bergendes Tuch aus Samt und Seide und verkörpert sich in aller Stille als Regent dieser eigenartigen Nekropolis.
Wieder in der lebendigen Stadt, darin der Regen immer noch nicht nachgelassen hat, müssen wir die Besichtigung des großen Marktes im San-Telmo-Viertel absagen. Stattdessen fährt Claudio uns in das Boca-Viertel, wo Fussball und Tango regieren. Dort tobt sich das Leben aus, wie es das am besten kann. Vieles erinnert an das in manchen amerikanischen Filmen vermittelte Bild über Lateinamerika. In gewisser Weise ein Déjŕ-vu, ein Bereits-Gesehenes, Erlebtes…
Patagonia de mis suenos
Am Montag, dem 15.04., fliegen wir nach Trelew, von den Einheimischen Trel-iu oder Trele-u gesprochen, wo uns ein anderer Fahrer, unser Guide durch Patagonien, erwartet. Er stellt sich als Washington vor, spricht spanisch und englisch, trägt einen leicht angegrauten Kinnbart und in jedem Ohrläppchen gleich zwei Ringe. Er hat die Statur eines Bären, reißt unser Gepäck an sich und geleitet uns zu seinem Wagen: einem Duster von Dacia-Renault. Eine knappe Stunde fahren wir bis Puerto Madryn – mit Betonung der ersten Silbe auszusprechen –, unserem eigentlichen Ziel an der Küste des Atlantik. Von hier beginnt die patagonische Abenteuerreise. Washington erzählt davon, dass die Stadt im 19. Jahrhundert von Einwanderern aus Wales gegründet worden sei und dass sie sich am Ende des 20. Jahrhunderts sehr stark entwickelt hat durch die Aluminium-Fabrik und andere Industrieobjektive, aber auch durch die gute Lage direkt am Atlantik und den Fischfang. Puerto Madryn, sagt er noch, ist der wichtigste Ort am nördlichen Rand von Patagonien. Er sagt Patagonia und betont die dritte Silbe, betont das O ganz stark, dass man allein schon daraus seine Bindung an und seine Liebe für diesen Landstrich erkennen kann. Es gebe eine gute und eine schlechte Nachricht, sagt er uns dann augenzwinkernd. Die gute: Wir haben am folgenden Tag, dem Dienstag, frei und können also tun und lassen, was wir wollen. Die schlechte: Wir können erst am Mittwoch den Ausflug nach Punta Tombo zu den Pinguinen unternehmen, denn – wen wundert es? – auch hier in Patagonia regnet es und die Zufahrtswege sind aufgeweicht, unpassierbar... Noch wissen wir gar nicht, dass es eine weitere Programmänderung geben wird.
Angesichts der Aussicht aus dem Fenster unseres Zimmers im Hotel Península Valdés können wir alles verschmerzen, alles akzeptieren: Der Ozean liegt uns regelrecht zu Füßen, atmet regelmäßig und ruhig ein und aus wie ein schlafendes Tier, das jemand versehentlich an die Kette gelegt hat. Von der Strandpromenade aus sehen wir, wie weit die Ebbe das große Wassertier zurückgedrängt hat, und der Himmel beugt sein Gesicht zum Ozean nieder, lässt sich in dessen Umarmung fallen und wechselt morgens erst seine Farbe, wenn auch das Wasser sich in den Morgen und den neuen Tag räkelt und hustend und prustend Anstalten trifft, sich im Rhythmus des Windes zu bewegen.
