Der Krieg geht weiter, das Leben auch

Ukrainischer Physiotherapeut bringt rumänische Kinder mit Behinderung auf die Beine

Auch größere Patienten haben trotz Anstrengung ein Lächeln im Gesicht, wenn sie mit dem Ukrainer arbeiten, denn er spornt sie an und macht oft Witze. | Fotos: privat

Auf die Sprossenbank zu klettern ist keineswegs leicht, wenn einem die linke Körperhälfte nicht gehört. Oben muss der Kleine jedoch ein Spielzeug holen, so motiviert ihn Roman zum Weitersteigen.

Er hatte nicht an die Invasion geglaubt. Roman Lazorak kam Mitte Februar nach Rumänien, um Kindern mit Behinderungen in Temeswar für drei Wochen Physiotherapie anzubieten. Inzwischen sind drei Monate vergangen, in denen er nicht mehr zu Hause war. Seine Familie in Lemberg/Lviv glaubte er in Sicherheit. Als die ersten Bomben fielen, holte er sie schnell nach Rumänien. Inzwischen sind seine Frau und die Kinder wieder in der Ukraine und kamen ihn nur für einige Tage zu Ostern zu besuchen. Roman hat Therapie-Einsätze in Temeswar/Timișoara, Konstanza und Karlsburg/Alba Iulia. Wie kommt es überhaupt dazu, dass er und Physiotherapeuten aus der Republik Moldau auf eine so große Nachfrage in Rumänien treffen?
„Deine Hand ist verschwunden? Wo ist sie denn? Lass uns mal den Teig ganz weit ausrollen“, sagt Roman mit seiner tiefen, freundlichen Stimme und dem fremden Akzent dem vierjährigen Jungen, der wegen einer Zerebralparese halbseitig gelähmt ist und sich mit Roman zusammen mit einer Fitnessrolle nach vorne und hinten dehnt und dabei mit beiden Händen die Rolle hält. Es sieht wirklich aus, als würde er einen Nudelwalker bedienen. Jede Übung bekommt ein Spiel übergestülpt, damit der Kleine gar nicht merkt, dass er gerade Therapieübungen macht und oft herzlich lachen muss, wenn Roman so tut, als wäre er verletzt. Ein Interview dabei zu führen ist unmöglich, denn der Patient verlangt die ganze Aufmerksamkeit. Roman aber kann ein bisschen nebenbei erzählen: dass er 38 Jahre alt ist und schon eine 16-jährige Tochter hat und einen 12 Jahre alten Sohn. Sie waren gut zwei Wochen in Rumänien, gingen dann aber mit ihrer Mutter zurück, „weil sie in die Schule und nicht in die Mall gehen sollen“. „Meine Frau hält den Wagen jedoch bereit. Wenn es brenzlig werden sollte, ist sie in drei bis fünf Stunden in Baia Mare. Dort habe ich Patienten, bei denen sie unterkommen könnten,“ erzählt Roman Lazorak dann in der Mittagspause ADZ-Redakteurin Astrid Weisz. Und nimmt bei so mancher Antwort kein Blatt vor den Mund...

Herr Lazorek, wie haben Sie sich dazu entschlossen, Physiotherapeut zu werden?

Wollen Sie wirklich, dass ich Ihnen die Wahrheit sage? Die Klinik, an der ich angestellt wurde, war die einzige, bei der ich nicht hätte dafür schmieren müssen. Davor hatte ich vier Jahre lang ein medizinisches Kolleg in einer Kleinstadt besucht, nahe dem Dorf, in dem ich aufgewachsen war. Da hatten mir damals Beziehungen geholfen, einen Studienplatz zu bekommen, gezahlt habe ich auch. Das ist aber schon über 20 Jahre her. Danach ging ich zu dieser großen, renommierten Klinik,„International Clinic of Rehabilitation“ in Truskavets, bestand das Auswahlverfahren, weil ich aber weder Erfahrung noch Fremdsprachenkenntnisse hatte – ich hätte Deutsch oder Englisch sprechen müssen –, musste ich zunächst die niedrigsten Arbeiten annehmen: im Garten arbeiten und im Untergeschoss sauber machen usw. Ich habe dann ein Jahr lang einen Intensivkurs in Englisch gemacht und durfte mir in dieser Zeit bei den Kollegen die verschiedensten Techniken ansehen und lernen. Ich begann zunächst die Patienten am Fahrrad zu betreuen und hab dann Schritt für Schritt dazugelernt, durfte immer mehr machen. Ich habe mit Patienten aus über 30 verschiedenen Ländern gearbeitet, denn die Klinik betreute 150 Patienten am Tag, die sich alle zwei Wochen abwechselten. Bei zwölf Patienten am Tag kam es vor, dass einige aus Russland, andere aus der Ukraine, wieder andere aus Deutschland oder den USA kamen und so musste ich immer wieder in einer anderen Sprache mit ihnen kommunizieren. Fünf Jahre habe ich dort gearbeitet und die Chance gehabt, viel zu lernen. Ich habe Kurse besucht, habe meine Kollegen nach Rat gefragt, habe selbst viel ausprobiert. Zunächst durfte ich nur leichte Therapien anwenden, lernte, Patientengespräche zu führen. Weil ich sehr gut Englisch konnte, bekam ich die meisten ausländischen Patienten, so auch aus Katar, Afghanistan und aus Japan... Ich weiß schon gar nicht mehr, woher sie kamen. Die Erfahrung war für mich ausgezeichnet, der Arbeitsplatz auch, nur die Bezahlung war bescheiden. 

