„Der Staatsvertrag ist nicht erfüllt“

70-Jahr-Feier: Artikel 7 zu Schutz der Minderheiten nicht umgesetzt – „Lage ist dramatisch“

Der Demonstrationszug auf dem Ring vor dem österreichischen Parlament, wo am Vormittag das Jubiläum des Staatsvertrags gefeiert worden war. Fotos: Hatto Schmidt

„Österreich ist frei“: Diese zur Legende gewordenen Worte sprach Außenminister Leopold Figl, nachdem er am 15. Mai 1955 in Wien den Staatsvertrag mit den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs unterzeichnet hatte, der Österreich die Souveränität zurückgab. Im Parlament in Wien wurde das auf den Tag 70 Jahre später gefeiert. Frei und im Vollbesitz ihrer Rechte wären 1955 gerne auch die österreichischen Volksgruppen gewesen. 70 Jahre später aber, am selben Tag, als die Politiker feierten, demonstrierten Slowenen, Kroaten, Roma, Ungarn, Tschechen und Slowaken mit einem „Minderheitenstreik“ vor dem Bundeskanzleramt.

Ein bunter Zug von Angehörigen aller Volksgruppen, Vertretern der jüdischen Gemeinschaft und benachteiligter Gruppen traf sich zunächst am Ballhausplatz, wo das Anliegen der Kundgebung erläutert wurde. Dann zogen die Demonstranten – Spruchbänder mit Aufschriften in allen Volksgruppensprachen schwingend – über den Ring zum Parlament und weiter zum Schillerplatz, wo ein Fest mit Bands aus den Volksgruppen gefeiert wurde. Während der Kundgebung wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass der Staatsvertrag keineswegs umgesetzt sei, was die Volksgruppen betreffe. „So ein Vertrag ist kein Wunschzettel, aus dem man he-rauspicken kann, was einem passt“, sagte eine Teilnehmerin.

Bereits am Abend zuvor war der Staatsvertrag Thema einer Veranstaltung gewesen. „Schon vor 40 Jahren – zum 30-Jahr-Jubiläum der Unterzeichnung – haben wir 30 Stunden lang demonstriert, damals vor dem Sitz der Landesregierung, weil Artikel 7 nicht umgesetzt war“, sagte der burgenländisch-kroatische Jurist Jandre Palatin bei einer Podiumsdiskussion in Eisenstadt. In Artikel 7 sind Schutzbestimmungen für die österreichischen Volksgruppen verankert.
Wären sie tatsächlich umgesetzt worden, hätten die Volksgruppen am Donnerstag in Wien wohl mitgefeiert. „Es ist aber nichts geschehen“, sagte Palatin: „Unsere Volksgruppe ist seit der Demonstration vor 40 Jahren um die Hälfte geschrumpft, die allgemeine Sprachkompetenz rapide zurückgegangen. Die Situation ist dramatisch.“

Das revidierte Volksgruppengesetz von 2011 grenze die in Artikel 7 festgehaltenen Grundrechte ein, sagte die Juristin Lea Vouk von der slowenischen Volksgruppe. Schlimmer noch: Da es als Verfassungsgesetz verabschiedet wurde, könne das Verfassungsgericht es auch nicht prüfen. Genau dies sei das Ziel der Politiker gewesen, weil sie Sorge hatten, dass das Verfassungsgericht das Volksgruppengesetz wegen seiner Unzulänglichkeiten zur Gänze kippen könnte. „Der Staatsvertrag ist nicht erfüllt“, sagte Vouk, „es ist eine ungeheure Ungerechtigkeit, dass wir unsere Rechte nicht bekommen und sie nicht einmal mehr einklagen können.“

„Wir hätten uns gewünscht, dass Österreich uns gegenüber das gleiche Engagement an den Tag legt wie gegenüber Südtirol“, sagte Josef Buranits, der Generalsekretär des Österreichischen Volksgruppenzentrums. Die Historikerin Marija Wakounig schilderte, wie in Kärnten alles nur Mögliche getan wurde, um der slowenischen Minderheit Prügel in den Weg zu legen, angefangen von der Beschneidung des öffentlichen Nahverkehrs, um die Kinder der Minderheit daran zu hindern, zweisprachige Schulen zu besuchen.

Zahlreiche Forderungen wurden angesprochen, von der Wiedereinführung des verpflichtenden zweisprachigen Unterrichts im Siedlungsgebiet der Minderheiten bis zur Entwicklung eines neuen Volksgruppengesetzes, das den Erfordernissen tatsächlich Rechnung trägt, über mehr Sichtbarkeit durch zweisprachige Aufschriften nicht nur auf Ortstafeln bis hin zur Schaffung der Möglichkeit, auch außerhalb der traditionellen Siedlungsgebiete zweisprachige Bildungseinrichtungen für die Minderheiten zu schaffen und diese auch angemessen zu fördern.