Es ist immer wieder eine Freude zu sehen, dass neue Projekte unter Ihrem Namen entstehen – seien es Dokumentarfilme, Bildbände, Zeichnungen oder Bücher. Vor genau zwei Jahren fand unser letztes Gespräch statt, über Ihren Film über Zipser, die letzten ihrer Art, der dieses Jahr noch an zwei Tagen in Berliner Kinos gezeigt wird. Glückwünsche dazu! Jetzt aber widmen wir uns Ihrem neuesten Werk, dem Bildband „Maramuresch. 101 Foto/Geschichten aus den Waldkarpaten Rumäniens“.
Ihr Herz schlägt für das Bewegtbild. Verbessern Sie mich, falls ich falsch liege. Dennoch ist vor Kurzem Ihr zweiter Bildband aus dem Druck gekommen. Warum Fotografie? Was unterscheidet die Fotografie vom Film, abgesehen von den offensichtlichen Aspekten, Bewegung und Geräusch?
Während man im Film das Herz schlagen hören und sehen kann – um Ihr schönes Bild aufzugreifen –, muss man bei einer Fotografie nach innen lauschen, um etwas zu hören. Es ist ein völlig anderer Zugang. Die Fotografie verdichtet eine Geschichte in einem einzigen Bild oder einer Serie von Bildern – eine Herausforderung, die von der Kraft der Komposition und der Atmosphäre lebt.
Doch es gibt noch einen weiteren Unterschied: Während der Film den Betrachter mit sich zieht, ihn durch die Geschichte führt und den Zeitfluss bestimmt, bleibt die Fotografie stehen. Sie hält einen Moment fest, gibt dem Betrachter die Freiheit, sich Zeit zu nehmen, zu verweilen und genauer hinzusehen. In einer Welt, in der Bilder oft in Sekundenschnelle konsumiert werden, liegt darin eine besondere Chance – vorausgesetzt, das Bild weckt Neugierde, spricht an und hält den Blick fest.
Bei meinem neuen Bildband füge ich dieser Erfahrung eine weitere Ebene hinzu: Zu jeder der 101 Fotografien gibt es eine Kurzgeschichte. Durch diese literarische Dimension entsteht im Kopf des Betrachters ein neuer Film – einer, der sich mit seinem eigenen Blick auf das Bild verwebt. Der Erfolg des ersten Bands, 101 Fotogeschichten aus den Waldkarpaten der Maramuresch, hat mich ermutigt, diesen Weg weiterzugehen.
Worüber erzählen Ihre Texte? Was zeigen Ihre Bilder? Was versuchen Sie durch sie auszudrücken?
Die Kurzgeschichten sind Gedanken, die mir beim Betrachten meiner eigenen Fotografien in den Sinn kommen – Erinnerungen an den Moment der Aufnahme, aber auch Stimmungen, Gefühle und unerwartete Emotionen, die das Bild in mir freisetzt. Manchmal überrascht mich das selbst, als würde das Foto längst Vergessenes zurückholen und es für einen Augenblick wieder lebendig machen.
Hier spielt die Zeit eine entscheidende Rolle. Sie verändert unsere Wahrnehmung und lässt Erlebtes in einem neuen Licht erscheinen. Es war für mich eine besondere Erfahrung, mich den Bildern auf diese Weise zu nähern. Manche schienen mir auf den ersten Blick vertraut und ließen mich doch lange nach der passenden Geschichte suchen. Andere wiederum lösten sofort eine Erzählung aus, die sich kaum in wenige Worte fassen ließ.
Diese Texte gehen über das hinaus, was die Fotografien auf den ersten Blick zeigen. Denn nicht nur ich als Fotograf habe mich verändert – auch die Menschen, die ich einst porträtierte, sind nicht mehr dieselben. Manche von ihnen sind nicht mehr da. Noch stärker als beim ersten Band ist mir bewusst geworden, wie sehr sich die Maramuresch gewandelt hat. Bilder, die nur wenige Jahre alt sind, wirken heute fast wie Zeitkapseln, als gehörten sie einer längst vergangenen Welt an.
Diese Vergänglichkeit hinterlässt Spuren. Manch-mal berührt sie, manchmal schmerzt sie – und auf eine Weise, die sich kaum in Worte fassen lässt, fließt all das in die Texte mit ein.
Zu welcher Art von Fotografen zählen Sie sich? Zu denen, die auf den perfekten Moment warten und dann abdrücken, das Risiko des Verpassens miteinbezogen, oder finden Sie, jeder Augenblick ist es wert, von Ihnen abgelichtet zu werden?
Ich will es so sagen: Ich warte nicht geduldig auf den perfekten Moment, verborgen wie ein Angler, der stundenlang auf den einen großen Fang hofft. Stattdessen bewege ich mich mitten im Strom des Lebens, mit offenen Augen und wachem Gespür, überzeugt davon, aus der Fülle des Augenblicks das Wesentliche he-rauszufiltern.