Wie kam es dazu, dass sie rumänische Kinder therapiert haben und es noch tun?

In all den Jahren hatte ich gar keine Ferien, denn im Urlaub haben mich Patienten zu sich eingeladen, um privat mit den Kindern zu arbeiten. So kam ich nach Norwegen, Deutschland, nach Moskau. Auch da verdiente ich nicht viel, aber mir wurden die Reisekosten, Unterkunft und Verpflegung gezahlt und ich durfte neue Orte besichtigen. So kam ich dann 2009 auch nach Rumänien. Ich wurde nach Konstanza geholt. Ich hatte Vorbehalte, denn in der Ukraine weiß man von Rumänien, dass es ein armes, korruptes Land mit vielen Zigeunern ist. Ukrainer wissen gar nicht, dass es einen Unterschied zwischen rumänischer und Romasprache gibt – viele Rumänen wissen aber auch nicht, dass Ukrainer nicht alle Russisch sprechen, sondern Ukrainisch. Das war damals so und auch heute haben die Ukrainer Rumänien gegenüber diese Vorurteile. Darum sind sie ja so überrascht über die großzügige, freundliche Art, wie ihnen hier als Flüchtlinge geholfen wird. Mit Visum kam ich dann nach Konstanza und war überrascht, wie groß alles war: lange, breite Straßen, große Autos, schöne Häuser usw. Das war ja richtiges Europa! Ich kam aus einer Kleinstadt und Konstanza kam mir riesig vor. Und dann habe ich gemerkt, wie entwickelt Rumänien eigentlich ist. Zu der Zeit kamen pro Monat rund 50 Patienten aus Rumänien zu uns. Ich hatte schon den Beschluss gefasst, die Klinik zu verlassen. Die zweiwöchigen Aufenthalte im Ausland, vier bis fünfmal im Jahr, lohnten sich mehr. Und so kam ich dann auch immer öfter nach Rumänien. Zunächst konnte ich nur „Bună ziua!” grüßen und  „Capul sus!”(Kopf hoch!) sagen. Ich kam jedoch auf Englisch zurecht, mit jedem Patienten und jeder Mutter lernte ich immer mehr rumänische Vokabeln dazu. Nach Konstanza kamen Einladungen nach Câmpia Turzii, Bistritz, Karlsburg, Târgu Jiu und so kommt es, dass ich seit mehr als zwölf Jahren hin und her pendle. 

Wie ist es, so lange weit weg von zu Hause zu arbeiten?

Man gewöhnt sich daran. Am Anfang hatte ich das Ziel, mehr zu verdienen, denn dieses Pendeln lohnt sich. Ich kann zu Hause mehr bewegen und wenn ich da bin, dann bin ich zwei bis vier Wochen lang rund um die Uhr für die Familie da. Mittlerweile fühle ich mich hier in Rumänien fast wie zu Hause. Ich hab mich an die Rumänen, an eure Mentalität und eure Gerichte gewöhnt.

Warum kommen Sie nach Rumänien und nicht in ein westliches Land, in dem Sie noch besser verdienen könnten?

Das stimmt nicht. In westlichen Ländern ist das Gesundheitssystem besser und die Patienten brauchen keinen Privattherapeuten. Außerdem hätte ich dort studieren oder mich ausbilden lassen müssen und dafür fehlten mir die Zeit und die Ressourcen. Hier in Rumänien geht das Geschäft. Und dann ist es so, dass je weiter westlich wir gehen, man umso mehr versucht, das Umfeld mit speziellen Hilfmitteln an die Behinderung anzupassen, Man bemüht sich nicht mehr so sehr darum, die Kinder zu rehabilitieren. 

Warum sind Sie, als ukrainischer Therapeut, bei rumänischen Patienten so beliebt?

Weil die Rumänen faul sind. Sie machen eher passive Übungen und arbeiten sehr langsam. In der Ukraine und in der Moldau wird fester gearbeitet. Zudem wird hier das Dehnen vernachlässigt. Es nimmt, je weiter wir gegen Westen gehen, ab. Dort meint man, dass wir die Kinder quälen. Ich finde jedoch, dass sie eher unterfordert werden und man ihnen zu wenig zutraut. Aber in Rumänien hat sich sehr vieles in den letzten zwölf Jahren getan, dadurch, dass diese Privatzentren gegründet wurden und mehr Therapiemöglichkeiten angeboten werden.

Welche Techniken wenden Sie an?

