Auf dem Kreidestrich gehen

Interview mit Jean-Philippe Léagut, Gründer des „Solidarischen Vereins Emmaus Sathmar“

Jean-Philippe Légaut hat eine Doktorarbeit über seine Erfahrungen in den Kinderheimen in Rumänien geschrieben, die auch als Buch erschienen ist. | Fotos: privat

Mit 18 Jahren beginnen die meisten Jugendlichen einen neuen Lebensabschnitt – oft mit Glückwünschen, Geschenken oder einer Party. Die Zuständigen für ihre Erziehung haben in diesen Jahren nie außer Acht gelassen, dass dieses die Welt der am besten Angepassten und Fittesten ist; ein Wettlauf, dessen Startlinie nicht für alle die Gleiche ist, denn man ist die Summe der Dinge, die in einen investiert werden. Doch was, wenn mit 18 Jahren niemand auf dich wartet und du statt Unterstützung auf dem Hintergrund von Misshandlung und Trauma etwas aufbauen musst?
Der „Solidarische Verein Emmaus Sathmar“ bietet jungen Menschen, die mit 18 Jahren aus dem staatlichen Kinderschutzsystem entlassen werden, eine Chance zur Heilung und Selbstfindung. Der Verein ist eine der wenigen Optionen landesweit, die diesen jungen Menschen ein Zuhause, Arbeit und Unterstützung bieten, um die sozialen und beruflichen Fähigkeiten zu entwickeln, die für ein eigenständiges Leben notwendig sind. Ohne diese Ressourcen sind sie einer hohen Gefahr von Obdachlosigkeit, Missbrauch und Ausgrenzung ausgesetzt. Über die Realität einer solchen Arbeit, die er „Mentoring“ nennt, sprach der Gründer des Vereins Jean-Philippe Légaut mit ADZ-Redakteurin Cristina Ciubotaru.

Wie sind Sie nach Rumänien gekommen und warum sind Sie geblieben?
2006 kam ich erstmals nach Rumänien, als Freiwilliger im Verein „Freres Romania“. Ich wollte eine konkretere und weniger intellektuelle Erfahrung und war tief beeindruckt von der Widerstandskraft der Menschen im Verein. Damals entdeckte ich, dass etwas, das auf den ersten Blick wie ein „niedriger Job“ aussieht, eigentlich eine sehr komplexe Aufgabe ist. Ich begann eine Doktorarbeit über Kinderheime in Rumänien. Ich wollte den Kontext, in dem sich das System entwickelte, besser verstehen.

Was macht der Verein Emmaus?
„Emmaus Sathmar“ gründete ich als neuen Verein in 2010 zusammen mit mir sehr lieben Freunden. Es ist ein lokaler Verein, der separat von der internationalen Emmaus-Bewegung zu verstehen ist. Unser Verein widmet sich der Integration junger Menschen, die das Schutzsystem verlassen. Emmaus Sathmar bietet jungen Menschen aus benachteiligten Verhältnissen, meist außerhalb des Kinderschutzsystems, ab 18 Jahren ein Zuhause im Gemeinschaftshaus, einen Arbeitsplatz in den Secondhand-Läden oder in der Schneiderwerkstatt des Vereins und Unterstützung, um Grundkenntnisse wie persönliche Hygiene, Alltagsbewältigung und berufliche Fähigkeiten zu erwerben. Wir ermutigen sie, an Beratungsgesprächen, Therapien, Schulungen teilzunehmen, ihre Ausbildung abzuschließen und ihre Freizeit auf richtige Weise zu verbringen und möchten ihnen helfen, aktive, selbständige und zufriedene Mitglieder der Gesellschaft zu werden. Der Verein ist Teil des rumänischen Netzwerks sozialer Unternehmen RISE und fördert die Integration auf dem Arbeitsmarkt für Menschen in Schwierigkeiten.

Wie kommen junge Menschen normalerweise zu Emmaus und warum?
Das Problem der im Schutzsystem aufgewachsenen Menschen ist hier und in anderen europäischen Ländern groß. In Rumänien können junge Menschen bis zum Alter von 26 Jahren Anspruch auf Schutz haben, wenn sie sich in einer Ausbildung oder in einer anderen Situation der beruflichen Integration befinden. Viele verlassen jedoch das System um ihren 18. Geburtstag herum, oft mit der Hoffnung auf Freiheit, wobei die finanziellen Rechte, die mit dem Austritt aus dem System hinzukommen, ein Reiz mit abnormalem Effekt sind. Dabei haben sie keine stabile Zukunft vor sich.
Die Jugendlichen, die zu Emmaus kommen, benötigen einen Übergang, der Freiheit und Sicherheit vereint und in dem sie ihr Erwachsensein aufbauen und ausprobieren können. Einige sind schon auf diesem Weg gescheitert und suchen nun erneut Stabilität und einen Neuanfang.