Unser freier Tag in Puerto Madryn beginnt wie der Vorabend geendet hatte: von Regen- und Windböen zerrüttet. Das hält uns allerdings nicht davon ab, einen ersten Spaziergang an den Strand zu wagen. Die Ebbe hat die Uferlinie des Ozeans um gute zehn oder mehr Meter hinausgeschoben und jede Menge Tang, Muscheln und winziger Krebstiere freigelegt, worüber sich Möwen, Seeschwalben und andere unsern Bachstelzen ähnelnde Vögel sich freuen. Trotz der heftigen Böen mutet der Ozean ruhig an und ich lege die Hand auf den feuchten Sand dort, wo der Ozean am Ufer leckt wie eine Schmusekatze. Er fühlt sich gar nicht kalt an und so zieht es mich immer wieder an seinen Strand, wenn hin und wieder das Gewölk aufreißt und die Sonne scheint. Und nachdem es nach 18 Uhr schlagartig dunkel wird, zeigt sich der halbe Mond am Himmel und spiegelt sich selbstverliebt in der schwarzen Oberfläche des schon wieder schlummernden Atlantik. Kurz nachdem wir unser Merluza-Filet mit gegrilltem Gemüse im Hotel- Restaurant bestellt haben, wird uns mitgeteilt, unsere Reiseagentur habe angerufen. Es gäbe eine weitere Änderung unseres Programms. Aufgrund der Regenfälle in Punta Tombo sei die Pinguinkolonie am Mittwoch für Besucher noch geschlossen und wir würden daher die Península Valdés besichtigen. Auch gut.
Washington trifft dementsprechend am kommenden Morgen, dem 17. April, um 10 Uhr in der Hotellobby ein, um uns abzuholen. Mit dem Duster, meint er, kommen wir überall, oder beinahe überall ohne Schwierigkeiten durch, obwohl die Schotterstraßen der Península noch sehr aufgeweicht sein müssen trotz der Sonne, die nun auch in Puerto Madryn wieder scheint. Und so beginnt unsere Fahrt durch die patagonische Pampa. La Pampa, sagt Washington, sei weit mehr als eine karge Einöde. Es gibt eine grüne Pampa und eine dürre Pampa und es gibt einen Distrikt mit diesem Namen und einen Landkreis und schließlich gibt es LA PAMPA, womit er eine Lebensform und eine Lebenshaltung meint, das merken wir an dem Leuchten seiner Augen und an dem kurzen Anhalten seines Atems. La Pampa ist Privatbesitz und Washington weist auf die beinahe unscheinbaren Drahtzäune, die am Rand des Fahrweges zu sehen sind. Dort drinnen, irgendwo kurz vor dem Horizont, dem man in der Pampa in schnurgerader Linie entgegenfährt und den man dann doch nie erreichen kann, steht eine Estancia, eine Ranch und das Gelände der Estancia erstreckt sich über viele Kilometer, auf denen Tausende von Schafen und sicher auch Rinder grasen. Man kann sie manchmal sehen, wenn sie nicht gerade von den Büschen getarnt werden. Menschen leben nur ganz wenige auf den Estancias, sie behelfen sich mit Pferden und Hunden und warten auf die Zeit der Schur, dann ziehen Gauchos durch die Pampa von einer Estancia zur nächsten. Jetzt ist allerdings keine Schurzeit und so sehen wir rechts und links des Fahrweges das Gras, die Sträucher, die Dünen der Pampa und deren Farben: Grün, Braun, Gelb und Grau bilden ein eigenartiges Gewebe, darin trotz aller Kargheit Leben pulsiert. Heftiger Wind fegt über die Gräser und rüttelt an unserm Duster, sodass Washington sein Lenkrad ganz fest halten muss...Wir sehen Herden von Merinoschafen, Gruppen von Guanakos, ein vereinzeltes Mara sowie ein etwas verstörtes Stinktier, dessen Partner von einem Gefährt zu Tode gefahren worden war und nun am Wegrand liegt. Immer wieder fahren wir durch tiefe Wasserlachen, die sich mitunter zu kleinen Teichen und sogar Seen ausweiten. Und in einem solchen kaffeebraunen See mitten in der Pampa stehen zwei Flamingos und werfen einen rosa schimmernden Schatten auf die krause Wasseroberfläche.