Fotografie ist für mich keine Jagd, sondern ein Akt des Einfühlens. Sie erfordert Aufmerksamkeit, Lebenserfahrung und vor allem Empathie. Es gibt Situationen, die fast zwangsläufig zu einem guten Bild führen – als wäre man nicht Schöpfer, sondern nur das Medium, durch das der Moment sich selbst offenbart. Doch dafür braucht es Intuition. Man darf nicht zögerlich sein, nicht zu sehr im Hintergrund verschwinden. Man muss den richtigen Augenblick erkennen, ihn verstehen und ihn greifen.
Mich fasziniert Authentizität. Ich suche Menschen, die wissen, was sie tun – und warum sie es tun. Denn nur wer echt ist, wer in seinem Tun eine innere Überzeugung trägt, hinterlässt Spuren, die sich in einem Bild festhalten lassen.
Warum Schwarz-Weiß-Fotografie, wenn man aus Ihren Fotografien erahnen kann, welch bunte Szenen sich vor der Kamera abgespielt haben müssen?
Grundsätzlich sehe und erlebe ich die Welt in Farbe – und so fotografiere ich sie auch. Meine Bilder sind Momentaufnahmen des Lebens, so wie es mir begegnet: voller Farben, voller Stimmungen, voller Licht. Farbe ist für mich ein wesentlicher Bestandteil der Wahrnehmung, ein Element, das Emotionen transportiert und eine Szene in ihrer ganzen Lebendigkeit widerspiegelt.
Doch es gibt Projekte, in denen Farbe zurücktreten muss, damit das Wesentliche in den Vordergrund rückt. So auch bei diesem Bildband von Fotogeschichten. Hier geht es nicht um das Spektakel der Farben, sondern um Tiefe, um Ausdruck, um die Essenz eines Augenblicks. Ohne die Ablenkung durch Farben wird der Blick frei für das Spiel von Licht und Schatten, für Kontraste, Strukturen und Formen. Diese Reduktion verstärkt die emotionale Wirkung des Bildes, lässt es zeitloser erscheinen und verleiht ihm eine größere Intensität.
Gleichzeitig fordert Schwarz-Weiß den Betrachter heraus. Ohne die gewohnte Farbigkeit bleibt mehr Raum für individuelle Interpretation. Jedes Bild lädt dazu ein, genauer hinzusehen, sich auf Nuancen einzulassen, eigene Gedanken und Assoziationen mit hineinzubringen. Es entsteht eine stille Zwiesprache zwischen Bild und Betrachter, die weit über das rein Sichtbare hinausgeht.
Schwarz-Weiß ist also keine bloße Stilfrage, sondern eine bewusste Entscheidung. Eine, die Tiefe schafft, Stimmungen verdichtet und den Ausdruck eines Moments auf eine Weise verstärken kann, die Farbe manchmal nicht zulässt.
Sind die Fotografien, die Sie machen, eher Zeitzeugen von Geschehnissen im Sinne von Dokumentarbildern, oder liegt die emotionale Aufladung der Fotografie an vorderster Stelle?
In meiner Arbeit spielt sowohl die visuelle als auch die emotionale Wirkung eines Fotos eine Rolle – doch zweifellos mit einem stärkeren Fokus auf das Emotionale. Ein Bild soll nicht nur gefallen, sondern berühren, nachdenklich machen, vielleicht sogar irritieren. Erst wenn es eine Reaktion auslöst, wenn es den Betrachter innehalten lässt, kann es auch wirklich überzeugen.
Mein Ziel ist es, genau diesen Moment des Innehaltens zu schaffen – den Augenblick, in dem jemand nicht einfach weiterblättert, sondern genauer hinsieht. Und wenn das gelingt, dann öffnet sich die Tür zur zweiten Ebene meiner Arbeit: zur Geschichte hinter dem Bild. Die Neugier, die das Foto weckt, soll den Betrachter auch für den begleitenden Text empfänglich machen.
Gerade das Wechselspiel zwischen Fotografie und Kurzgeschichte macht für mich den Reiz dieses Projekts aus. Mit jeder neuen Seite lade ich dazu ein, gedanklich und visuell hin und her zu springen, sich auf zwei unterschiedliche, aber eng miteinander verwobene Erzählweisen einzulassen. So entsteht eine Dynamik, die weit über das hi-nausgeht, was ein einzelnes Bild oder eine alleinstehende Geschichte bewirken könnte.
Letztlich verlasse ich damit die klassische Rolle des Fotografen, der sein Bild für sich sprechen lässt. Stattdessen trete ich in einen Dialog mit dem Betrachter – einen Dialog, den es ohne dieses Zusammenspiel von Bild und Text so nie gegeben hätte.
