Bekokten - Ein (fast) Dreizehnjähriger wie jeder andere – einer mit Plänen, Hoffnungen, Ideen. Und mit einem Lächeln in den Augen. Und einem Handy.
Auch für andere Dreizehnjährige spielt sich das Leben am Handy ab. Aber sie haben dazu auch noch ein Dach über dem Kopf, ein eigenes Bett, in dem sie schlafen, Eltern, die sie mit Essen und Kleidern versorgen, die Möglichkeit, in die – ach, so lästige – Schule zu gehen. Artem nicht. Er ist ein Flüchtlingskind aus der Ukraine. Mit ein paar in der Eile gepackten Sachen ist er unterwegs. Weder er noch seine Mutter sind des Rumänischen mächtig, mit einigen Brocken Englisch schlagen sie sich durch. Sie sitzen in einem Bus voller Flüchtlinge auf der Fahrt in ein Auffanglager, in das sie gar nicht wollen. Nach einer Odyssee der Telefonate und Fahrten werden sie dann letztlich in unser vorübergehend als Flüchtlingsheim fungierendes Jugendzentrum gebracht. Es ist mitten in der Nacht, als sie ankommen. Sie fallen ins Bett.
Am nächsten Tag wacht Artem auf – in einem Dorf mitten im Nirgendwo. In der Nacht ist Schnee gefallen. Er geht bis weit über die Knöchel. Artem friert, aber in seinen Augen ist das Lächeln zu erahnen.
Am Nachmittag wird er gemeinsam mit seiner Mutter in die Stadt gebracht. Sie suchen in der Kleiderkammer erfolglos nach Schuhen. Artems Schuhe sind kaputt. Er trägt Schuhgröße 40. Ich auch. Und bei mir im Schuhregal stehen welche, einmal getragen. Ich drücke sie ihm in die Hand. Seine Mundwinkel gehen nach oben.
Wir warten mit Artem und seiner Mutter auf den Linienbus aus Jassy. Da sitzen eine Großmutter mit zwei Enkelkindern drin, Arsenii (15) und Ksenia (11) – ihre Eltern sind beide im Ukrainekrieg involviert. Die Fünf waren gemeinsam aus der Ukraine geflohen und hatten sich unterwegs aus den Augen verloren. Nun sind sie wieder zusammen, nicht mehr ganz so verloren in einem fremden Land.
Zwei Tage später treffe ich Artem und die anderen in unserem Heim untergebrachten Flüchtlinge beim Abendessen. Ich habe Kuchen mitgebracht, den jemand gespendet hat. Artems Mundwinkel gehen weiter nach oben. Sie erhalten die Gratiszugfahrkarten mit reservierten Plätzen bis nach Kassel. Sie sind erleichtert und froh, dass es nun bald an einen Ort geht, an dem sie länger bleiben können. Nach dem Essen zieht sich Artem an, um in sein Zimmer zu gehen. Er hat eine leuchtend grüne Mütze auf. Er kommt zu mir, zeigt auf seine Schuhe und sagt: „Dankeschön, dankeschön!“ Ich umarme ihn. Ich freue mich, dass die Schuhe passen. Ich habe noch nie so viel Dankbarkeit in einem Gesicht gesehen.
Während des Abendessens sortieren wir einige Hilfsgüter, die wir mitgebracht haben: Hygieneartikel, Babynahrung, Pampers, Spielzeug, Malbücher und Stifte, Hefte. Artem sucht sich einige Hefte und eine Packung Buntstifte aus. Dazu, wenn ich richtig sehe, eine Zahnbürste. Und er läuft hinter mir her, während ich noch sortiere, und sagt ununterbrochen: „Thank you, thank you, dankeschön!“ Auch Ksenia und Arsenii sind glücklich über Hefte, Stifte und Hygieneartikel.
Am Abend besuche ich sie noch einmal in ihrem Zimmer. Ich bringe ihnen Miniplüschtiere als Glücksbringer mit. Artem kriegt den Regenbogenfisch. Ich finde, die Silberschuppe des Regenbogenfisches passt zu seinem Lächeln. Wieder überschütten mich die Kinder mit einer Flut von Dankeschöns. Artems Mutter fragt über Google Translate auf dem Handy, ob denn die Kinder in Kassel in die Schule gehen können. Das ist ihre größte Sorge. Und die Oma von Ksenia und Arsenii sagt nur „Odessa“ und legt sich die Hand aufs Herz. Sie will eigentlich nur nach Hause. Aber auch sie weiß: um der Sicherheit der Enkel willen ist es besser, erst einmal in die andere Richtung zu ziehen.
Sie sind noch übers Wochenende da, dann treten sie die Reise nach Kassel an. Ich sehe sie schon aus dem Zug winken, Artem, Ksenia und Arsenii, deren Leben sich – hoffentlich nur vorübergehend – auf ihr Handy beschränkt. Und der Regenbogenfisch winkt mit seiner Silberschuppe …
P.S.: Artem, Ksenia und Arsenii sind drei Flüchtlingskinder aus der Ukraine, aber sie stehen für hunderttausende von Kindern, die das gleiche Schicksal teilen. Sie sind mit ihren Müttern oder Großmüttern auf der Flucht und bangen um ihre Väter, Großväter, Onkel oder älteren Brüder. Und sie wollen nur eins: NACH HAUSE! Und weil das nicht möglich ist, wollen sie wenigstens in die Schule. Aber sie können noch lächeln – und solange Kinder lächeln können, ist noch Hoffnung da.