Man hatte uns im Naturschutzzentrum am Eingang zur Península zwar gewarnt, dass die Fahrt zu den Klippen, wo Pinguine und Seelöwen zu sehen seien, nicht ganz leicht sein würde, aber angesichts des stabilen Geländewagens ermutigt man uns zur Besichtigung. Washington ist zuversichtlich und dazu ein geschickter Fahrer. Auch ist er äußerst agil und konzentriert zugleich. Jedes Mal, wenn er rechts oder links von dem Schotterweg tierische Bewegungen wahrnimmt, stößt er einen kurzen Pfiff zwischen den Zähnen hervor: „Look to the right! Mire a la derecha! Look to the left!Mire a la izquierda!“ ruft er dann und wir schauen...Oft hält er an, damit wir fotografieren können. Schließlich hält er auf einer Anhöhe, auf der Pinguine zu sehen sein sollten. Ich bekomme die Wagentür kaum aufgemacht, so heftiger Wind weht hier am Rand der Halbinsel unmittelbar über dem Ozean, den wir zwar nicht sehen, aber hören können. Wir müssen uns an einander festhalten, uns kraftvoll gegen den Wind stemmen, um nicht mitgerissen zu werden, als wir vor uns auf dem Rand der Böschung eine kleine Gruppe Pinguine erblicken! Ungerührt putzen sie ihr Gefieder, watscheln von einer Seite auf die andere, scheinen keinerlei Schwierigkeiten mit dem Sturm zu haben. An einer weiteren Stelle gibt es einen Holzsteg den Hang zum Ozean hinunter zu einer Aussichtswarte, von der eine schlafende Gruppe Seelöwen unten am Strand zu sehen ist. Das Tosen des wildgewordenen Ozeans stört die Tiere in keinerlei Weise und wir sind viel zu weit von ihnen entfernt, als dass wir sie stören könnten. Am Rand der Welt kann der Mensch nur still werden, in sich gehen und ehrfürchtig den Kopf neigen vor der Majestät der Natur.
Im kleinen Café trinken wir Kaffee und essen Alfajores, die argentinische Variante des österreichisch-ungarischen Ischlers, mit viel dulce de leche und süßer Schokoglasur rundum. Da der nördlichste Punkt der Halbinsel, Punta Norte, geschlossen und unerreichbar ist, machen wir uns auf den Rückweg, halten kurz in Puerto Pirámides, wo der Ozean sich wieder etwas zahmer gebärdet und zu einem kurzen Strandspaziergang einlädt.
Befrackt und beherzt
Das Highlight unserer Patagonien-Reise ist die Begegnung mit den Magellan-Pinguinen am Punta Tombo weit südlich von Puerto Madryn. Zu Hunderten nisten sie an der Küste und ein gutes Stück in die Pampa hinein. Die Jungvögel haben bereits die Kolonie verlassen, haben sich in den Ozean geworfen um nach Brasilien in wärmeres Wasser zu schwimmen und zu überwintern, während die erwachsenen Pinguine noch in der Mauser stecken, zumindest einige von ihnen. Sie warten da-rauf, dass alle das neue, das Wintergefieder, ihre glänzenden schwarzen Fräcke angelegt haben für die große Reise. Geschäftig putzen sie ihr Sommerkleid mit den Schnäbeln ab, sie stehen einzeln oder in Gruppen herum, nicken immer wieder einander mit den Köpfen zu und dann hören wir tatsächlich ihre Rufe. Es sind die Männchen, die trompetenartige Töne von sich geben: Mit weit nach hinten gebeugtem Kopf stoßen sie ihren Ruf nach der Partnerin aus und mahnen zum Aufbruch. Es ist eine Art Dreiklang, den sie heiter und kraftvoll ausposaunen. Possierliche Tiere, sagen die Menschen, so niedlich, so putzig, irgendwie menschlich...Weit mehr haftet ihnen an, meine ich: Ich sehe und fühle ihre Festigkeit und Lo-yalität, ihre Kraft und Unerschrockenheit, ihre Beherztheit, ihre Zähigkeit und Zielstrebigkeit, die ihr Tiersein am Ende weit mehr als menschlich erscheinen lässt. Der Anblick der Kolonie mitten in der Pampa und am Ufer des Ozeans, am Rand der Welt verschlägt uns schlicht und einfach die Sprache, er lässt unsere Herzen schneller schlagen und drängt uns dazu, einander stumm zu umarmen. Eine Ursehnsucht wurde mir erfüllt und eine neue in die Seele gepflanzt. Washington sagt uns, dass wir seine letzten Touristen der Saison seien, dass Punta Tombo am Ende der Woche geschlossen werde. Werde ich es je wissen, ob die Pinguine bald nach unserem Besuch Punta Tombo verlassen würden? Werde ich je wissen, ob die Pinguine mich so erinnern würden, wie ich sie?...
