Hans Bergel: Die politische Schlagzeile – Ein publizistisches Vermächtnis

Kommentare zum Zeitgeschehen in der Siebenbürgischen Zeitung 1971–1989

Hans Bergel Fotos: Josef Balazs

Systematisierung

Mit der Veröffentlichung einer substanziellen Auswahl aus Hans Bergels Kolumne „Die politische Schlagzeile“ legt der Berliner Verlag Frank & Timme ein publizistisches Dokument von bleibender historischer und literarischer Bedeutung vor. Der Band erscheint zum 100. Geburtstag des Autors Hans Bergel und versammelt 180 Beiträge, die zwischen 1971 und 1989 in der „Siebenbürgischen Zeitung“ erschienen sind – allesamt verfasst von einem Mann, der sich als Chronist seiner Zeit verstand und als Mahner gegen politische Verblendung und moralische Gleichgültigkeit wirkte. „Die politische Schlagzeile“ war nicht nur eine journalistische Rubrik, sondern ein intellektuelles Markenzeichen Hans Bergels. Sie erschien von 1971 bis 1989 regelmäßig auf Seite 2 der „Siebenbürgischen Zeitung“ und wurde ausschließlich von ihm selbst verfasst. Die Kolumne war inspiriert vom berühmten „Streiflicht“ der „Süddeutschen Zeitung“, doch Bergel verlieh ihr eine eigene, unverwechselbare Handschrift: analytisch, pointiert, oft sarkastisch – und stets mit einem klaren moralischen Kompass.

Hans Bergel, Schriftsteller, Journalist und ehemaliger politischer Häftling im kommunistischen Rumänien, war kein Kommentator im luftleeren Raum. Seine Schlagzeilen sind durchdrungen von Lebenserfahrung, historischer Bildung und einem unerschütterlichen Freiheitsbewusstsein. Sie entstanden in einer Zeit, in der die Welt zwischen Ost und West, Ideologie und Realität, Aufbruch und Erstarrung zerrissen war – und sie widerspiegeln diese Spannungen mit sprachlicher Präzision und intellektueller Klarheit. Besonders eindringlich sind Bergels Texte zur Lage in Rumänien unter Nicolae Ceau{escu. Anfangs noch von vorsichtiger Hoffnung getragen, wandelte sich seine Haltung mit der neostalinistischen Wende des Regimes in entschiedene Kritik. Mit scharfem Blick analysierte Bergel die wirtschaftliche Fehlentwicklung, den grotesken Personenkult und die systematische Unterdrückung der Minderheiten, darunter auch diejenige der Rumäniendeutschen. Seine Warnungen vor der überstürzten Industrialisierung, der Autarkiepolitik und den sozialen Verheerungen, die daraus resultierten, lesen sich heute wie ein Lehrstück über die Folgen ideologischer Verblendung. Doch Bergels publizistisches Engagement ging über die Analyse hinaus. Er wurde zum Fürsprecher der Siebenbürger Sachsen, deren kulturelle Identität und Lebensperspektive unter dem Regime zunehmend bedroht waren. Seine Kolumnen dokumentieren nicht nur die Ausreisewünsche der Minderheit, sondern auch die moralischen Dilemmata jener, die zwischen Ausharren und Aufbruch schwankten. Dabei scheute er sich nicht, auch innergemeinschaftliche Verklärungen zu kritisieren – stets mit dem Ziel, Wahrheit und Würde zu verteidigen.
Um Hans Bergels Verve und Begeisterung, ja Schlagkraft zu exemplifizieren, wird hier als Beispiel ein brisantes Thema aus dem Jahr 1988 ausgewählt: die angekündigte Systematisierung – nicht bevor wir die die Frage stellen, warum Hans Bergel 1971, als er die Redaktion der Zeitung übernommen hatte, eine regelmäßige Kolumne, ein Novum, einführte. Denn eine Kolumne zu schreiben, ist eine Verpflichtung über eine lange Zeitspanne hinaus. Bergel hat seine Kolumne, die er nicht anders als mit seinen Initialen HB signierte, als Herausforderung betrachtet, seine Stellungnahme zu aktuellen politischen Ereignissen in der „Siebenbürgischen Zeitung“ seinen siebenbürgischen Landsleuten kundzutun. Dafür hat er, da er ein geschickter Wortepräger war, für seine Glosse den richtigen Titel gefunden. Er verwendet ein sogenanntes Determinativkompositum, also eine Zusammensetzung aus zwei Wörtern: „schlagen“ und „Zeile“. Als ehemaliger Sportler bleibt Bergel ein Leben lang ein Kämpfer und eine Schlagzeile bedeutet für ihn „mit Kraft treffen“ oder „hauen“. Seine Kolumne soll eine „Zeile“ sein, die „einschlägt“ – also besonders auffällig ist und sofort ins Auge fällt. Bergel schrieb regelmäßig, von 1971 bis 1989 seine „politische Schlagzeile“, immer in der Spalte links, auf Seite zwei der „Siebenbürgischen Zeitung“, die er als SZ abgekürzt hat - ein Schelm, der an eine beabsichtigte Verwechslung mit einer anderen großen Zeitung aus München dabei denkt!

