Auf den Zahn gefühlt und beharrlich den Ton gebrannt

Ovidiu Boitor behandelt in einer Schulpraxis und töpfert am liebsten Steingut und Porzellan

Keramische Arbeit kann sehr zeitaufwändig sein – aber sie bedeutet Ausgleich zum Job als Zahnarzt und ist an erster Stelle gestalterisch statt Routine.

Den weiß angestrichenen Schopfen im Garten vom Kleinscheuerner Bauernhaus haben Ovidiu Boitor und seine Eltern fast komplett neu bauen müssen. | Fotos: Klaus Philippi

Betreffend Bohrer verwenden Zahnärzte die Turbine und den von der Drehzahl her sehr flexiblen Schnellläufer, der im rumänischen Fachjargon „albinuță“ (Bienchen) heißt.

„Ich hab´s nicht so mit Weihnachtssachen“, erklärt Ovidiu Boitor nebenbei in seinem Atelier in Kleinscheuern/Șura Mică. Aber auch im Raum Hermannstadt/Sibiu rufen die Dezember-Marktangebote, und vor der Entscheidung, sich rechtzeitig etwas dafür einfallen zu lassen, kann er sich schwer drücken. Obschon die Arbeit mit Lehm ihm keine dringenden Einnahmen für den Lebensunterhalt sichern muss und er auch der Nachfrage nach billiger Dekoration, die sich sehr einfach in Serie produzieren lässt und öfters von Hersteller zu Hersteller gleich aussieht, ausgefallene Antworten aus hartem Ton aufzutischen versucht. Also heißt es Kneten, Walken, Formen und Färben, und das besonders im November. Ein Mitmachen-Wollen im echt künstlerischen Geschäft, wo es um viel mehr als nur Geld geht, erlaubt keine andere Wahl. Damit jedoch hört die Rechnung noch lange nicht auf. Im siebenbürgisch-sächsischen Bauernhaus, nämlich in Kleinscheuern, das seine Eltern vor 20 Jahren mitsamt Hof und Garten gekauft haben, ist Ovidiu Boitor zugange, sobald ihn die Schulzahnarzt-Pflicht nicht ruft. Fünfmal wöchentlich steht sein Kabinett im Octavian-Goga-Gymnasium offen. Sieben Stunden lang ab jeweils 8 oder 12 Uhr und Tür an Tür mit einem Schulraum übrigens, den an ausgewählten Tagen auch 18 Jahre alte Nicht-Schüler sowie Nicht-Arbeitnehmer des Gymnasiums betreten dürfen. Der Arbeitstag von Ovidiu Boitor? Zehn, manchmal sogar zwölf Stunden lang, wenn man sein keramisches Werken und zahnärztliches Behandeln zusammenzählt. 

Nicht bloß zentral gelegen, sondern auch eine der begehrtesten und am besten abschneidenden Schulen Hermannstadts ist das „Goga“. „Davor war ich Schulzahnarzt am Technischen Gymnasium, wo die Schülerinnen und Schüler sehr häufig mit Karies und schwierigeren Problemen bei mir anklopften“, schildert Ovidiu Boitor seine Jahre am Gymnasium mit einer Berufsfach- und Abendschule für die drei Zweige Tourismus, Haarschnitt und Kleidungsproduktion. „Textil“ heißt in Hermannstadt allgemein das zu Fuß kaum mehr als ein bis zwei Minuten vom „Goga“ entfernte „Cibinium“, von wo aus er als Zahnarzt gerne die Schule gewechselt hat. „Implantate gibt es keine von mir“, so sein zufriedenes Fazit, da unter den Jugendlichen und Kindern hier niemand welche benötigt oder möchte. Einschließlich von der Ausstattung her fühlt Schulzahnarzt Ovidiu Boitor sich am „Goga“ wohl. „Die Marke von Geräten kann ich zwar nicht wählen, doch insgesamt ist das Kabinett sehr gut bestückt.“ Wer seine Türe öffnet, kann zunächst Platz im Warteraum nehmen, und ein kleines Nebenzimmer mit hochmodernem Thermodesinfektor gibt es auch. Sicher, die weißen Kacheln, grauen Fliesen, gläsernen Tische sowie Schränke für das Zubehör und die alten Fensterrahmen ergeben ein je nach Patient vielleicht noch immer beklemmendes Bild, wie man es in sozialistischer Vergangenheit und kommunistischer Mangel-Planwirtschaft aus ökonomischer Not heraus extrem nüchtern zu halten verstand. Die Regale von Ovidiu Boitor dafür quellen über, sparen muss er nicht.

