„După dealuri“, hinter den Hügeln, befindet sich der Schauplatz jener wahren Begebenheit, die Cristian Mungiu zu seinem neuesten Film inspiriert hat, für dessen Skript er im Mai dieses Jahres bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes den Preis für das beste Drehbuch erhielt und dessen Hauptdarstellerinnen Cristina Flutur und Cosmina Stratan für ihre hervorragenden schauspielerischen Leistungen ebenfalls beim Filmfestival von Cannes prämiert wurden.
Der Fall Tanacu hatte im Jahre 2005 die rumänische Öffentlichkeit erschüttert. Im Moldaukloster Tanacu war im Juni jenes Jahres eine junge Frau bei einem exorzistischen Ritual zu Tode gekommen, woraufhin ein Priester und vier Nonnen des unweit von Vaslui gelegenen Klosters zu längeren Haftstrafen verurteilt wurden. Die Journalistin Tatiana Niculescu Bran hat in ihren 2006 bzw. 2008 im Humanitas-Verlag erschienenen Büchern mit den Titeln „Spovedanie la Tanacu“ (Beichte in Tanacu) und „Cartea judecătorilor. Cazul Tanacu“ (Das Buch der Richter. Der Fall Tanacu) das in jenem Nonnenkloster Geschehene detailliert aufbereitet. Mungius Drehbuch fußt auf diesen von der rumänischen Literaturkritik euphorisch aufgenommenen Dokumentarromanen.
Die Handlung des Films folgt den letzten Lebenswochen der 25-jährigen Alina, die aus Deutschland in ihre rumänische Heimat zurückgekehrt ist, um ihre geliebte Freundin Voichiţa, mit der zusammen sie im Waisenhaus aufgewachsen ist, zu sich in den Westen zu holen. Voichi]a hat sich allerdings in der Zwischenzeit Gott zugewandt, ist in ein Kloster eingetreten und hat über ihre Kindheit und Jugend, die von Armut, sexuellem Missbrauch und Demütigung gekennzeichnet waren, den Mantel der Demut und Verzeihung gebreitet. Die körperlichen Annäherungsversuche Alinas weist sie ebenso zurück wie deren Ansinnen, zusammen mit ihr in Deutschland eine gemeinsame Existenz aufzubauen.
Auf das drohende Scheitern ihres Zukunftsplanes, an den sie sich wie an einen Strohhalm klammert, reagiert Alina mit Aggression und Gewalt, schließlich mit Krankheit und psychischem Zusammenbruch. Aus dem Spital kehrt sie dann wieder ins Kloster zurück, wo sich ihr Zustand aber zusehends verschlechtert, zumal sich auch ihre persönliche Lebenssituation als prekär erweist. Ihr Zimmer bei ihren Pflegeeltern ist bereits durch ein neues Pflegekind besetzt, der Arbeitsplatz in Deutschland ist mittlerweile verloren gegangen und außer ihrem schwachsinnigen Bruder hat sie niemanden mehr als ihre über alles geliebte Voichiţa, um deretwillen sie nun auch als Novizin ins Kloster eintreten möchte.
Doch die geschlossene Welt des Klosters erzeugt in ihr fortwährend Zorn und Raserei. Eifersuchtsattacken auf den Priester und auf Voichi]as Mitschwestern, Zerstörungswut und suizidale Anfälle führen zu einem Ausnahmezustand, der die Klostergemeinschaft zum Handeln zwingt.
Schließlich fesseln die Nonnen die in Paroxysmen wild um sich schlagende Alina auf ein provisorisch zusammen gezimmertes Brettergestell und tragen sie in die Kirche, wo sie tagelang angekettet und bewegungslos bei Kälte und ohne Nahrung festgehalten wird, während der Priester immer wieder heilige Texte rezitiert, die den Teufel dazu bringen sollen, endlich aus ihr auszufahren. Die junge Novizin stirbt schließlich im Krankenwagen auf dem Weg in die Stadt, wohin der Polizeiwagen am Ende auch die Haupttäter bringt, damit sie dort dem Staatsanwalt vorgeführt werden.
Mungius Film erzählt die Geschehnisse und Vorfälle im Nonnenkloster gleichsam wertfrei, ohne religionskritische Invektiven oder kirchenkritische Spitzen. Weder idealisiert er die Klosterwelt, noch verurteilt er ihre sich selbst auferlegte Beschränkung. Vielmehr zeigt er, dass in der klösterlichen Gemeinschaft mutatis mutandis dieselben Gesetze gelten wie in der säkularen Gesellschaft. Jagd nach Anerkennung, sozialer Druck, Kampf um Macht und Rang spielen hier wie dort eine wichtige Rolle, und der Schwächste wird überall ausgenützt, sei es im Waisenhaus in der Stadt oder im Kloster hinter den Hügeln.
Der Filmtitel wird im Film selbst an entscheidender Stelle zitiert. Als gerade wieder einmal Schmerzensschreie der gefesselten Alina aus der Kirche dringen, nähert sich ein Geländewagen dem Kloster. Voichiţa öffnet die Pforte und, anstatt die beiden Männer im Auto um Hilfe zu bitten, weist sie die nach dem Wege Fragenden an einen Ort „hinter den Hügeln“. Das Kloster ist damit für die nach Gott Suchende zur sündigen Welt geworden, das himmlische Refugium ist anderswo: „după dealuri“! Nicht von ungefähr hat Voichi]a am Ende ihre klösterliche Tracht abgelegt und tritt bekleidet mit dem Pullover ihrer toten Freundin und ohne Kopfbedeckung in den Kreis ihrer Mitschwestern.
Der episch dahin fließende Film mit Überlänge (150 min.) hat indes nirgends Längen, geschweige denn, dass er irgendwann Langeweile aufkommen ließe. Vielmehr halten die äußere und vor allem die innere Handlung den Betrachter beständig in Atem und permanent in Spannung. Während Cristina Fluturs Alina diese existenzielle Spannung lautstark ausagiert, verinnerlicht Cosmina Stratans Voichi]a stumm den seelischen Druck, der auf ihr lastet, und macht ihn in den kleinsten Gesten und Regungen ihres Gesichts und ihres Körpers umso deutlicher sichtbar.
Grandiose Bilder, Landschaftsaufnahmen, Porträtstudien, Entfaltungen sozialer Räume, klösterliche Stillleben im Stile alter Meister machen Mungius Film zu einem Augenerlebnis von größter Sinnlichkeit. Der aus Alinas Nasenflügeln aufsteigende Atemhauch, der ihr Martyrium in der Kälte begleitet, bleibt dem Bildgedächtnis unauslöschbar eingeschrieben. Grandios gefilmt sind auch die Gruppenszenen, in denen sich die Nonnen wie Hitchcocks Krähen auf Alina stürzen, nicht krächzend, sondern flüsternd, bis sie das Objekt ihrer Domestizierung fest verschnürt oder hart angekettet davontragen.
Dass der Film mit Untertiteln (es gibt sowohl eine englische als auch eine französische Version!) in den rumänischen Kinos gezeigt wird, ist seinem Erlebnis keinesfalls abträglich. Vielmehr tragen die Untertitel über die durch den moldauischen Dialekt, das religiöse Vokabular und die teilweise huschende Art des Sprechens verursachten Verstehensprobleme hinweg und garantieren so das Verständnis der Filmaussage. Mozarts Wiegenlied „Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein“, ein Stück weltlicher Musik, das die eine der beiden Freundinnen der anderen vorsingt und das auch im Abspann erklingt, wird zum akustischen Signum eines Paradieses, das es nirgendwo mehr gibt, auch nicht mehr hinter den Hügeln.