Was bedeutet es, wirklich zu helfen? Obdachlosigkeit ist keine Randnotiz städtischer Realität – sie ist Ausdruck struktureller Ausgrenzung. Warum gut gemeinte Hilfe oft nicht ankommt, was Würde mit Wahlfreiheit zu tun hat und wie wir durch Kontrollverlust zu mehr Solidarität finden können.
23.25 Uhr, kalter Nieselregen, reflektierende Autoscheinwerfer, durchnässte Straßen und Schlafsäcke – im Hauseingang unter einem schmalen Vorsprung liegt eine Gestalt auf dem Boden. Die Straßenlaterne, die die Szene wie ein Theaterscheinwerfer beleuchtet, kann das Gesicht der Person nicht erreichen, so tief ist es im vor Feuchtigkeit glänzenden Schlafsack vergraben. Neben dem Kopf der schlafenden Person steht eine geblümte Thermoskanne. Ein in rosa Verpackung gehüllter Müsliriegel wurde mit Klebestreifen an die Thermoskanne befestigt, ebenso wie ein Zettel: „warmes Wasser“. Am nächsten Morgen ist die Person verschwunden. Das warme Wasser und der Müsliriegel bleiben zurück.
Für manche mag das die Bestätigung sein: „Die wollen gar keine Hilfe. Wer kein Wasser oder Essen annimmt, kann gar nicht so schlimm dran sein. Die wollen nur Geld, um sich Alkohol und Drogen zu kaufen“ – häufig gesagt, noch viel häufiger gedacht. Der Müsliriegel wird hier zum Beweisstück – zum Beweisstück für die Selbstverschuldung. Doch woher kommt diese Verärgerung? Ist der Ursprung jener Empörung wirklich das zurückgelassene Wasser und der verschmähte Frühstücksriegel? Oder trifft uns in Wahrheit die Ablehnung unserer eigenen Großzügigkeit? Aber vielleicht ist nicht das Nein zur Thermoskanne das Problem, sondern die Thermoskanne selbst.
Was hier wie eine kleine Geste der Nächstenliebe wirkt, steht exemplarisch für eine gesamtgesellschaftliche Reaktion auf ein viel größeres Problem. Denn Obdachlosigkeit ist keine Frage von Hilfe oder Ablehnung, sondern viel mehr eine strukturelle Realität der Ausgrenzung und Entmenschlichung. Der eigentliche Missstand ist nicht die abgelehnte Hilfe, sondern die Art, wie unsere Gesellschaft mit Obdachlosigkeit umgeht. Und das kann überall auf der Welt beobachtet werden. Es ist eine Schieflage, die die meisten Gesellschaften ratlos zurücklässt. So leben allein in Bukarest laut Schätzungen rund 5000 Menschen in der Obdachlosigkeit. Erfasst werden jedoch meist nur jene, die die Hilfsangebote von gemeinnützigen oder institutionellen Einrichtungen annehmen – die tatsächliche Zahl liegt also im Dunkeln. Niemand läuft durch die Straßen und zählt Schlafsäcke. Auch definiert das rumänische Recht 292/2011 Obdachlosigkeit viel breiter als lediglich die Menschen, die auf der Straße leben. Wer keinen sicheren Mietvertrag hat, vorübergehend bei Freunden oder Verwandten unterkommt oder von Zwangsräumung bedroht ist, darf sich zur gesellschaftlichen Klasse der Obdachlosen zählen.
Solidarität unter Besitzlosen
Einer dieser ungezählten Schlafsäcke Bukarests gehört Sorin. Der 53-Jährige ist seit einigen Monaten auf der Straße. Im Grivi]a-Ci{migiu Community Center der NGO Carusel könnte Sorin essen, waschen, Kontakte knüpfen – alles unweit des Parks, in dem er schläft. Doch er wird nicht warm mit den Menschen dort, das Essen schmeckt nicht, die Waschmaschinen sind oft belegt. Die Angebote sind kostenlos und niedrigschwellig und doch entscheidet Sorin sich dagegen. Warum? Aus Undankbarkeit? Aus dem Unwillen, die eigene Situation zu verbessern? Oder vielleicht trifft Sorin einfach eine selbstbestimmte Entscheidung. Denn selbst wer nichts hat, hat das Recht, zu wählen, was sich gut und richtig anfühlt. Sorins Entscheidung, wie die vieler anderer, erzählt einiges darüber, was gemeinnützige Hilfsangebote in der Realität bedeuten und warum sie oft nicht greifen. Ehrliche Hilfe, ob strukturell oder privat, muss die Selbstbestimmung des Gegenübers mit einschließen. Empörung aufgrund zurückgewiesener Geschenke und Hilfsangebote zeigt doch eigentlich, dass die Geste von Anfang an nicht für die andere Person, sondern für das eigene Gewissen gedacht war. Und kann man es dann überhaupt Hilfe nennen? Vielleicht liegt der Unterschied zwischen wirklicher Hilfe und bloßer Geste genau dort – in der Freiheit zu geben, ohne zu erwarten. So wie Sorin es tut.
