Auf Einladung des Departments für germanische Sprachen und Literaturen der Fakultät für Fremdsprachen an der Universität Bukarest, der Leiterin der Österreich- Bibliothek „Hugo von Hofmannsthal“ Bukarest, Prof. Dr. em. Mariana-Virginia Lăzărescu, und des Österreichischen Kulturforums Bukarest fand im April 2024 eine Online-Lesung mit der vielfach preisgekrönten österreichischen Schriftstellerin Anna Baar statt, die von der damaligen OeAD Lektorin Helena Haid moderiert wurde. Infolge des damals organisierten Workshops entstanden auch einige Texte von Studierenden der Germanistik Bukarest. Die Leiterin der Österreich Bibliothek Bukarest traf die Autorin auf der Buch Wien im November 2024 wieder. Im Februar dieses Jahres führte Mariana-Virginia Lăzărescu mit ihr folgendes Gespräch für die ADZ.
Sie sind 1973 als Tochter eines österreichischen Vaters und einer aus Dalmatien stammenden Mutter in Zagreb geboren, zweisprachig in Wien, Klagenfurt und sommers bei den Großeltern auf der dalmatinischen Insel Brac aufgewachsen. Was bedeutet Ihnen diese Herkunft als Autorin von Lyrik, Prosa, Reden und Essays sowie von literarischen Stücken zu künstlerischen Produktionen und Ausstellungen?
Die Herkunftsfrage stand immer schon im Raum, oder besser gesagt: Sie stand in allen Räumen, die bezüglich Heimatberechtigung in Frage kamen. Man hört mir ja das Holpern in beiden Sprachen an. Außerdem gab und gibt es in den beiden Welten markante Unterschiede in Erziehung und Alltagsgestaltung, in der Vorstellung eines gelungenen Lebens, in der Verhaltenserwartung. Nicht immer ist es gelungen, das zusammenzubringen. Also hab ich mir eigene Welten ersponnen, in denen nur das galt, was ich mir auferlegte. Ich war ein schweigsames Kind, verstockt und oft beleidigt, immer in Gefahr, irgendwas falsch zu machen, immer angewiesen auf Nachsicht und Vergebung, ziemlich unsympathisch. Das Schreiben war die Rettung. „Du schreibst, weil du nicht reden kannst, weil du dein Maul nicht aufbringst …“, so etwas in der Art sagt der Teufel zu einer Romanfigur in „Die Farbe des Granatapfels“. Und auf ganz eigene Weise trifft das auch auf mich zu. Es hat seine Zeit gebraucht, mich mit der Zaungastrolle der allerorts Zugereisten nicht nur abzufinden, sondern anzufreunden. Nie ganz dazuzugehören, hat wohl auch sein Gutes: das Leben als teilnehmende Beobachtung zu begreifen, als Anruf zur dauernden Wandlung, die über das Erwartbare oder für möglich Gehaltene manch-mal weit hinausgeht, Grenzen überwindet, war und ist wesentlich für mein Selbstverständnis und auch für mein Schreiben.
Nach einem abgebrochenen Medizinstudium studierten Sie Publizistik, Slawistik, Theaterwissenschaft und Medienarbeit an den Universitäten Wien und Klagenfurt. 2008 wurden Sie an der Universität Klagenfurt zum Dr. phil. promoviert. Was können Sie uns über Ihre wissenschaftliche Tätigkeit sagen?
Ich mochte es immer, unterschiedliche Perspektiven anderer einzunehmen und abzuwägen, um zu etwas Eigenem zu gelangen und das auch zu begründen. Wissenschaftliches Arbeiten ist auch ein Zusichkommen, wenn man es richtig anstellt. Aber es hat sich bei mir auf die paar Studien beschränkt, die mich interessiert haben.
Sie nahmen mit einem Auszug aus „Die Farbe des Granatapfels“ am Ingeborg-Bachmann-Preis 2015 teil. Kurz darauf erschien im Wallstein Verlag der gleichnamige Roman, in dem das Aufwachsen eines Kindes zwischen zwei Kulturen thematisiert wird. Warum glauben Sie, dass der Roman mehrere Monate auf Platz 1 der ORF-Bestenliste stand und für den Rauriser Literaturpreis und den Literaturpreis Alpha nominiert wurde, wo er es jeweils auf die Shortlist schaffte?
