Niccolò Jommelli ist, obwohl er zu seinen Lebzeiten zu den berühmtesten Opernkomponisten Europas zählte, heute nahezu vergessen. Jommelli erblickte 1714 in Aversa bei Neapel das Licht der Welt, im selben Jahr wie Christoph Willibald Gluck und Carl Philipp Emanuel Bach. Seine erste Opera buffa wurde 1737 in Neapel, seine erste Opera seria 1740 in Rom uraufgeführt. Er war dann zunächst in Bologna und Venedig als Musiker tätig, später auch in Rom an der Peterskirche. Auf den großen Opernbühnen seiner Zeit, etwa in Wien oder Mannheim, präsentierte Jommelli seine Werke, bevor ihn der württembergische Herzog Karl Eugen an seinen Hof holte. Von 1754 an wirkte er als Oberkapellmeister in Stuttgart, später in Ludwigsburg, wo 1765 das größte Opernhaus Deutschlands, wenn nicht Europas, eingeweiht wurde.
Dort, im großen Opernhaus in Ludwigsburg, wurde auch im Jahre 1766 „Berenike, Königin von Armenien“ uraufgeführt, ein Werk, das nun seit knapp 250 Jahren erstmals wieder auf einer Opernbühne zu sehen ist. Die Oper, die damals den Titel „Il Vologeso“ trug, griff einen beliebten Opernstoff des 18. Jahrhunderts auf, der auf Apostolo Zenos Libretto „Lucio Vero“ (1699) basiert. Zwischen 1700 und 1816 entstanden mindestens 80 Vertonungen dieses Stoffes von verschiedenen Komponisten unter diversen Benennungen, die zumeist einen der drei Protagonisten Lucio Vero, Vologeso oder Berenike zur Titelfigur kürten, manchmal auch unter barocken Doppeltiteln, wie zum Beispiel Reinhard Keisers Oper „Lucius Verus oder Die siegende Treue“, die 1728 in Hamburg uraufgeführt wurde.
Nach 13 Jahren der (nur ein einziges Mal durch eine längere Reise unterbrochenen) Tätigkeit als Hofkapellmeister verließ Jommelli den württembergischen Hof und kehrte nach Neapel zurück, wo er weiterhin als Opernkomponist wirkte. Seine letzte Oper „Il trionfo di Clelia“ wurde 1774 in Lissabon uraufgeführt, wo Jommelli wenig später an den Folgen eines Schlaganfalls starb.
„Berenike, Königin von Armenien“ spielt in Ephesus. Dort begegnen sich der siegreiche römische Mitkaiser Lucio Vero, der unterlegene Partherkönig Vologeso und Berenike, die Regentin des armenischen Reiches, um dessen Besitz die Römer mit den Parthern gestritten haben. Der Kampf um die Macht scheint also zu Beginn der Oper bereits entschieden, aber nicht der Kampf um die Liebe, denn Berenike ist die Verlobte Vologesos, aber Lucio Vero hat ebenfalls ein Auge auf die schöne Frau geworfen. Der Ausgang dieses Liebeshandels hat dann aber doch wieder Auswirkungen auf die Machtfrage, denn Lucio Vero muss seine Verlobte Lucilla, die Tochter Kaiser Marc Aurels, heiraten, um seines Mitregententums nicht verlustig zu gehen.
Am Ende kommt es, wie es kommen muss. Die armenische Königin Berenike bleibt, wie die Titelfigur in Andreas Gryphius’ Drama „Catharina von Georgien oder Bewehrete Beständigkeit“, standhaft und hält ihrem Verlobten Vologeso die Treue. Lucio Veros Zorn scheint dann die Opernhandlung auf eine Katastrophe zuzutreiben, die aber durch den Auftritt der Kaisertochter Lucilla als Dea ex machina im letzten Moment vereitelt wird. Am Ende ist alles wie zuvor: Vologeso bekommt sein Reich wie auch seine Verlobte zurück und Lucio segelt mit Lucilla zur kaiserlichen Hochzeit fort nach Rom. Die Tugend der herrscherlichen Großmut, die antike „magnanimitas“, hat schlussendlich gesiegt.