Im Parcul Kretzulescu in Bukarest öffnet er – bärtig und barfuß – ohne zu zögern seinen großen blauen Reiserucksack mit dem grünen Schildkrötenanhänger. Die Frau, die vor ihm steht, trägt einen langen Rock, zwei Einkaufstüten in ihrer Hand. Sorin holt alle seine Lebensmittel heraus, darunter Bohnen, Ananas, eingelegter Fisch, und bereitet sie wie auf einem Basar aus. Nur wenige Stunden zuvor fand er die ungeöffneten Konserven auf der Straße: ein kleiner Schatz. „Wahrscheinlich ist jemand umgezogen“, sagt er. Wie üblich begann sein Morgen mit der Suche nach Zigarettenresten. Manchmal findet er wie heute noch viel wertvollere Geschenke. Alles Dinge, die von anderen Menschen weggeworfen wurden. Wie kann es sein, dass jemand, der sich seine Mahlzeiten im Abfall zusammensuchen muss, trotzdem alles so bereitwillig verschenkt? Wie ein stiller Pakt unter Besitzlosen: das Wenige noch teilen. Die Frau entscheidet sich traurig mit dem Kopf schüttelnd gegen die Konserven. Sie hatte auf Bargeld gehofft. „Sie hat sogar mehr als ich“, flüstert Sorin ohne Groll, als sie sich auf den Weg zur nächsten Personengruppe macht. Auf der Straße kennt man sich. Doch Sorins Hilfsbereitschaft ist kein Einzelfall. Was auf der Straße oft als unglaubwürdige Ausnahme erscheint, folgt in Wahrheit einer ganz eigenen Dynamik von Solidarität, Abhängigkeit – und struktureller Ausgrenzung. 50 Meter entfernt, hinter einer Bushaltestelle sitzt ein alter Mann neben seinen Besitztümern. An diesem Tag konnte er Sorin nicht wie üblich Brot schenken. „Kurz vor mir war ein betrunkener Typ hier. Mein Freund hat ihm alles gegeben, was er hat“, übersetzt Sorin, während der alte Mann weiter wortlos in seinen Kartons wühlt. Es ist eine Solidarität, die wahrscheinlich Überleben rettet.
Kein persönliches – ein gesellschaftliches Phänomen
Vor allem die Menschen, die auf der Straße leben, gehören zu der am stärksten marginalisierten Personengruppe einer Gesellschaft. Ohne Zuhause und damit ohne sicheren Rückzugsort vor äußeren Einflüssen sind sie zu jedem Zeitpunkt der Haltung ihrer Mitmenschen ausgeliefert. Bringt die nächste vorbeilaufende Person fünf Lei, ein Sandwich oder eine Beleidigung? Der schiere Eindruck von Obdachlosigkeit scheint Menschen bereits in zwei Klassen aufzuteilen. Solche, die verdienen und als „wertvolle“ Mitglieder der Gesellschaft gelten – und solche, die auf die Großzügigkeit eben dieser Mitglieder angewiesen sind. Allein obdachlos auszusehen, markiert Menschen schon als anders. Auch wenn der Geldschein in Sorins Hosentasche der gleiche ist wie meiner. Im Supermarkt ist trotzdem Sorin die Zielscheibe, nicht ich. Den Unterschied macht ein komplexes Zusammenwirken aus unterschiedlichen Ursachen, die schlussendlich in Vorurteilen und Ausgrenzung aufgrund von Äußerlichkeiten münden.
Denn auch wenn wir uns das gerne einbilden wollen, Obdachlosigkeit ist selten individuelles Versagen. Häufig wirken mehrere Faktoren zusammen: Arbeitsplatzverlust, Armut, Wohnungsnot, familiäre Brüche wie Scheidung oder Gewalt, Betrug oder der Verlust sozialer Bindungen. Auch gesundheitliche und soziale Belastungen wie chronische Erkrankungen, psychische Probleme, Suchterkrankungen oder fehlende berufliche Qualifikationen erhöhen das Risiko. Obdachlosigkeit ist meist das Ergebnis vieler ineinandergreifender Lebensumbrüche – nicht individueller Schwäche. Jeder kommt mal ins Straucheln, aber manche fallen eben durch das Netz der sozialen Absicherung. Und wer einmal durchgerutscht ist, kommt nur schwer wieder heraus. Außerdem, wie kann es ein rein individuelles Versagen sein, wenn es dann augenscheinlich doch so viele sind? Über 5000 Fälle von individueller, selbstverschuldeter Obdachlosigkeit allein in Bukarest? Gesehen wird immer nur der Schlafsack, selten die Ursachen dafür.