Eine Meldung des Spiegel-Magazins, Rumänien betreffend, die sicherlich vorher gründlich geprüft worden war, erschien am 23. Mai 1988. Der kurze Titel lautete: „Krieg den Dörfern“. Der Artikel behandelte die von Nicolae Ceau{escu, Rumäniens Machthaber, im März verkündete „Systematisierung“ der ländlichen Gebiete: An der Stelle der rund 8000 Dörfer, die der Diktator dem Erdboden gleichmachen wollte, sollten bis zum Jahr 2000 etwa 500 „agroindustrielle Zentren“ treten. Bergel reagierte sogleich in seiner „Politischen Schlagzeile“ vom 31. Mai 1988 betitelt „Mentalität und Kapitulation“. Hier verwendete er das erste Mal das vom Spiegel lancierte Wort „Systematisierung“. Bergel lenkte die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit direkt auf die Kulturdenkmäler in Siebenbürgen, die Kirchenburgen, „Zeugnisse“, so Bergel, „eines Stücks beispielhafter mittelalterlicher europäischer Siedlungs- und Baukultur“.

Da die Meldung im Spiegel-Magazin vom 23. Mai 1988 allgemein nur von „rumänischen Dörfern“ sprach, kam Bergel auf den „so genannten Bukarester Systematisierungsplan“ erneut in seiner Glosse „SOS-Siebenbürgen“ vom 15. Juli 1988 zurück. Hier exemplifiziert er die Ausmaße der Gefahr, indem er Zitate aus den wichtigsten europäischen Zeitungen anführt; darunter die „zurückhaltende“ „Neue Zürcher Zeitung“, die auf die „Bedrohung vor allem deutscher und ungarischer Dörfer in Siebenbürgen von Ceau{es-cus Bulldozerpolitik“ aufmerksam macht.

Gleich in der nächsten Schlagzeile „Siebenbürgen und kein Ende“ vom 31. Juli 1988 offenbart sich die Betroffenheit des Journalisten Bergel, der angesichts der täglichen Horrormeldungen sein Geburtsland betreffend, schockiert ist. Er schreibt: „Es stünde einem Periodikum wie der `Siebenbürgischen Zeitung´ schlecht an, zu einem Zeitpunkt, da in Siebenbürgen die Bulldozer kulturhistorisch unersetzliche Architektur niederzuwalzen begannen, sich an dieser Stelle mit einem anderen Thema zu beschäftigen als mit den Vorgängen in Siebenbürgen, erst recht, da diese Landschaft weltweit so in die Schlagzeilen geriet wie vermutlich niemals seit ihrer Existenz.“

Die von den Herausgebern des Bandes letzte ausgewählte politische Schlagzeile zu diesem Thema trägt den Titel: „Über den Gänsedreck geführt“. Die gehäuften und wiederholten Pressemeldungen über die Situation in Rumänien konnten die Politiker im Europaparlament doch nicht tatenlos lassen. So beschloss eine Delegation der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), Rumänien offiziell zu besuchen. Der CDU/EVP-Politiker Axel Zarges schilderte in der FAZ vom 7. Oktober 1988 seine Eindrücke über den Besuch in Rumänien… Ceau{escu habe mit der Delegation mehr als zweieinhalb Stunden gesprochen, er sei ein „Mann von großer Vitalität, Dynamik, Präzision und Willenskraft“. Entgegen mancher Mutmaßungen sei der rumänische Staats- und Parteichef „psychisch völlig gesund und reaktionsschnell“.