Die Musik, die Jommelli zu diesem Opernstoff komponiert hat, steht zwischen barockem Bombast (beispielsweise in der Sturm-Arie Lucio Veros in der 2. Szene des III. Aktes) und mozartischer Leichtigkeit, wobei sich die Waagschale eher zur verspielten, zugleich aber höchst differenzierten Seite des Rokoko hin neigt. Der italienische Dirigent Gabriele Ferro, der die Partitur für die Stuttgarter Neuproduktion (Premiere: 15. Februar 2015) einrichtete und auch den Opernabend am 9. Mai dirigierte, hat diesem besonderen Musikstil Jommellis nicht nur durch seine einfühlsame musikalische Interpretation, sondern auch durch einen besetzungstechnischen Kunstgriff Rechnung getragen. Er verteilte das motivische Material des Streichersatzes auf drei verschiedene Streichergruppen, die den musikalischen Reichtum der Jommellischen Komposition klanglich auffächerten und so berückende Klangerlebnisse schufen, die die Musik Jommellis doppelt schön erstrahlen ließen.
Einen vergleichbaren, wenngleich aus der Not geborenen Effekt konnte man am Opernabend des 9. Mai miterleben, denn der Kontratenor Igor Durlovski war kurz vor der Darbietung erkrankt, und so erklang die Stimme Anicetos, des Vertrauten Lucio Veros, gesungen von Rupert Enticknap, aus dem (kaum abgesenkten) Orchestergraben, während die Figur Anicetos zwar stumm, aber mit passenden Mund- und Lippenbewegungen, von Vladislav Parapanov szenisch auf der Bühne verkörpert wurde. Im Auseinandertreten von Gestalt und Stimme wurden Sänger und Orchester musikalisch noch näher aneinandergerückt und die kompositorische Konstruktion umso stärker erfahrbar gemacht.
Vor allem konnte man bei der Stuttgarter Aufführung die Kunst des Rezitativs genießen, wie Jommelli diese unnachahmlich auf die Opernbühne gebracht hat. Er schuf nämlich einen kompositorischen Ausgleich zwischen bloßen Secco-Rezitativen und überreichen Koloraturen, indem er das Orchester in die sprachnahe Rhetorik der Sänger lebendig mit einbezog. Ein Zeitgenosse Jommellis hat dies bereits erkannt und folgendermaßen kommentiert: „Sehr wohl gibt es einige Rezitative mit obligater Streicherbegleitung – es sind sogar die Allerschönsten –, aber sie sind selten. Wenn sie mit Vollkommenheit behandelt sind, wie einige von Jommelli, die ich gehört habe, muss man gestehen, dass sie durch die Kraft der Deklamation und den sublimen harmonischen Reichtum der Begleitung das Allerdramatischste sind, was man sehen und sich vorstellen kann, dem besten französischen Rezitativ und den schönsten italienischen Arien weit überlegen.“
Die wunderbaren Stimmen von Sebastian Kohlhepp (Lucio Vero), Sophie Marilley (Vologeso), Ana Durlovski (Berenike), Helene Schneiderman (Lucilla) und Catriona Smith (Flavio) machten den Stuttgarter Opernabend zu einem reinen Genuss, der durch einen Kunstgriff der Regie (Jossi Wieler und Sergio Morabito), zumindest für manche Zuschauer, noch gesteigert wurde. Die Zirkus-Szene nämlich, in der Vologeso dem Löwen zum Fraß vorgeworfen wird, in der die besorgte Berenike ihm daraufhin zu Hilfe eilt und der entsetzte Lucio Vero sein Schwert hinterher reicht, damit der wehrlose Vologeso die Bestie töten und damit Berenike und auch sich selbst retten kann, spielt nicht auf der Bühne, sondern in der vierten Reihe des Zuschauerparketts. Wer als Zuschauer dieser Inszenierung das Glück hat, direkt neben dem (imaginären) Löwen und damit im intensiven Klangraum grandioser Stimmen zu sitzen, wird dieses Erlebnis nicht mehr vergessen.
Wenig aussagekräftig war dagegen die Bühnendekoration von Anna Viebrock. Die große Freitreppe im vorderen Teil der Bühne stammte vermutlich aus Raffaels „Schule von Athen“ (1509), im mittleren Bereich war der Bühnenraum inspiriert von Tintorettos „Fußwaschung“ (um 1550), wobei Gestalten aus diesem Gemälde als riesige zweidimensionale Pappkulissen ins Ambiente drapiert wurden, als handle es sich um einen Sketch der britischen Komikertruppe Monty Python. Im hinteren Teil der Bühne, abgetrennt durch Tintorettos Säulen in Form lose baumelnder Stoffbahnen, waren dann heruntergekommene und teilweise zerstörte Häuser der architektonischen Gegenwart sichtbar. Doch das Rätselhafte und Befremdliche dessen, was man als Kulisse sah, wurde durch das, was man bei dieser empfehlenswerten Opernproduktion hören und szenisch erleben konnte, um ein Vielfaches aufgewogen.