Die Veranstaltungsreihe rund um den Besuch von Schriftstellerin Grit Lemke in Bukarest schlug eine Brücke zwischen schulischer und universitärer Bildungsarbeit. Neben einer Lesung aus ihrem Buch „Kinder von Hoy“ fand ein intensiver Workshop mit Schülern der Deutschen Schule Bukarest sowie Bachelor- und Masterstudierenden aus der philologischen Fakultät statt. In gemischten Arbeitsgruppen wurden Auszüge aus dem Buch gelesen, diskutiert und kontextualisiert. Am Folgetag trafen sich die Studierenden im Goethe-Institut, um unter der Anleitung von DAAD Lektorin Elisa Moczygemba und Grit Lemke einen reflektierten Vergleich zwischen der DDR und dem kommunistischen Rumänien zu erarbeiten.
Lemke, die in Hoyerswerda aufwuchs und mit ihrem Buch „Kinder von Hoy“ eine literarisch dokumentarische Erzählung über kollektive Identität, Zukunft, strukturellen Zusammenbruch und rechte Gewalt in Ostdeutschland geschrieben hat, war sichtlich bewegt vom Austausch. „Ich habe noch nie so erlebt, dass sich junge Leute so intensiv mit meinem Buch beschäftigen“, sagte sie im Interview. Besonders eindrücklich fand sie die Gespräche über die unterschiedlichen Systeme: „Ich dachte immer, Sozialismus ist ungefähr gleich. Aber was ich hier gehört habe, das war nochmal eine andere Dimension.“
Tatsächlich waren es gerade die scheinbar kleinen Details, die große Unterschiede sichtbar machten: Während ostdeutsche Kinder westliches Radio hörten, Punk entdeckten und sich an Jugendkulturen rieben, lebten rumänische Jugendliche in weitgehender kultureller Abschottung. Westfernsehen? Verboten. Jugendkulturen? Nicht existent.
Und doch, so verschieden die Systeme, so ähnlich manche Brüche. „Auch in Rumänien sprechen heute viele mit einer gewissen Verklärung über die Zeit damals“, sagt die Master-Studentin im Konferenzdolmetschen Bianca Mireu]˛. Das erinnerte Lemke an ihre Erfahrungen in Ostdeutschland: „Wenn kollektive Erinnerung nur noch das Schlechte zeigt, entsteht ein Vakuum und das füllen viele dann mit Idealisierungen.“ Die Russlandfreundlichkeit und Systemnostalgie in Teilen der rumänischen Gesellschaft könnten laut Lemke ein Spiegel, jener Frustration sein, die auch in Ostdeutschland nach der Wende entstand. Über Menschen, die rückblickend von einem Gefühl der Sicherheit sprechen, werde oft mit Unverständnis geurteilt. Dabei sei es wichtiger, so Lemke, solche Aussagen nicht vorschnell zu verurteilen, sondern zu fragen: Woher kommt dieses Gefühl?
Was beiden Ländern gemein ist: der tiefgreifende strukturelle Zusammenbruch nach 1989. Ganze Industriekomplexe lösten sich auf, Betriebsschule schlossen, Identitäten gingen verloren. Besonders in Hoyerswerda war dieser Bruch dramatisch: „Die Leute haben gedacht, sie haben eine Zukunft, und auf einmal ist alles weggebrochen“, so Lemke. Die Geschichte dieser Stadt wurde während des Workshops mit rumänischen Schüler und Studierenden lebendig mit Arbeitsgruppen zu Themen wie Erinnerung, rechter Gewalt oder Strukturwandel erlebbar gestaltet.
Für Lemke war es ein Austausch auf Augenhöhe, getragen von Offenheit, Neugier und Respekt. „Ich hoffe, wir konnten zeigen: Geschichte ist nie nur das, was in Geschichtsbüchern steht. Es ist das, was Menschen erlebt haben, mit aller Ambivalenz.“