Zurück in Buenos Aires bleibt noch einiges zu sehen. Zum einen der Puerto Madero, heute ein kleiner Hafen, vielmehr eine Anlegestelle für kleinere und größere Privatboote, die am Kai vor Anker liegen. Früher aber war es der große Hafen am offenen Ozean, wo die Einwandererschiffe anlegten und die Passagiere nach wochenlanger Überfahrt endlich an Land gehen konnten, eine ihnen fremde, neue Welt gutgläubig und mit hoffnungsvoller Erwartung betretend. Heute stehen noch das ehemalige Zollgebäude sowie die langgestreckten Lagerhallen, wo man sein ganzes mitgebrachtes Hab und Gut zeitweilig unterstellte und gegebenenfalls auf das nächste Schiff aufladen ließ, um gleich wieder nach Europa zurückzufahren. Zum andern steht eine Tango-Show am letzten Sonntagabend auf unserem Programm. Die Show findet in einer Tango-Bar im Viertel San Telmo statt. Ursprünglich in Caminito im Boca-Viertel von italienischen und spanischen Einwandern erfunden, wurde der Tango von Männern getanzt. Später entstehen die Tangoschulen, Frauen tanzen mit und man übt den Sommer über auf den Straßen von Buenos Aires zum Genuss der Passanten. Das Tanzspektakel auf der kleinen Bühne in der Bar begeistert die Zuschauer nicht minder. Als Zwischenspiel sozusagen gibt es eine Folkoreeinlage mit bolivianischer Musik und dem Auftritt eines Tanzakrobaten. Eine Hommage an Evita darf auch nicht fehlen. Musikalisch wird alles von Klavier, Bandoneon und Geige virtuos und mit viel Gusto begleitet. Nicht zuletzt suchen wir die Evangelische Kirche in der Esmeralda-Straße auf, die Kirche steht zwischen zwei Hochhäuser eingepfercht da. Man wird belehrt, dass es sich um die Kirche handelt, die von der eingewanderten deutschen Gemeinschaft gegründet worden sei. Gottesdienste finden in spanischer Sprache statt. Im Innern verbirgt sich doch noch etwas vom deutsch-lutherischen Geist und wie im Traum sehe ich eine Gruppe weiß gekleideter Mädchen und Jungen in schwarzen Anzügen am Tag ihrer Konfirmation. Sie knien vor dem Altarkreuz und nehmen den Segen des Geistlichen entgegen, der sicher von irgendwo aus Deutschland über den Atlantik entsendet worden ist.
Epilog
Am 23. April treten wir unsern Rückflug an. Patagonien und die endlose Pampa rücken in den halb realen, halb imaginären Raum erlebter Erinnerung. Und wenn ich manchmal mitten in der Nacht erwache und nicht genau weiß, ob ich mich noch auf Reisen oder schon zuhause befinde, scheint Patagonien eher dem Reich von Traum und Einbildung anzugehören, darin sich die wundersamen Wesen genannt Magellan-Pinguine mit ihrem Dreiklang-Trompetenstoß in meiner Erinnerung verkörpern und mich auf meinen Streifzügen und Spaziergängen begleiten, wie früher mein Hund. Dann weiß ich, dass es Patagonia und la Pampa gibt, denn ich bin wirklich dort gewesen.