Wenn Zulu-Weisheit aus Südafrika in einem warmen Wohnzimmer in Berlin auf christliche Frömmigkeit stößt, wenn Sprachen, Generationen und Geschlechter verschwimmen, wenn sich Menschen, Tiere und Pflanzen an ihre gemeinsame DNA erinnern und wieder auf das Flüstern ihrer Ahnen hören... Wenn Afrika nicht nur Zukunft ist, sondern auch Gegenwart und Vergangenheit, und manchmal mitten in Deutschland: Baba, Mama, Lindiwe, die Zwillinge Bongi und Mandla, zu Besuch die Großmutter Gogo und Kusine Unathi... Dann kann unsere schmerzensgeplagte Welt beginnen, zu heilen.
Wunden gibt es im Großen wie im Kleinen: Lindiwe, das „Zebramädchen“, halb Zulu-Südafrika, halb deutsch, die Weißfleckenkrankeit im Gesicht. Mama, in Kinderheimen und bei Pflegeeltern aufgewachsen. Baba, lange musste er auf dem Bau arbeiten und die Affengeräusche ertragen, die die Kollegen bei seinem Anblick machten. Bis sie sich trafen und nichts anderes hatten als ihre Jesusgläubigkeit, um sich und den Kindern ein warmes Heim, eine Zuflucht zu bereiten. Gogo und Unathi: Wegen einer seltsamen Krankheit, die immer mehr Menschen erfasst – Grenzkontrollen, Zwangsfiebermessen - können sie vorerst nicht in ihre Heimat zurück. Und das Allerschlimmste: Seit Kurzem fehlt von Khanyi, Lindiwes großer Schwester, jede Spur. Die schöne Khanyi, die anmutige Tänzerin, ist eines Tages im Wald verschwunden. Hinterlassen hat sie Lindiwe nur ein Tagebuch. Statt Khanyi schläft jetzt Unathi im Zimmer bei ihr.
Lindiwe: Ihr Name bedeutet „hier bin ich“. Die Ich-Erzählerin. Lindiwe spinnt ihre Geschichte mit verstörend poetischen Worten, die wie Blumen aus ihrem Mund erblühen oder wie Tränen im Mondschein aus ihren Perlenaugen quellen. Immer wieder zieht es sie in den verbotenen Wald. Den einzigen Ort, an dem sie die Stimme von Khanyi noch hört: Sisi, Sisi! Der Wald zieht sie magisch an. Die Eltern verbieten ihr lange diesen Ort. Schalt wenigstens dein Handy ein, damit wir dich orten können, mahnt Baba. Als Unathi zufällig Khanyis Tagebuch findet, wird sie langsam Lindiwes Vertraute. Doch da ist noch ein Geheimnis, das die beiden Mädchen verbindet...
Wo, wann hat alles begonnen? Das, was mit Khanyis Verschwinden endete. Endete? Oder begann...
War es in Afrika, bei Gogo, bei den Bäumen, bei den Geschichten von den Frauen, die Samen in ihre Haare flochten, als sie weggeholt wurden, versklavt? Weg von den Ahnen, die mit Khanyi zu sprechen begannen, damals, als sie Hyecollin abholen kamen, Unathis Schwester, und an einen geheimen, streng bewachten Ort brachten. Irgendwann spross dann auch Lindiwe ein grünes Moos auf der Wange, sie versteckt es unter einem Pflaster. Immer mehr werden es, denen Blätter oder Äste am Rücken oder aus Wunden quellen. Man beginnt, nach ihnen zu suchen, die Kriterien: Temperatur zu niedrig und Puls unter 55. Kontrollen in der Schule. Einer nach dem anderen verschwindet...
Lindiwe liest: „Wie wollen wir über die Erde reden?“ Das fragte Rihanna Khanyi über ihr gemeinsames Klimaprojekt in der Schule, so das Tagebuch, das Lindiwe nun Seite für Seite verschlingt. „Ich glaube, der ganze Scheiß hat angefangen, als Menschen aka weiße Männer entschieden, sie befänden sich außerhalb der Natur...“, schreibt Khanyi. „Bacon, Locke, Descartes: Die Denker des Westens lösen sich aus der Natur heraus, um sich über sie zu erheben und damit auch über alle, die in ihr verwurzelt sind. Schwarze Menschen, Indigene...“ „Zu spiri“ für die Schule, sagt Rihanna. Zu extremistisch, urteilt später die Lehrerin.
Lindiwe liest:
Hab ich
das richtig verstanden:
Wir verbrennen jahrmillionenalte Pflanzen,
die sich so tief in der Erde befinden, dass
wir sie nur gewaltsam heraufholen können?
Fossile Brennstoffe, nicht aus
Dinos und den ersten Säugetieren
sondern aus Bäumen und Algen,
den Vorfahren all jener, die uns heute
unseren Atem schenken.
Welche Geister wecken wir damit?
Welchen Zorn ziehen wir da auf uns?
Jahrmillionenalte Pflanzen,
die CO2 gespeichert haben wie sonst was
und dabei denken wir:
Hat zwar noch niemand zuvor gemacht
aber wird schon irgenwie gut gehen.
Echt, jetzt?
Und dann noch das Abholzen der Regenwälder,
uralter Ökosysteme.
Weil sie sich vor allem beim Äquator befinden
haben sie sogar die Eiszeiten überdauert.
Wir aber wollen ihr Ende sein.
Dieses Klimaprojekt zerstört mich komplett.
Abriss.
Nach einem Videocall mit Gogo in Afrika, im Hintergrund sah sie damals noch Hyecollin in der Küche herumflitzen und eben hatte sie Gogo von diesem Klimaprojekt erzählt, notierte Khanyi:
Die Prophetinnen sahen noch etwas
in unserer Zukunft:
das Zeitalter der Blumen.
Viele glauben, dass es ein Zeitalter der Frauen ankündigt
doch es wird vielleicht genau das sein:
Eine Zeit, in der die Pflanzen
wieder ihren Platz
in der Welt zurückfordern
ihren Anteil an der Erde.
Auf ihrer Suche nach Khanyi, das Tagebuch als Wegweiser, stellt Lindiwe fest: Auf einmal sind wir viele! Sie treffen sich nachts unter der 600 Jahre alten Eiche, mit den Füßen verbunden mit dem Myzelium, das den ganzen Wald vernetzt...
Lass sie gehen, sagt Gogo zu Baba, als Lindiwe und Unathi in die Dunkelheit wollen, sie sind jung, unsere Angst darf sie nicht halten. Und sie beginnen, einander zu erkennen, senden einander Botschaften zu, aber mit Duftstoffen, nicht mit Worten. Noch ist ihre Zeit nicht gekommen...
In „City of Trees“ lässt sich die afrodeutsche Autorin und Spoken-Word Künstlerin Chantal-Fleur Sandjon von afrikanischer Mythologie inspirieren. Berückend schön, verstörend schmerzhaft, Worte wie Balsam heilend.
Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.