Aus dem Vollen schöpft er auch in Kleinscheuern, dem Ort seines Noch-Ateliers wegen Hausbau in Hermannstadt. Aber selbst nach dem Umzug der Werkstatt wird er das siebenbürgisch-sächsische Bauernhaus nicht ganz aufgeben; zu schwer und zahlreich all die Bananenschachteln in der Dachmansarde, worin die zum Verkauf fertigen Produkte aufbewahrt werden. Und so gemütlich groß der Raum, dass Ovidiu Boitor sich Haus und Schopfen quasi nicht mit seinem Vater teilen muss, der im Garten Gemüse anbaut. Die fünf Brennöfen für Keramik, wovon drei im Schopfen stehen, hat er als Finder von Ebay-Kleinanzeigen gekauft. „Da hat mir die deutsche Sprache sehr genützt“, erinnert sich Ovidiu dankbar an seine Zeit als Schüler der Klassen 5 bis 8 am Brukenthal-Gymnasium. Er war da mein Klassenkollege und macht das Heikle des Ankaufens von Ausstattung an der Art der Bezahlung fest. „Die meisten Anbieter wollen keine Banküberweisung, Bargeld ist ihnen viel lieber. Und dann gibt es noch die Transport-Frage, weil die DHL sehr stark zu Buche schlägt.“ Auch einer Kollegin, die kein Deutsch versteht, hat Ovidiu Boitor geholfen, sich einen Brennofen zuzulegen. „Ein neuer kostet Tausende und ein gebrauchter älteren Datums Hunderte von Euro.“

Die Steuerung solcher Öfen? Digital und mit zusätzlicher Kontrolle der gewählten Temperatur durch kleine und sehr harte Brennkegel, die zwischen die Objekte in den Brennofen gestellt werden und sich bei Erreichen der maximalen Hitze verformen. „Schrühbrand“ heißt auf Deutsch die „biscuitare“, mit der Ovidiu anfängt, um die bis zu 1230 Grad Celsius heiße Temperatur nicht gleich in einem einzigen Vorgang zu erzwingen.

Klassisch Einfaches wie Kaffeebecher und kleine Schüsseln für den Küchentisch entstehen bei ihm nicht. Und außerdem unterscheidet er zwischen der weichen Erdenware, dem schon härteren Steingut und dem besonders widerstandsfähigen Porzellan. „Einen Kurs für Keramik habe ich nie besucht, sondern mir alles, was ich weiß, auf Youtube abgeguckt.“ Ovidiu Boitor ist seit drei Jahren Töpfer und als Autodidakt in die Materie eingestiegen, als die Scheidung von seiner Frau ihn belastete. Aber er hat es gepackt und bringt täglich seine vier Jahre alte Tochter morgens zum Kindergarten – in einen, wo es auf Deutsch zugeht. Seinen Alltag am „Bruk“ vor 25 Jahren hat er gelegentlich schwer empfunden. „Die 9. Klasse habe ich am Onisifor-Gymnasium besucht, doch das war eine Klasse mit Fokus auf Sprachen und Humanwissenschaften, also für mich Anwärter auf das Zahnarzt-Studium nicht gerade geeignet. Die drei weiteren Jahre bis zum Abitur in der Klasse des Landwirtschaftlichen Daniil-Popovici-Gymnasiums für Veterinärmediziner waren da schon viel besser. Aber im Fach Deutsch als Fremdsprache war ich derjenigen, die es unterrichtete, weit überlegen. Auf einer Schulreise schließlich in Deutschland machte sie mich zum Übersetzer.“ Mächtig stolz auf diese Erfahrung ist Ovidiu nicht. „Irgendwann war ich dort so weit, dass es durch bloßes Aufstehen eine Zehn für mich gab, ohne etwas dafür geleistet zu haben…“ 