Welche Wünsche haben sie, wenn sie zu Ihnen kommen?
Die meisten jungen Menschen, die zu Emmaus kommen, wünschen sich ein „normales“ Leben: ein festes Zuhause, einen Arbeitsplatz und stabile Beziehungen. Natürlich gibt es auch kindischere Träume, wie z. B. ein tolles Auto o. Ä. Meistens gelingt es uns, Ziele zu priorisieren.
Wir wissen, dass ihre Zeit bei uns begrenzt ist. Sie bleiben durchschnittlich zwei bis drei Jahre, bzw. so lange, wie die Sicherheit, die wir bieten, eine notwendige Krücke ist.
Der erste Schritt ist die Aneignung der Kompetenzen eines selbständigen Lebens, ohne die eine berufliche Integration nicht möglich ist – persönliche Hygiene, Gesundheitsfürsorge. Ein wichtiger Schritt ist das Erlernen grundlegender Fähigkeiten im Bereich Haushaltsführung – Ordnung, Einkaufen, Kochen – und finanzielle Erziehung – Priorisierung der Ausgaben, gesunde Richtwerte.
Viele der Jugendlichen haben in ihrer Vergangenheit wenig Zuneigung erfahren. Das Gefühl der Verlassenheit, die Fragen der eigenen Vergangenheit können bestimmte Pathologien, die hauptsächlich mit Angst zu tun haben, hervorrufen und zwischenmenschliche Beziehungen beeinträchtigen. Daher ist es wichtig, eine Gemeinschaft zu schaffen, die auf Toleranz und Akzeptanz basiert.

Welche Schwierigkeiten haben junge Menschen aus sozialer Perspektive, bzw. in der Berufsentwicklung?
Allen im Heim Untergebrachten bieten wir einen Eingliederungsjob. So können sie in ein Aktivprogramm integriert werden. Ein Job ist der Schlüssel zur Unabhängigkeit. Die Tatsache, dass ein junger Mensch sich dem Arbeitsrhythmus anpasst, verantwortungsbewusst und sogar fleißig wird, ist die Garantie dafür, dass er sein Leben auf eigene Faust leben kann. Dieser langfristige Prozess ist der schwerste von allen.

Was setzt Mentoring voraus?
Zu diesem Thema ließen sich viele lange Arbeiten schreiben. Wenn ich jedoch zusammenfassen müsste, setzt Mentoring eine stete Anpassung an die Bedürfnisse der Mentees voraus. Dann muss ein Gleichgewicht zwischen Zuneigung bzw. Verfügbarkeit und Grenzen gefunden werden. Meiner Erfahrung nach ist eine Mentoring-Beziehung nur so effizient und sie wird erst mit Verfügbarkeit und Beständigkeit glaubwürdig.
Der schwierigste Punkt ist aber, ein Gleichgewicht zwischen Sicherheit und Bequemlichkeit für den Mentee zu schaffen, also zwischen Sicherung und Förderung. Man muss sich schrittweise zurückziehen, damit der Mentee lernt, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Allgemein sind solche Beziehungen gar nicht einfach.

Erinnern Sie sich an ein gelungenes bzw. an ein misslungenes Mentoring?
Eine Mentoring-Situation ist ein Kompromiss zwischen Ansprüchen und Stärken einerseits und der Realität und Schwächen andererseits. Wir stehen wie auf der Kreidelinie und es fehlt nicht an Höhen und Tiefen. Es ist auch für den Mentor stets ein Lernprozess.
Ein erfolgreiches Mentoring war z. B. bei einem jungen Mann, der mit Hilfe von Ermutigungen und Einschränkungen seinen Abiturabschluss trotz ursprünglich fehlender Disziplin schaffte. Hingegen war Mentoring nicht so erfolgreich, als ich einen jungen Mann mit großem intellektuellem Potenzial dazu bringen wollte, Buchhaltung zu studieren, obwohl er Lkw-Fahrer werden wollte. Ich habe gelernt, meine Wünsche nicht auf das Schicksal der anderen zu projizieren.
Manchmal ist es auch schlimmer, denn die Autorität eines Mentors reicht nicht aus, um den jungen Menschen durch die Gefahren des Lebens wie toxische Beziehungen, Drogen, andere Süchte zu führen. Frust kommt also mit dem Job. Es ist auch eine Lektion in Bescheidenheit, eine Erinnerung an die existenzielle Grenze, die zwischen zwei Menschen besteht. Man muss akzeptieren, dass man das Leben der anderen nicht für sie leben kann, und die Hoffnung bewahren, dass sich der eigene Input eventuell auszahlt.

