Deutsche Stummfilme bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin

Retrospektive „Weimarer Kino – neu gesehen“

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und mit der Ausrufung der Weimarer Republik entwickelte sich eine der produktivsten und einflussreichsten Epochen des deutschen Filmschaffens, die von unterschiedlichen Kunststilen wie etwa Expressionismus oder Neue Sachlichkeit geprägt war und deren enorme Wirkung bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hineinreichte.

Die diesjährigen Internationalen Filmfestspiele in Berlin, die am 25. Februar zu Ende gegangen sind, widmeten ihre bewährte – „Retrospektive“ genannte – Sektion in diesem Jahr dem Thema „Weimarer Kino – neu gesehen“. Damit war nicht nur gemeint, dass auf der Berlinale neue Aspekte des Filmschaffens der Weimarer Zeit hervorgekehrt werden sollten wie etwa: die Darstellung von Kindheit und Jugend; die Kriegsheimkehrerproblematik; Orientalismus und Exotik; historische Sujets; Experiment und Avantgarde. Vielmehr war mit dieser Themenformulierung zudem gemeint, dass viele der auf der Berlinale gezeigten Weimarer Filme durch Restauration und Rekonstruktion überhaupt erst wieder neu zugänglich gemacht worden waren, wie etwa der zweiteilige Stummfilm „Christian Wahnschaffe“ von Urban Gad nach dem gleichnamigen 1919 erschienen Roman von Jakob Wassermann, dessen beide Teile „Weltbrand“ (1920) und „Die Flucht aus dem goldenen Kerker“ (1921) in einer von der Friedrich Wilhelm Murnau-Stiftung kürzlich fertiggestellten rekonstruierten digitalen Fassung auf der Berlinale gezeigt wurden.

Ein besonderer Reiz der Stummfilmaufführungen bei der 68. Berlinale lag auch darin, dass man sie mit musikalischer Live-Begleitung erleben und genießen konnte. So sorgte bei dem erwähnten Film „Christian Wahnschaffe“ der britische Komponist Stephen Horn mit Klavier, Akkordeon, Flöte, Trommeln und weiteren Schlaginstrumenten für eine mitreißende musikalische Live-Untermalung, und der 1927 entstandene Historienfilm „Der Katzensteg“ unter der Regie von Gerhard Lamprecht wurde am Flügel live von der niederländischen Pianistin Maud Nelissen begleitet, die als gefragte Solistin weltweit die Weimarer Stummfilmkunst durch ihre kompositorischen Ideen bereichert.

Die diesjährige Berlinale hat bewusst darauf verzichtet, berühmte Filmklassiker von Fritz Lang, Friedrich Wilhelm Murnau, Georg Wilhelm Pabst oder anderen Starregisseuren der Weimarer Zeit ein weiteres Mal dem Publikum zu präsentieren. Vielmehr wollte man auch weniger bekannte Filme und Regisseure zur Geltung bringen, um die Vielfalt des Weimarer Filmschaffens zu dokumentieren. So wurde etwa Robert Reinerts Film „Opium“ (1919) in der vom Filmmuseum München kürzlich hergestellten digital restaurierten Fassung gezeigt, in der gleichwohl Stars des Weimarer Kinos wie Conrad Veidt oder Werner Krauß zu sehen waren. Die musikalische Untermalung lag bei diesem Film in den Händen des jungen deutschen Pianisten Richard Siedhoff, der noch vor Beginn des eigentlichen Films auch dem Berlinale-Trailer eine wunderbare musikalische Begleitung angedeihen ließ.

Interessant war auch, auf der Berlinale die Entwicklung der Schauspielkunst in den Weimarer Stummfilmen studieren zu können. So verblieb etwa der große Mime Conrad Veidt, der sich durch seine Rolle in Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ unauslöschlich dem Gedächtnis der Nachwelt eingeprägt hat, auch in dem bereits erwähnten Streifen „Christian Wahnschaffe“ völlig im schauspielerischen Register des Expressionismus. Begeisternd, wie er seinen schmalen hageren Körper ganz und gar der Choreografie einer geradezu manieristischen Stilisierung unterwarf! Ganz im Gegensatz dazu betraten im selben Film der junge Fritz Kortner und auch Werner Krauß schauspielerisches Neuland, indem sie auf jegliche ästhetische Stilisierung verzichteten und den jeweils darzustellenden Menschentyp in seiner authentischen, ungeschönten, sachlichen und objektiven Existenz zur Geltung brachten.

Dass auch Filme mit historischer Thematik aktuellen Gegenwartsbezug aufweisen können, zeigte der bereits genannte Film „Der Katzensteg“ (1927) nach dem 1890 erschienenen gleichnamigen Roman von Hermann Sudermann. Die Situation Preußens im Jahre 1807 nach der vernichtenden Niederlage gegen Napoleon wurde in diesem Film durchsichtig auf die vernichtende Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Die Befreiungskriege gegen Napoleon, mit denen Lamprechts Historienfilm endet, spielten überdeutlich auf die politischen Bestrebungen in den zwanziger Jahren an, die Schmach von Versailles vergessen zu machen und Deutschland wieder in seiner wahren Größe erstehen zu lassen.

Die Retrospektive-Sektion mit dem Thema „Weimarer Kino – neu gesehen“ krönte ihre Pionierarbeit mit einer eigens zur Berlinale erschienenen Publikation, die unter dem genannten Sektionstitel bei Bertz+Fischer Anfang dieses Jahres erschienen ist. Dieser Band versammelt Beiträge von berühmten Regisseuren wie Wim Wenders, Ulrike Ottinger und Jutta Brückner, aber auch von renommierten Filmwissenschaftlern und Kennern des Weimarer Kinos. Vier der in dem Sammelband vertretenen Filmforscher, unter ihnen auch die Bukarester Germanistikprofessorin Ioana Cr˛ciun-Fischer, diskutierten bei der öffentlichen Buchpräsentation am 18. Februar in der Deutschen Kinemathek über in der Forschung bislang vernachlässigte Themen des Weimarer Filmschaffens: Philipp Stiasny sprach über die Kriegsheimkehrerproblematik nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, Annika Schaefer über die Darstellung der Arbeitswelt im Weimarer Spielfilm, Jörg Schöning über Revolution und Restauration im historischen Spielfilm des Weimarer Kinos, und Ioana Cr˛ciun-Fischer hinterfragte die Inszenierung von Kindheit und Jugend durch die Weimarer Stummfilmregisseure, insbe-sondere auch im Hinblick auf die Gender-Problematik.

Die Retrospektive-Sektion mit ihren mehr als zwei Dutzend Spielfilmen sowie mit ihren diversen Kurz- und Vorfilmen machte insgesamt deutlich, wie viele ungehobene Schätze der Weimarer Zeit noch in den Filmarchiven schlummern und dort ihrer Wieder- bzw. Neuentdeckung harren.

Abgerundet wurde die Retrospektive-Sektion der diesjährigen Berlinale noch durch die Filmreihe „Berlin Classics“, in der neben dem frisch restaurierten Stummfilm „Das alte Gesetz“ (1923) von Ewald André Dupont auch ungarische, amerikanische, israelische, russische, japanische und deutsche Spielfilme aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu sehen waren.

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Weimarer Kino neu gesehen, hg. von Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother und Annika Schaefer, Berlin: Bertz+Fischer 2018, 252 S., ISBN: 978-3-86505-256-8, 29,90 Euro.