Sie sind ihm deutlich bewusst, die Sonnen- und Schattenseiten des Unter-Druck-Gesetzt-Worden-Seins als Kind und Schüler. Aber als Zahnarzt heute lebt er in einer fortschrittlicheren Zeit, von der auch seine Assistentin Marina Milea im „Goga“-Kabinett hoch überzeugt ist:  Ja doch, es wäre überhaupt nicht mehr so wie früher mit Angst verbunden, zum Zahnarzt zu gehen, zumal Schüler ganzer Klassen der Reihe nach zwecks Prävention vorbeischauen würden. „Es ist wichtig, dass Kinder in der allerersten Sitzung keine Behandlung bekommen, die unangenehm sein kann“, betont Ovidiu Boitor, denn Eltern, die ihren Kindern „mit dem Schicken zum Zahnarzt“ drohen, gäbe es noch ab und zu, wenn auch bei klar rückläufigem Trend. „Milchzähne Ziehen beispielsweise geht ganz einfach ohne Anästhesie.“ 

Was er weder betäuben kann noch will, ist sein Keramik-Wissen als Insider. „Auf Traditionsveranstaltungen wie dem Hermannstädter Töpfermarkt etwa wimmelt es nur so von runden Ofenformen mit Deckel für ´sarmale´, doch die meisten davon sind aus rotem Ton gebrannt“, kritisiert Ovidiu das Küchengeschirr-Überangebot aus dem Lehm der Harghita, der den Markt beherrscht. Und ziemlich porös ist, beim Brennen kaum mehr als 900 Grad Celsius verträgt und erst nach dem Auftragen der Glasur fester wird. Man sollte beim Kauf angeblicher „Römertöpfe“ aufpassen, dass es sich um Steingut-Produkte handelt. Weil nur sie bei mindestens 1000 Grad Celsius gebrannt wurden und „foodsafe“ sind, ihre Glasuren also bei Mehrfachnutzung im Ofen zuhause keine Risse bekommen und daher niemals Nachgeschmack zurückbehalten, der sich in den Ton eingräbt. 

Übrigens Essen: Ovidiu Boitor, der kein Geheimnis daraus macht, zu Dickleibigkeit zu neigen, und auf Rumänisch zu seiner „carieră de gras“ steht, hält sich an die Keto-Diät, an den weitestmöglichen Verzicht auf Kohlenhydrate. „Ich bin bis zu 170 Kilogramm schwer gewesen und habe es nach einer Magen-Verkleinerungs-OP runter bis auf 100 geschafft. Aber es tut mir trotzdem leid, sie gewählt zu haben, weil ich das gleiche Resultat auch ohne erreicht hätte“, sagt Keramiker und Zahnarzt Ovidiu Boitor, der eine Doktorarbeit zum Thema von Querverbindungen zwischen Stoffwechsel-Vorgängen und Erkrankungen an Ohren und Zähnen geschrieben hat. Was er für am schädlichsten hält? „Kohlenhydrate!“ 

Beruflich in die Fußstapfen seiner Eltern getreten zu sein, bereut er nicht im Geringsten. „Im Kabinett am ‚Goga‘ hat früher auch meine Mutter gearbeitet. Leider ist sie im März gestorben, beim Erreichen des Rentenalters, das sie nicht mehr erleben konnte.“ Große Worte macht Ovidiu Boitor nicht gerne, und schon gar nicht privat. „Aber sie war es, die mich auf eine Schule in deutscher Sprache geschickt, sich außerhalb ihres Beruf-Alltags mit Gobelin-Malerei beschäftigt und mich ermutigt hat, Keramik zu machen.“ Ob er schon einmal daran gedacht habe, eigene Objekte an die alten Haken zu hängen, die auf Holzleisten im siebenbürgisch-sächsischen Bauernhaus in Kleinscheuern für eben diesen Zweck hoch an Wänden haften und nichts tragen? Nein, gibt Ovidiu zu. Beim Ausstechen von Engeln aber fällt ihm auf, dass Flügel nicht von der Kontur wiedergegeben werden. Macht nichts. Wer von ihnen weiß, sieht sie trotzdem. Und kann in Hermannstadts Schatzkästlein/Casa Artelor vom 19. bis 22. Dezember beim Weihnachtsmarkt „Creative Buzz“ am Tisch des „Ergoceramic Studio“ von Zahnarzt und Künstler Ovidiu Boitor getrost zugreifen.