Mit der Vorliebe für den Fernen Osten soll der Autor der Erzählung „Sid-dhartha” unheilbar von genau ihm angesteckt worden sein, der dem Haus für alternativ Motivierte auf dem Monte Verità über dem pittoresken Ascona am Lago Maggiore persönlich zwei Fresken des Heiligen Franzikus aufgemalt hatte. Wobei der Ordensgründer aus Assisi weder der einzige noch erste Asket war, dessen Vermächtnis zur Revelation und Taufe des „Bergs der Wahrheit” im Ticino und frühen 20. Jahrhundert inspirierte: eine Zeitlang in selbst gewählter Abgeschiedenheit einer Höhle lebte auch Benedikt von Nursia, ehe er sich an der Schwelle von der Antike zum Mittelalter „bereit zum Rausgehen in die Welt” dünkte, wie Marianne Hallmen es Sonntag, am 21. September, im Spiegelsaal des Demokratischen Forums der Deutschen in Siebenbürgen (DFDS) als Vorstands-Präsidentin der Gusto-Gräser-Gesellschaft (GGG) auf den Punkt brachte. Weshalb nicht Letztere gründen, wo doch seit 2002 schon die Internationale Hermann-Hesse-Gesellschaft besteht? „2013 wusste auf dem Monte Verità niemand was von Siebenbürgen!”, so Theologin, Architektin und Wahlschweizerin Marianne Hallmen aus Stolzenburg/Slimnic bei Hermannstadt/Sibiu.
Obwohl Schulabbrecher, Künstler, Pazifist, Reformdenker, Dichter und Vegetarier Gusto Gräser nach Ansicht von Dr. Thomas Cieslik, dem Vorstands-Beisitzer der GGG, „Europäer par excellence” und „nicht nur Siebenbürger Kind” war. Ein zeitlebens nicht einfach zu fassender Mann von intellektueller Ausnahme-Begabung, der wie selbstverständlich mit Großen zu verkehren verstand, selber dafür kaum groß herauskam. Hätte er es gewollt und nicht nur gekonnt? Der Workshop der GGG in Hermannstadt und Spiegelsaal – Gusto Gräser übrigens hatte eine biografisch enge Beziehung zur Spiegelgasse in Zürich – versuchte sich am Aufschlüsseln der Etappe Gräsers als Schüler des Samuel-von-Brukenthal-Gymnasiums und ihrer Folgen bis Lebensende.
Mainstream-Geplänkel war ihm bestimmt verhasst wie dem Teufel das Weihwasser, und statt dem Eingehen von Kompromissen muss er eindeutig dem Ausbaden von Kontroversen den Vorzug gegeben haben; ein Manko oder Glänzendes, das ihn bis heute kennzeichnet und seinen Niederschlag selbstverständlich auch im Workshop der GGG fand. Carol Neustädter, Lyriker und Philosoph außerhalb der diskursiven Komfortzone des DFDS, gestaltete den Anfang als 1993 in Wien zum Doktor promovierter Schriftsteller, dessen Essays und Dissertation über eine „neuere Reflexionstheorie” das Universitäts-Seminar damals „gespalten” habe: „Der Professor in Wien sagte zu mir, dass ´ich schon mal einen Querdenker unterstützt und hieraus nur Nachteile gehabt habe.´” Gewissermaßen in der Nachfolge von Gusto Gräser sieht sich Carol Neustädter, dessen Einladung in den Spiegelsaal sich mit den dünn besetzten Zuhörerreihen deckte: erst um 11 Uhr plus Gewährung des akademischen Viertels begann die Tagung, da „der Gottesdienst in Hermannstadt enorm wichtig ist”, räumte Marianne Hallmen ein.
Stressfrei möglich gewesen wäre es von der Zeitplanung her, dass aus der evangelischen Stadtpfarrkirche einheimische Menschentrauben nach dem bürgerlichen Sonntagstermin auch das Allerheiligste des DFDS aufsuchen – und doch kann es kaum überrascht haben, dass diese Hemmschwelle nur von einer kleinen Handvoll Neugieriger überschritten wurde. Dem Gusto des siebenbürgisch-sächsischen Hermannstadt entspricht es nicht, über das Aussteigen und einen seiner hartnäckigsten Verfechter zu fachsimpeln. „Ich wollte nicht zuviel philosophieren.”, sagte Carol Neustädter beim zweiten Mal, als er sich in das Gespräch einschaltete, „denn die Hermannstädter mögen Philosophie nicht.” Wie sie zu pflegen wäre? „Denken ohne Zitieren” statt „Zitieren ohne Denken.” Die Chance, Festgefahrenes zu bemängeln, worüber man sich in den Filterblasen konservativer Siebenbürger Sachsen traditionell ausschweigt, ließ Neustädter sich nicht nehmen.