Ich glaube, hoffe zumindest, dass es an der Form lag, am Ton und an der Sprache, weniger am Inhalt.
Für die Arbeit an „Als ob sie träumend gingen“ wurden Sie 2017 mit dem Theodor-Körner-Preis ausgezeichnet. Der Roman, der die Lebens- und Liebesgeschichte eines Kriegshelden erzählt, kam 2018 auf die Hotlist der besten 10 deutschsprachigen Bücher aus unabhängigen Verlagen. Die Kritiker meinten, es sei ein Roman über Erinnerungen voller erfundener Wahrheiten. Der Roman spielt auch in Dalmatien. Können Sie uns einiges über Ihre Schreib- und Erzähltechnik verraten?
Dalmatien als solches ist nirgendwo festgeschrieben. Die Geschichte muss sich überall auf der Welt ereignet haben können. Vom Kleinen und Nachvollziehbaren in ein Größeres zu kommen, in die Allgültigkeit, das war mir immer wichtig. Alles andere wäre Nacherzählung oder Berichterstattung.
Der Roman „Nil“ wurde von der Kritik als eine poetische Selbstbefragung voller origineller, grotesker und grausamer Bilder gelesen. Auch hier geht es um Geschichtenerfinden, um Grenzen der Erzählkunst. Der Roman stand 2021 zwei Monate lang auf Platz 1 der ORF-Bestenliste und auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis. Wie wichtig ist Ihnen als Autorin das Verhältnis zwischen Fiktion und Realität, zwischen Vergangenheit und Vergessen?
Das Erfundene greift ins Erlebte ein. Umgekehrt ist es genauso. Man kann nur aus dem Schöpfen, was einem gegeben ist. Und das Vergangene ist immer halbvergessen. Wenn wir meinen, uns an etwas zu erinnern, füllen wir Gedächtnislücken mit erdachten Bildern. Mir geht es nicht da-rum, Realität abzubilden, sondern vielmehr darum, sie zu überwinden, Welträume zu erschließen, die vielleicht immer da waren, aber unbetreten.
In fast allen Ihrer Essays und Reden geht es vorwiegend um Minderheiten, Randgruppen, identitäres Denken und provinzielle Engstirnigkeit, um Heimatliebe und Geschichtsverdrehung, aber auch um komische Familiensagen, Kindheitserinnerungen und Reiseerlebnisse. Auch „Divân mit Schonbezug“ brachte es mehrfach auf die ORF-Bestenliste. Es sind Geschichten über das Heranwachsen zwischen den Kulturen. Was bedeutet Ihnen Heimat, wie definieren Sie diesen strapazierten Begriff?
Heimat ist kein Ort, sondern eine Zeit, der man hinterherrennt und die man niemals einholt. Man muss rückwärtslaufen. Die Orte, an denen ich meine Lieben weiß, nenne ich mein Zuhause.
Sie sind bekannt als Autorin, die Sprachrhythmus und -melodik sorgfältig pflegt. Seit 2016 haben Sie zahlreiche literarische Texte zu musikalischen Werken verfasst, etwa den Booklet-Text zu André Hellers 2019 erschienenem Album „Spätes Leuchten“ und Beiträge für Premierenhefte der Wiener Staatsoper, darun-ter Texte zu „Der Rosenkavalier“, „Die Frau ohne Schatten“, „Macbeth“ u.a. Ein eigenes Libretto zu Musik des in Guatemala gebürtigen deutschen Komponisten Dieter Lehnhoff, eine kaleidoskopische Collage aus Ulysses-Zitaten und freien Assoziationen wurde anlässlich des Bloomsday im Juni 2022 unter dem Titel „Rosenkränze aus Korken“ („Seht das Schiff heimwärts ziehen“) am Salzburger Mozarteum vom Gunnar Berg Ensemble Salzburg uraufgeführt. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Musik und Schreiben?
