„Von allen meinen Werken ist mir dieses das liebste“, soll George Enescu über seine Oper „Oedipe“ gesagt haben. Der Musikkritiker und Herausgeber der Erinnerungen Enescus, Bernard Gavoty, zitiert den Komponisten mit den Worten: „Mein eigenes Drama ist in diesen beiden Silben enthalten“. Mit einer exzellenten Aufführung des Meisterwerks in konzertanter Fassung hat am 2. September das Internationale Festival „George Enescu“ die Eröffnung seiner 23. Auflage gefeiert. Das Ensemble, bestehend aus dem London Philharmonic Orchestra, dem Chor der Bukarester Philharmonie „George Enescu“ und dem Radio-Kinderchor, wurde von Wladimir Jurowski, dem neuen künstlerischen Direktor der Festspiele, geleitet.
Inspiriert von einer Inszenierung des „König Ödipus“ von Sophokles auf der Bühne der Comédie Française, hatte Enescu beschlossen, sich dem Stoff zu widmen. Dieses Vorhaben kostete ihn, wie er schreibt, „Monate voller Arbeit und Jahre der Unruhe“ – insgesamt ein Viertel Jahrhundert. Die Premiere in Paris im Jahr 1936, für deren Vorbereitung nicht weniger als 18 Orchesterproben notwendig waren, war ein Erfolg und fand großen Zuspruch unter den Kritikern. Heute hat „Oedipe“ beim Publikum zu Unrecht den Ruf, eine schwer verständliche Oper zu sein. Es handelt sich dabei vermutlich eher darum, dass das Werk selten aufgeführt wird und die Inszenierungen bisher nicht immer gelungen waren, sodass die Kommentare über die Oper bekannter sind als die Oper selbst. Dass diese Musik äußerst nuancenreich, formvollendet und voller Ausdruckskraft ist, bewies das Eröffnungskonzert der Bukarester Festspiele vergangene Woche.
Eine Herausforderung ist auf alle Fälle das, was der Sänger der Titelpartie zu leisten hat. Der französische Bassbariton Paul Gay war geradezu die ideale Besetzung: Nicht nur, dass er den stimmtechnischen Marathon souverän meisterte, sondern er bezauberte mit seinem warmen, darstellerisch flexiblen Gesang und zeigte mit jeder Phrase, dass er die komplexe Partitur bis ins Knochenmark verinnerlicht hatte. Auch den anderen Künstlern der internationalen Besetzung gelang es, Texttreue und Expressivität miteinander zu verbinden und in dieser konzertanten Fassung allein über ihre Stimmen die Handlung und die seelischen Regungen der Opernfiguren wiederzugeben. Großartig war u. a. die Mezzosopranistin Ruxandra Donose als Iokaste. Das szenische Element war in Form von Videoprojektionen mit zahlreichen Anspielungen auf die Antike (Regie: Carmen Vidu) präsent. Zwar wird dieses Mittel zurzeit in vielen Opernhäusern aufgegriffen und ist beinahe zum obligatorischen Bestandteil einer „zeitgemäßen“ Inszenierung geworden – allerdings erwachsen die Projektionen nicht immer aus der musikalischen Substanz. Sie beschäftigen zwar das Auge und ersetzen in konzertanten Aufführungen das eigentliche Bühnengeschehen, aber sie wirken oft etwas werkfremd und aufgesetzt. Man kann dieses Element mögen, oder auch nicht.
Wunderbar war das Orchester, das die Partitur diskret, luftig, präzise und mit stets wechselnden, schönen Klangfarben interpretierte. Die Darbietung hatte nichts von der majestätischen Schwere eines „Nationalkomponisten“ – wie Enescu ärgerlich oft genannt wird – sondern erzählte lebendig und formschön die Geschichte von Geburt, Jugend, Reife und Tod der Titelfigur. Den Chören gelang es, sich ins Ensemble zu integrieren und stilistisch das Archaische, die östliche Verwurzelung mancher Motive wiederzugeben. Eine Freude für den Zuhörer war insbesondere der dramatische dritte Aufzug, in dem Ödipus am Ende einer atemberaubenden musikalischen Steigerung die Wahrheit erfährt – nämlich dass sein Kampf gegen das Schicksal vergeblich war. Dem Ensemble und seinem Dirigenten gelang ein moderner „Oedipe“, fern von jeglicher Übertreibung, voller Beweglichkeit und Raffinement. Fast sechzig Jahre nach der Bukarester Uraufführung von „Oedipe“ im Rahmen des ersten Enescu-Festivals – unter der Stabführung von Constantin Silvestri und mit David Ohanesian in der Titelrolle – dürfte die Fassung von Wladimir Jurowski, die in zwei Wochen auch in London zu hören sein wird, einen neuen Meilenstein der „Oedipe“-Aufführungen darstellen.
Das Londoner Orchester und sein Chefdirigent gaben ein weiteres Konzert am 3. September, diesmal mit dem Geiger Christian Tetzlaff als Solisten. Der Abend begann mit dem feinfühlig gestalteten Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner, dem erfreulicherweise jede massige Ausschweifung fehlte. Eine stilistisch gelungene Brechung war das Violinkonzert von Alben Berg, das 1935, zeitgleich mit Enescus „Oedipe“ abgeschlossen wurde, doch eine grundverschiedene musikalische Haltung verkörpert. Christian Tetzlaff, der einst sein Debüt mit den Münchnern Philharmonikern und Sergiu Celibidache gefeiert hatte, gelang eine makellose Darbietung, die von einem filigranen, ruhigen „Adagio“ von Bach als Zugabe ergänzt wurde. Beeindruckend war die elfte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, mit der das Orchester noch einmal die Gelegenheit ergriff, sein Können unter Beweis zu stellen. Das schlagzeugreiche Stück mit prominenten Bläser- und Streichermomenten wechselte gekonnt zwischen überwältigender Größe, bewegender Lyrik und Augenblicken der vollkommenen innerlichen Ruhe. Es war ein brillanter Festivalbeginn.