Das hängt von jedem Kind ab. Als Prinzip gilt jedoch zunächst auf passive, dann auf passiv-aktive und zum Schluss nur auf aktive Übungen zu setzen. Und dann hängt es davon ab, welche Ziele man sich setzt. Als grundlegende Etappen gehört für mich dazu, erst Streck- und Mobilisierungsübungen zu machen, damit die Durchblutung gefördert wird und die Gelenke entsteift werden. Dann kommt das „Krafttraining“, um die unterforderte Muskulatur von gelähmten Kindern zu aktivieren und zu entwickeln. Die nächste Etappe sind Gleichgewichtsübungen, von Kopf Aufrechthalten bis zum Hüpfen auf einem Bein. Die Methoden haben bei der Physiotherapie verschiedene Namen, aber ich nehme immer von verschiedenen Methoden die Übungen, die am passendsten für den Patienten sind, mit dem ich arbeite.

Macht Ihnen die Arbeit mit diesen Kindern Spaß?

Ich lebe dafür! Es macht mir so große Freude, mit Kindern zu arbeiten. Ich danke Gott, dass er es so gelenkt hat, dass ich diesen Beruf gefunden habe. Auch wenn man mit Erwachsenen vielleicht leichter arbeitet, weil man sich mit ihnen besser verständigen kann und man nicht so viele Spiele erfinden muss, liebe ich es zu sehr, mit den Kleinen zu arbeiten. Die Genugtuung bei ihren Fortschritten ist mit nichts zu vergleichen. Diese Kinder geben mir so viel zurück, wir sind irgendwie immer auf einer Wellenlänge.

Wie ist es jedoch, dass dabei die eigenen Kinder so weit weg sind?

Es ist schwer und für die Kinder wahrscheinlich noch schwieriger als für mich, aber wir haben uns schon daran gewöhnt. Sie sind so aufgewachsen. Ich fehle normalerweise nicht mehr als einen Monat von zu Hause. Im Winter arbeite ich mehr, damit wir im Sommer mehr Zeit zusammen in den Ferien verbringen und gemeinsam reisen können. Heute ist es jedoch leichter als früher, weil wir über Messenger sprechen und uns schreiben können, ja sogar sehen.

Und wie sieht Ihr Leben jetzt im Krieg aus?

Jetzt sitze ich hier fest. Ich weiß nicht, ob ich nach einer Rückkehr ins Land wieder ausreisen dürfte, obwohl ich wegen meiner Augen als wehruntauglich gelte. Gut war, dass meine Familie zwischenzeitlich hier sein konnte. Für meine Frau war es die erste Auslandsreise, mit dem Auto, das erste Mal Autobahn, das erste Mal so ein langer Weg. Aber ich bin den Rumänen sehr dankbar, für die Unterstützung ab der Grenze, mit Telefonkarte, dass wir uns verständigen konnten, mit Essen, mit Unterkunft, mit Hygieneartikeln und Decken für den Weg, sogar an der Tankstelle hat sie kostenlos Wasser und belegte Brötchen bekommen, als man merkte, dass sie aus der Ukraine kam. Als sich die Lage um Lemberg etwas beruhigt hat, gingen sie wieder heim und kamen zu Ostern auf Besuch. Da hatte ich auch frei. Aber ich bange auch um meine anderen Verwandten. Viele sind nach Polen geflüchtet, meine Eltern leben auf dem Land, unweit von der Stadt, haben Brunnenwasser und sind mit Lebensmitteln versorgt, meine Schwiegermutter kann, wenn nötig, zu ihnen fahren. Jeden Morgen schauen wir Nachrichten und hoffen auf ein Ende. Täglich gibt es zwei-dreimal Fliegeralarm. Die Leute gewöhnen sich daran, mit dem Krieg zu leben. Die Schule im Westen des Landes geht weiter, teils online, teils in Präsenz. Aber alle sind angespannt. Ich kann keine Pläne machen, also arbeite ich hier weiter. Mal in Temeswar, dann wieder für zwei Wochen in einer anderen Stadt.

Halten Sie Kontakt zu Patienten im Kriegsgebiet?

Ja, zu Patienten und zu Verwandten. Sie leben im Krieg und schildern Furchtbares, wie viel zerstört wurde und wie groß die Angst ist. Die Patienten haben keinen Zugang zu Therapien und Medikamenten und das ist schrecklich. Manche verstehen auch nicht, warum sie tagelang im dunklen Korridor oder im Badezimmer bleiben müssen. Ich habe mit der Mutter einer Patientin in Cherson gechattet, die Stadt ist ja eingenommen. Die Bewohner hassen die Russen und protestieren gegen die Besatzung. Ich habe Cousine und Tante nahe Odessa, die nicht zu uns können, weil die Infrastruktur zerstört ist und der einzige Weg zu gefährlich. Über ihren Hof sind Helikopter und Flugzeuge geflogen, viele Häuser wurden zerstört, viele Soldaten, ukrainische und russische, getötet. Dort ist der Krieg inzwischen zu Ende, aber in der Ferne hört man noch die Bomben.