Als Schülerin am Musikzweig eines Stiftsgymnasiums lernte ich komponieren. Und das Augenmerk im Hinblick auf Ton und Rhythmus ist mir wohl geblieben. Ob es immer gut ist, beim Schreiben „im Takt“ zu bleiben, sei dahingestellt. Manchmal meine ich mich von einem verflixten Dämon an die Kandare genommen. Dann wieder scheint es gut so.
Beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2022 hielten Sie die traditionelle „Klagenfurter Rede zur Literatur“ mit dem Titel „Die Wahrheit ist eine Zumutung“, deren Text im „Standard“ abgedruckt wurde. 2022 erhielten Sie den Großen Österreichischen Staatspreis, der als höchste Kulturauszeichnung der Republik gilt. Kunst- und Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer würdigte Sie als „unverwechselbare Stimme auf der Bühne der Gegenwartsliteratur. Sie ist Sprachkünstlerin im besten Sinne und zeigt uns, was Literatur im Zeitalter der Digitalisierung und Mediatisierung unserer Gesellschaft leisten kann: nämlich in der Kunst der Erzählung und des Romans authentische Erfahrungen und Erkenntnisse über unsere Gegenwart vermitteln und unseren Sinn für Unrecht, Irrtümer und Versäumnisse, Risiken und Möglichkeiten schärfen.“ Was bedeuten Ihnen Auszeichnungen und literarische Preise?
Jede Würdigung meiner Arbeit freut und tröstet mich auch ein bisschen, weil das Schreiben nicht nur Aufmerksamkeit, Kraft und Disziplin verlangt, sondern auch Opferbereitschaft. Ich müsste einige Menschen, vor allem aber die aus meinem engsten Umfeld um Verzeihung bitten angesichts des Rückzugs, angesichts der Weltflucht. Da denke ich zuerst an meine erwachsenen Kinder. Sie sehen, es war nicht umsonst, mich entbehrt zu haben über manche Strecke ihrer frühen Jugend, wenn es einen Preis gibt.
Sie haben den Text „Gut genug“ in der Anthologie „In der Wüste Bäume pflanzen. In welcher Welt wollen wir 2040 leben?“ veröffentlicht, einem von Elke Atzler und Manfred Müller im Auftrag der Sektion für internationale Kulturangelegenheiten des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten herausgegebenen Band mit einem Geleitwort von Christoph Thun-Hohenstein (Wien: Luftschacht Verlag 2024, S. 37-45). Bekanntlich führen darin 14 österreichische bzw. in Österreich tätige Autorinnen und Autoren einen Dialog über aktuelle Themen wie Klimawandel, Biodiversitätskrise, technologische und gesellschaftliche Entwicklungen, Krieg u.a.m. mit Partnerinnen und Partnern aus dem Ausland. Daraus entstanden literarisch-künstlerische Texte, die zum Nachdenken über Gegenwart und Zukunft anregen, mal Lachen, mal Schrecken auslösen. Ihr Dialogpartner, dessen Text den Titel „Gespräch im Kaffeehaus“ (S. 47-58) trägt, ist Ales Steger, der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Der Dichter, Schriftsteller, Lektor und Journalist, der für seine Gedichte, die in viele Sprachen übersetzt und weltweit in über 200 Literaturmagazinen veröffentlicht wurden, zahlreiche bedeutende Preise erhielt, Lyrik, Essays und Romane veröffentlichte, ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz sowie der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Wie gestaltete sich Ihre Zusammenarbeit für die Anthologie?
Ales ist ein fabelhafter Erzähler, ein kluger, hellsichtiger und freundlichkeitsbegabter Mensch. Wir sind uns ein paarmal begegnet, in Graz und anderswo, und immer war es so, als kannten wir uns lange. Ich habe lange gezögert, als ich vom Projekt erfahren hab, weil ich noch nie mit einem Zweiten gearbeitet habe, jedenfalls nicht literarisch. Er hat gleich zugesagt, als ich ihn gefragt hab, ob er mein Partner sein will. Und wir haben uns sofort darauf geeinigt, uns den Freiraum zu lassen, den nötigen Rückzug, um das eigene auszuhecken und einander schließlich damit zu überraschen. Wenn es ein Merkwort gibt für unsere Gemeinschaftsarbeit, dann „Vertrauensvorschuss“.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.