Hermannstadt – Beim Blättern auf ihrer Homepage findet sich im neuesten Foto-Projekt auch ein französischer Taschenkompass, kopfüber an einem mit historischen Schwarzweißfotos behängten und von hinten angestrahlten Netztuch haftend. Oben der Süden, unten der Norden, links der Osten und rechts der Okzident. Es ist nicht bis in allerletzte Details eindeutig, wie weit Géraldine Cario sich auf ihrer Reise von Frankreichs Hauptstadt zur ukrainischen Metropole an der Schwarzmeerküste in der Tat von Indizien ihrer eigenen Abstammung hat treiben lassen. Dazu ist die Welt viel zu komplex und letztlich undurchschaubar. Als Kunstfotografin aber hat Géraldine Cario 20 ausgesuchte Diafilm-Farbaufnahmen ihrer Bahnfahrt und Recherche von Paris nach Odessa auch in Bukarest, Temeswar und Iași gezeigt, und Donnerstagabend, am 6. Februar, auf Vermittlung durch das Deutsche Kulturzentrum Hermannstadt in der Brukenthalmuseums-Abteilung für Zeitgenössische Kunst in der Quergasse/Tribunei vorgestellt. Wer die absichtlich unscharfen Fotos der Reihe nach betrachtet, bekommt vielleicht gerade deshalb ein ziemlich genaues Bild vom bürgerlich geschüttelten Europa der Zwischenkriegszeit und des Zweiten Weltkriegs selbst vorgehalten. Die Ausstellung „Paris – Odessa: Eine Reise im Hell-Dunkel“ steht ihren Besuchern noch bis Sonntag, den 2. März, offen, Montag und Dienstag als Ruhetage jeweils ausgenommen. Was Géraldine Cario und wahrscheinlich auch nicht wenigen Vorbeischauenden häufig zu denken gibt? Dass dem römischen Zifferblatt im Zentrum ihrer Foto-Collage auf geraldinecario.com (Rubrik Śuvres/Works) das Uhrwerk und die Zeiger fehlen. Noch nie zuvor war Orientierung so schwer wie heute.
Deswegen lässt auch das Künstlerische der Exponate von Géraldine Cario wenige Interpretationen zu. Ihre Ausstellung überzeugt nicht artistisch, sondern ideell und programmatisch, ist dem aus Ägypten stammenden Kulturaktivisten Aalam Wassef gewidmet und für das östliche Europa ein dringender Fingerzeig auf verwilderte jüdische Friedhöfe. Die Gedichte der französischen Fotografin und ihr an der Wand hängendes „Memorial für gestürzte Wörter“ in zwölf Kästen – das einzige schwarzweiße Exponat – sind das Credo einer beherzt Forschenden, die sich über das unstete Leben ihrer Vorfahren schon seit Jahren im Klaren ist und folglich auch von Orten weiß, die „im Laufe der Zeit ihre Namen geändert haben.“ Brukenthalmuseums-Intendant Dr. Alexandru Chituță konnte den Vernissage-Termin leider nicht wahrnehmen, ließ sich aber von Dr. Valentin Trifescu vertreten, der die Zuarbeit der Volontäre Laurențiu Cristescu und Erik Hartmann erwähnte und sich das Moderieren mit Ana-Maria Daneș, der Leiterin des Deutschen Kulturzentrums im rumänischen Sibiu, teilte. Géraldine Cario wiederum spielte, als ihr das Wort zur Eröffnung überlassen wurde, sofort ihre höchste Karte aus: „wie ein Blitzkrieg gegen das Vergessen von Geschichte“ habe sich die Reise von Paris nach Odessa angefühlt. „Es beginnt immer mit Wörtern. Entweder nehmen wir die ersten Warnzeichen ernst oder gehen in den Krieg.“