Hilfsbereitschaft bedeutet Machtgefälle
Es ist ein komplexes Phänomen. Nicht nur die Ursachen sind vielfältig, sondern auch die Reaktionen auf obdachlose Menschen unterscheiden sich stark. Sie reichen von Mitleid und Aktionismus über Ignoranz bis hin zu aktiver Verdrängung. Doch eines haben sie oft gemeinsam: die strikte Abgrenzung zu dem, was als „normal“ verstanden wird. Diese Distanz spiegelt sich auch in der scheinbaren Hilfsbereitschaft – und in einem subtilen Machtgefälle.
Wie kann Hilfe direkt, ehrlich und ohne Bevormundung sein? Vielleicht liegt darin die besondere Stärke der Solidarität zwischen Menschen wie Sorin und seinem Freund: Hier existiert kein Machtgefälle. Ihre Unterstützung funktioniert auf Augenhöhe. Nicht-obdachlosen Menschen fällt es oft schwer, die Kontrolle über ihr erarbeitetes Geld abzugeben. Alkohol, Zigaretten, Apfelschorle – keine Notwendigkeit. Wer Geld hat, darf sich kleine Freuden leisten. Wer keines hat, nicht einmal welche wünschen. Als „sicher“ empfundene Spenden wie Essen und Getränke erscheinen Vielen als der bessere Weg.
„Ich möchte entscheiden, was ich schenke“, sagt Gritt, 55, zu Besuch in Bukarest. „Wenn ich Geld schenke, habe ich keine Ahnung, was damit angestellt wird.“ – Deshalb gibt sie lieber Obst oder Gebäck anstatt Bargeld. Aber aus welchem Grund wollen wir so dringend die Kontrolle behalten? Vielleicht ist der Drang, etwas Gutes zu tun, gepaart mit der Angst, in Wahrheit unkontrollierbaren Schaden anzurichten. Vielleicht möchten wir sicherstellen, dass unser Handeln wirklich hilft. Wir wollen genau das erreichen, was wir als das Gute empfinden. Doch an welchem Punkt haben wir dabei vergessen, dass Hilfe auch die Würde des Gegenüber wahren muss? Und wer sind wir zu entscheiden, was eine obdachlose Person wirklich braucht?
Wer helfen will, muss Kontrolle abgeben
Vielleicht hat die von uns auserwählte Person schon drei Kaffee, zwei Sandwiches und einen Müsliriegel erhalten – und hätte einfach gern mal die Freiheit, sich selbst etwas auszusuchen. Bedürftigkeit bedeutet nicht, alles anzunehmen. Zurückgewiesene Spenden können schnell undankbar wirken. Speziell dann, wenn ausgerechnet jene ablehnen, die scheinbar am dringendsten Hilfe benötigen. Dabei kann es tausende Gründe für eine Ablehnung geben und niemand hat die Pflicht, sich für seine Entscheidungen zu rechtfertigen. Eine gut gemeinte Geste ist nicht zwangsläufig eine gute Geste. Anstatt obdachlose Menschen als Randerscheinung der Gesellschaft zu betrachten, die es schwer zu ignorieren gilt und noch schwerer zu beseitigen, sollten wir anfangen zu verstehen, dass eine obdachlose Person nicht seine Obdachlosigkeit ist.
Essen und Sachspenden sind wichtig. Sie sichern das Überleben, stabilisieren die Gesundheit und lindern den täglichen Stress der existenziellen Sorge. Doch auch wenn sie zwar das Überleben sichern, bedeuten sie noch lange keine Teilhabe am Leben. Sorin zum Beispiel kauft gern kleine Tuben Acrylfarbe und bunte Wolle. Auf sein weißes Hemd hat er blaue Farbtupfer gesprenkelt, aus der Wolle stickt er Muster auf Papier, aus denen handgemachte Notizbücher entstehen – für ihn ein Ausdruck seiner Persönlichkeit. Die Würde des Menschen endet nicht bei einem vollen Magen und warmen Füßen. Im Gegenteil: dort beginnt sie. Und in einer Gesellschaft, die auf Geld und Konsum basiert, ist echte Selbstbestimmung oft nur mit Geld möglich. Mit Essen und Trinken schenken wir das bloße Dasein. Mit Geld schenken wir die Möglichkeit, dazuzugehören. Um wahrhaft zu helfen, müssen wir also vielleicht unseren Anspruch auf Kontrolle abgeben und anerkennen, dass die Selbstkontrolle des Gegenüber wichtiger ist, als unser Bedürfnis zwangsläufig Gutes zu tun. So lange wir lieber geben, als zu verstehen, bleibt auch das Geben – die Thermoskanne – ein Teil des Problems.