Weil die Biografie Gusto Gräsers als Schulabbrecher im Alter von 15 Jahren am Samuel-von-Brukenthal-Gymnasium auch Deutung als eine „Geschichte des Scheiterns” verträgt, womit Physiklehrer Helmut Andreas Adams in die Diskussion im Spiegelsaal einstieg. Möglicherweise vorgezeichnetes Scheitern, dem zu trotzen Gusto Gräser als ein pubertierender Schüler unteren Durchschnitts nicht in der Lage war. Der mittlere von drei Brüdern und deswegen ein „Sandwich-Kind” tat sich leider schwer mit Mathematik, obschon nach Wissen von Helmut Andreas Adams Volksschullehrer das Vertrauen „wunderbarer Ausbildung” ganz sicher auf ihrer Seite hatten und „Schüler im Schreiben besser als Schüler heute waren.” 1894 allerdings starb Gusto Gräsers Vater, und für den Sohn einer bildungsbürgerlichen Familie, der in fast sämtlichen Schulfächern allenfalls „hinreichende” oder „nicht hinreichende” Zensuren nach Hause brachte, war die Krise perfekt. Besser lief es am Bruckenthal-Gymnasium für ihn nur in Deutsch und Kunst. In der „politischen Hauptstadt der Siebenbürger Sachsen” aber, zu der Hermannstadt auch wegen des Brukenthal-Gymnasiums geworden war – ebenso erklärt es Monika Hay als seit neun Jahren tätige Direktorin – und sich noch besser als die urbanen Schulstandorte Bistritz/Bistri]a, Mediasch, Schäßburg/Sighi{oara und Kronstadt/Bra{ov zeigte, geriet Gusto Gräser in die Enge.
Dass er gegen eine hochtrabende Erwartungshaltung aufbegehrte, wusste auf dem Workshop der GGG in Hermannstadt Historiker Gregor Gatscher-Riedl aus Österreich zu erläutern, wo nicht ohne Grund zuvor Helmut Andreas Adams den industriellen Aufstieg und die Emanzipation Kronstadts gegen Ende der habsburgischen Epoche angeschnitten hatte: „Schule”, so Gatscher-Riedl, war „das letzte Gefäß, worin sich das siebenbürgische Sachsentum erhalten konnte.” Gusto Gräser, dessen familiäre Abstammung „patrizisch” war, kündigte selbstbewusst seine Zugehörigkeit zu einer Struktur auf, die damals an Gymnasien einen „Coetus” von und für Schüler etabliert hatte und ihren Mitgliedern für die Zukunft fest einprägen wollte, dass „du zur Elite deines Volkes gehörst”. Eine Schulpolitik, die auch in ihrer Erforschung durch Gatscher-Riedl „eben nicht nur auf das reine Bildungsbedürfnis aus war” und einer „flamboyanten Persönlichkeit” wie jener Gusto Gräsers viel zu wenig in die Karten spielte.
„Iss, schau, schmecke, rieche, pass auf, gib acht.” Den Brecher aller Konventionen der Hautevolee im protestantischen Transsylvanien und späteren Träger schulterlanger Haare und eines Rauschebarts begleitete seine Skepsis gegenüber großbürgerlichen Normen auch in Budapest, Wien, in der Schweiz und in Deutschland. Oft brachte sie ihn in lebensbedrohliche Schwierigkeiten, wo Gusto Gräser sich den bewaffneten Fronten beider Weltkriege hartnäckig verweigerte. Dennoch trieb ihn das germanische Abendland nicht in den Freitod, sondern zu Höchstleistungen, die ihm unter Gleichgesinnten immer das Überleben sicherten.
Das Inoffensive war ihm auch Ernährungs-Kriterium; es überrascht nicht, dass Gusto Gräser nur Vegetarisches zu sich nahm. Die GGG berücksichtigte es im Spiegelsaal und bot zur Mittagspause schlicht die Option, ein Müsli nach Originalrezept von Gräser zu verkosten. Nebst Nüssen und frischem Obst standen sieben Tetrapacks bereit, und eingekauft worden war bei „Lidl”: zwei Haferdrinks, eine Soja-Milch und je einmal Ziegenmilch, laktosefreie Milch, fettarme Milch und Vollmilch, die letzteren drei von der Billigmarke „Pilos”. Wäre sie nach Gräsers Gusto gewesen? Zum Süßen gab es zwei Honig-Gläser, wovon das eine bei „Carrefour” und dort beim Sortiment „Drag de România” besorgt worden sein könnte, und eine Sechs-Gramm-Dosis Honig der norditalienischen Imkerei „Ambrosoli” zum Aufreißen, die laut Stempel auf der Rückseite Ende Februar 2023 abgelaufen war. „Iss, schau, schmecke, rieche, pass auf, gib acht”, könnte im Ernstfall spitz bemerkt haben, wer zum Suchen von Konfrontation tendiert.