Was ist für junge Menschen am schwierigsten, im von Emmaus vorgeschlagenen Programm einzuhalten?
Die größten Schwierigkeiten sind das Einhalten der Regeln und das Mentoring selbst. Eine der meist umstrittenen Regeln, die wir nun in den Sozialdienstverträgen festhalten, ist, dass ein Teil des Gehalts und der staatlichen Zuwendung für den zukünftigen Kauf einer eigenen Wohnung gespart werden soll. Das Beispiel der ersten Generation, die es geschafft hat, eine Wohnung zu kaufen, ist das beste Argument für den Sparplan.
Ein weiteres Problem ist die Lebenshygiene, wobei es klare rechtliche Strafen für z. B. Drogenkonsum und Gewalt gibt, jedoch bleiben andere Situationen der Interpretation offen, wie Umgang mit Alkohol, Glücksspiele, Betrug o. Ä. Ein sehr gutes Vertrauensverhältnis und Respekt seitens des Mentors für die Entscheidungen des Mentees vor dem Abschluss des Programms ist der einzige Weg, um dem Mentee zu anderen Werten oder anderen Gewohnheiten zu verhelfen.

Was denken Sie über erfolgreiche und weniger erfolgreiche Abschlüsse?
Ich unterscheide zwischen drei Gruppen von Mentees: diejenigen, die trotz aller Schwierigkeiten eine Stabilität erreicht haben, diejenigen, die weiterhin trotz Rückschlägen kämpfen, um nicht mehr um ihr Leben zu fürchten, und diejenigen, die aufgegeben haben, steckengeblieben sind oder Umwege gehen.
Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes voller Ehrfurcht vor denen, die trotz allem ihr Boot nicht untergehen lassen. Ich frage mich oft, woher sie die Kraft nehmen, und bin mir nicht sicher, ob ich diese Widerstandskraft hätte.
Was diejenigen betrifft, die aussteigen, sie lassen ein tiefes Gefühl der Traurigkeit bei uns zurück.

Warum Emmaus?
Die 1971 in Frankreich gegründete Emmaus-Bewegung hat 425 Mitgliedsverbände in 41 Ländern in Afrika, Amerika, Asien und Europa. Diese Organisationen führen auf lokaler Ebene wirtschaftliche Aktivitäten für die am stärksten ausgegrenzten Menschen durch, um den Zugang zu Grundrechten für alle zu gewährleisten. Wir sind keine Filiale, sondern ein selbständiger Teil des Netzwerkes.
Unser Verein sowie die gesamte Emmaus-Bewegung sind säkular, und für mich ist es wichtig, dass wir unabhängig von kirchlichen Institutionen bleiben, die meiner Meinung nach oft Geist und Buchstabe verwechseln und so zu einem Hindernis für das Verständnis der wahren Botschaft des Evangeliums werden.
Trotzdem trägt der Verein einen biblischen Namen, der von der Geschichte der Jünger stammt, die auf dem Weg nach Emmaus vom auferstandenen Jesus begleitet werden und deren Herz bei der Begegnung mit der Weisheit und Befreiung von Kummer „brennt“. Diese Erzählung steht für Hoffnung und Unterstützung der Menschen, die vom Leben verletzt wurden.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten für sich und Emmaus, welcher wäre das?
Besonders wichtig wäre eine bessere Subventionierung von Arbeitsplätzen in sozialen Unternehmen, also ein stabilerer rechtlicher und finanzieller Rahmen zur Unterstützung der Sozialunternehmen. In den meisten EU-Ländern werden Arbeitsplätze  von berufsbegleitenden Mitteln vom Staat mit bis zu 90 Prozent der Lohnkosten subventioniert. Auf gesellschaftlicher Ebene handelt es sich nicht um einen zusätzlichen Aufwand, denn der junge Mensch, dem heute ein Eingliederungsjob subventioniert wird, zahlt bis zur Rente Gebühren, Steuern und Beiträge und trägt so zu einer wohlhabenderen, vielfältiger entwickelten und gerechteren Gesellschaft bei.

Vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg weiterhin!


Mehr über die Initiative unter www.emmaussm.ro