Bei der Lektüre dieser FAZ-Zeilen konnte dem siebenbürgischen Journalisten und Kenner der Situation Bergel nur ein einziger Titel für seine Schlagzeile einfallen: „Über den Gänsedreck geführt!“ Bergel führt als Gegenbeispiel für guten Journalismus und vor allem guter Recherche den Artikel und die Fotos aus dem Wochenmagazin „Stern“ vom 6. Oktober 1988 an. „Zur selben Zeit“, schreibt Bergel, als die Europäischen Politiker „in Bukarest sich beeindrucken ließen, waren drei junge Spunde“, Reporter des „Stern“, in Rumänien und haben statt mit der Nomenklatura mit den betroffenen Menschen gesprochen. Der Titel ihrer Recherche im Wochenmagazin „Stern“ lautet „Hört uns denn niemand?“ und ist als ein Hilferuf der siebenbürgischen Bevölkerung zu verstehen.

Erst wenn man solchen Zitaten nach Jahren gegenübersteht, kann man den Balanceakt, den Hans Bergel vollziehen musste, verstehen. Er hat versucht, nicht zu provozieren, sondern aufzuklären, zu kommentieren, neugierig zu machen... die Weltpolitik näher zu bringen und immer – das kann nicht genug betont werden – den Fokus auf Siebenbürgen lenken, auf die Menschen, die hier lebten, auf ihr Schicksal, auf ihre bevorstehende Zukunft, die damals, 1988 noch ungewiss war.

Die „Politische Schlagzeile“ war bekannt für ihre klare Haltung gegen Heuchelei, Doppelmoral und politische Servilität. Über 300 Beiträge wurden verfasst, viele davon international rezipiert – von australischen bis US-amerikanischen Medien. Nicht zuletzt auch im kommunistischen Rumänien. Dieter Drotleff verrät in der ADZ vom 3. Juli 2025, dass „Die politische Schlagzeile“ in der Redaktion der „Karpatenrundschau“ in Kronstadt eifrig gelesen wurde; der damalige Schriftleiter Eduard Eisenburger hat die „Siebenbürgische Zeitung“ dank seiner vielseitigen hohen politischen Ämter regelmäßig bekommen und sie seinen Mitarbeitern zur Verfügung gestellt.

Mit der Ausgabe vom 31. Januar 1989 verabschiedete sich die Rubrik „Politische Schlagzeile“ der „Siebenbürgischen Zeitung“ von ihren Leserinnen und Lesern – und mit ihr Hans Bergel, der über 18 Jahre als verantwortlicher Schriftleiter die politische Debatte maßgeblich geprägt hat. In einem bewegenden Rückblick dankte er für die lebendige Beteiligung an den kontroversen Themen, die die Siebenbürger Sachsen, Deutsche und Europäer gleichermaßen beschäftigten.
Die Herausgeber des Bandes „Die Politische Schlagzeile“, Stefan Sienerth und Siegbert Bruss, haben die Texte thematisch und chronologisch in acht Bereiche gegliedert: Weltgeschehen, Europäische Gemeinschaft und NATO, Bundesrepublik Deutschland, Deutsche Demokratische Republik, Sowjetunion und andere Ostblockstaaten, Rumänien, Siebenbürger Sachsen und Anhang. Zu jeder „Schlagzeile“ werden die notwendigen „Anmerkungen“ als erläuternde Kommentare hinzugefügt, um damit die Texte und das Geschehen in den jeweiligen historischen Kontext einzubetten. Das einleitende Vorwort von Prof.h.c. Dr.Dr.h.c. Stefan Sienerth, bestehend aus acht Unterkapiteln mit zahlreichen ergänzenden Fußnoten, ist ein Textjuwel für das Begreifen überhaupt dieser schwierigen politischen Phase Rumäniens. Das Ergebnis ist ein Band, der nicht nur einen Teil von Hans Bergels publizistischem Lebenswerk dokumentiert, sondern auch ein Stück europäischer Zeitgeschichte aus der Perspektive eines unbequemen, aber hellsichtigen Beobachters.

Die „politische Schlagzeile“ ist mehr als eine Sammlung von Kommentaren. Sie ist ein Zeugnis für die Kraft des Wortes, für die Verantwortung des Intellektuellen und für die Bedeutung publizistischer Unabhängigkeit. Hans Bergel hat sich nie mit der Welt abgefunden, sondern sie mit klarem Verstand und leidenschaftlicher Sprache zu durchdringen versucht. Seine Texte bleiben aktuell, verhandeln sie doch Grundsätzliches: Freiheit, Macht, Moral und die Würde des Einzelnen.