Gusto Gräsers Ideenwelt aber verjährt nicht, und in den Spiegelsaal gekommen war man ausschließlich, um sich bis in die Nachmittagsstunden von ihr und Verwandtem kontrovers angeregt unterhalten zu lassen. „Der Mann war, was man heute einen Influencer nennt”, sagte Helmut Andreas Adams, und nahm dadurch den Kernbegriff vorweg, den in Anlehnung an Gusto Gräser als zeitweisen Höhlen-Bewohner Prof. h.c. Dr. Jürgen Henkel zum Thema seines Vortrags „Der heilige Arsenie Boca (1910-1989) – ein orthodoxer ´Influencer´?” hatte. Zwecks deutschen Sprechens über Biografie und Wirken des Anfang Februar 2025 von der Orthodoxen Kirche Rumäniens (BOR) heiliggesprochenen Priestermönchs Arsenie Boca hätte die GGG keinen qualifizierteren Theologen einladen können. „Heilige wie Arsenie Boca wollen nicht Follower, sie wollen hinter Christus verschwinden”, äußerte im Spiegelsaal Dr. Jürgen Henkel, Pfarrer der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. „Sie suchen nicht die Welt, sie fliehen die Welt”, was auch Freidenker Gusto Gräser auskostete.
Eines hingegen sollte mit Vorsicht goutiert werden dürfen: sich als protestantischer Kirchenmann aus dem erzkatholischen Bayern vor siebenbürgisch-sächsischem Publikum die Behauptung zu gönnen, dass „man in Deutschland als ein Influencer, Blogger oder Aktivist sogar als Experte in das Fernsehen kommt, wenn man die richtigen Meinungen hat”, rückt das Bild womöglich in ein verzerrtes Licht – besonders in Kombination mit der Unterstellung, dass die Kirchen Deutschlands „überpolitisiert” wären, und zum Vergleich die BOR Lob für den Weg der Mitte verdiene. „Iss, schau, schmecke, rieche, pass auf, gib acht”, oder? Verdienstkreuz-Träger im Gedenken an den Heiligen Andreas der Dobrudscha infolge der Auszeichnung durch den orthodoxen Hie-rarchen und verbissenen Alleingänger Teodosie von Tomis (Konstanza) ist Prof. h.c. Dr. Henkel seit nun bereits 20 Jahren.
„Kommt darauf an, wie viel er gebetet hat”, entgegnete er auf den provokanten Kommentar Marianne Hallmens, dass „Gusto Gräser als ein Katholik oder Orthodoxer heiliggesprochen worden wäre!”, worauf sich Enkelsohn Reinhard Christeller als Vorstands-Sekretär der GGG lakonisch zur Klarstellung bekannte, sein „verschrobener Großvater” wäre unter nicht-evangelischen Umständen „wohl eher exkommuniziert” worden.
Mindestens genauso tief in das Persönliche griff Buchhändler Philip Puls zum Vorschluss-Programmpunkt der GGG im Spiegelsaal, da es an ihm lag, den 2024 im Packpapierverlag Osnabrück editierten Sammelband „Taowind ins Winterland” von Hermann Müller und Ulrich Holbein zu bewerben. „Auch ich bin Schulabbrecher”, sagte Philip Puls gleich zu Beginn seiner Ausführungen, „habe aber mein Abitur erfolgreich nachgeholt, wenn auch schwierig.” An gewisser Stelle seiner freien Rede baute er schlüssig den Spruch vom „Pferd” ein, „das man zum Wasser führen, nicht aber zum Trinken zwingen kann”, und zitierte seinen „guten Freund Nietzsche”, nach dessen Meinung „man jedes Wie überstehen kann, wenn man ein starkes Warum hat.”
Das Finale des Workshops gehörte Evelin Per{enea, Teodora Bocu], Taina Presăcan, Ruxandra Mihai, Sofia Imb²ru{, Ana Cazan, Anda Brode]chi, Sofia Modrescu und Annemarie Lutsch, die als aktuelle Schülerinnen des Brukenthal-Gymnasiums zwölf Jugendgedichte von Gusto Gräser lesend rezitierten. Dass man ihren rumänischen Akzent werde hören können, hatte Monika Hay vorausgeschickt. Gemessen an der schwierigen Sprache Gräsers aber glückte ihnen der Auftrag mehr als passabel, wofür es nicht allein Applaus und kleine Erinnerungs-Präsente gab, sondern auch ein Gespräch mit den Jugendlichen über die Erarbeitung des Vorgetragenen. Ohne dass sie wie schulmeisterisch Rede und Antwort zu stehen hatten. „Das hat der Herr Gusto richtig toll gemacht!”, schloss kühn eine Schülerin. „Wollten keinen frischen Knaben, wollten einen feigen Knecht.”