Wie reagieren Menschen, wenn sie merken, sie werden fotografiert? Gibt es da einen Unterschied zwischen Menschen, die auf dem Land oder in den Bergen leben, und denen aus der Stadt? Wurden Sie schon mal aufgefordert, Fotografien zu löschen?
Wenn man Menschen mit Offenheit begegnet, erhält man nicht die ausweichenden, abwehrenden Reaktionen, die man vielleicht erwarten würde. Im Gegenteil: Gerade in ländlichen Gegenden ist die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen, deutlich größer. Hier haben die Menschen mehr Zeit, mehr Interesse an einem echten Gespräch. Sie sind neugieriger, offener – und vor allem geben sie mehr von sich preis.
Mich zieht es dorthin, wo das Leben noch unmittelbarer, noch unverfälschter ist. In die entlegenen Regionen, in die Berge, dorthin, wo Rumänien noch so ursprünglich ist, wie es vielerorts längst nicht mehr ist. Je höher ich steige und je tiefer ich in diese Landschaften eintauche, desto herzlicher werden die Begegnungen. Die Menschen verbergen sich nicht hinter Fassaden, sie haben nichts zu verstecken – und vor allem verstecken sie sich nicht selbst.
Aus einem einfachen Gespräch entsteht schnell Vertrauen. Vielleicht liegt es daran, dass ich als Fremder keinen Argwohn erwecke, sondern vielmehr Neugier. Meine Bemühung, Rumänisch zu sprechen, wird oft mit ehrlicher Freude aufgenommen. Sie schätzen es, dass sich jemand aus der Ferne die Mühe macht, zu ihnen zu kommen, sie zu sehen, ihnen zuzuhören.
Noch nie hat mich einer dieser Menschen gebeten, ein Foto zu löschen oder sich auf sein Recht am eigenen Bild zu berufen. Vielleicht, weil sie es nicht gewohnt sind, misstrauisch zu sein. Vielleicht, weil sie mit Fotografen bisher keine schlechten Erfahrungen gemacht haben. Genau deshalb ist es mir so wichtig, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ich will ihnen nicht nur respektvoll begegnen, sondern ihnen auch eine Stimme geben – eine Stimme, die gehört wird und nicht in Vergessenheit gerät.
Kommen wir mal zurück zum Text. Wie entstehen diese Texte? Vom reinen Betrachten der Bilder, aus der Erinnerung oder entspringen sie Ihrer Fantasie?
Ehrlich gesagt entstehen die Texte ganz natürlich – sie fließen einfach aus mir heraus. In der Maramuresch habe ich rund 100.000 Fotografien gemacht, und ich spüre intuitiv, welche davon mich zu einer Geschichte inspirieren. Jedes Bild trägt einen verborgenen Code in sich, eine eigene Sprache, die ich zu entschlüsseln versuche. Ich übersetze seine visuelle Botschaft in Worte und bringe sie zu Papier.
Für mich ist dieser Prozess dann gelungen, wenn zwischen Bild und Text ein Gleichgewicht entsteht – wenn sich das Foto auf der rechten Buchseite und die Geschichte auf der linken gegenseitig ergänzen, ohne dass eines das andere überstrahlt. Der Text darf nicht hinter der Ausdruckskraft des Bildes verblassen, aber auch das Foto soll nicht nur Illustration sein. Es geht um eine Harmonie zwischen Sehen und Lesen, um eine Verbindung, die beide Ebenen zu einem neuen, tieferen Erleben zusammenführt.
Zweimal 101 sind 202. Das ist die Zahl der Fotografien, die bisher in Ihren beiden erschienenen Bänden veröffentlicht wurden. Wenn Sie an die vielen Jahre zurückdenken, in denen Sie die Waldkarpaten bereist haben und all die Fotografien, die dabei entstanden sind, was schätzen Sie, wie viele derartige Bildbände könnten zukünftig das Licht der Welt erblicken?
Die 101 ist für mich mehr als nur eine Zahl – sie hat etwas Offenes, etwas Spielerisches, fast Erzählerisches. Sie klingt nach einer Einladung, nach einer unerwarteten Zugabe, als würde hinter der letzten Seite noch eine weitere Geschichte warten. Vielleicht eine, die erst später erzählt werden will.
Ich glaube an das richtige Timing. Seit der Veröffentlichung des ersten Bandes sind viele Jahre vergangen, und das war gut so. Geschichten brauchen Zeit, um sich zu setzen, um Tiefe zu gewinnen. Diesmal klingen sie anders – melancholischer, nachdenklicher. Vielleicht, weil sich die Welt verändert hat. Vielleicht, weil ich mich verändert habe.
Und wer weiß, wie sie in Zukunft klingen werden? Manche Geschichten brauchen Jahre, bis sie gehört werden wollen. Andere bleiben für immer ungesagt. Ich will nichts ausschließen – aber alles hat seine Zeit.