Die „Mundart der Bäume“ – eine Übung in Pareidolie

Gespräch mit Dr. Klaus Fabritius und Ing. Cristian Sencovici über ihre Baumfotografien

Die Fotografen: Cristian Sencovici (l.) und Klaus Fabritius (r.)

„Am Strand“ – Strandgut oder gestrandet? Foto: Dr. Klaus Fabritius

Bedrohlich wirkt diese Tanne Foto: Cristian Sencovici

Dr. Klaus Fabritius, Biologe, Dozent an der Fakultät für Landwirtschaftswissenschaft in Bukarest, Mitglied der Rumänischen Akademie, Vorsitzender des Regionalforums Altreich am Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien (DFDR) und sein Freund, Cristian Sencovici, Ingenieur, Übersetzer und Ausstellungsveranstalter – beide leidenschaftliche Hobbyfotografen mit modernsten Profi-Kameras, die stets Foto- und Diaausstellungen im Kulturhaus „Friedrich Schiller“ in Bukarest organisiert und 1994 zusammen den „Leica“-Fotoclub unter Schirmherrschaft des DFD Bukarest und des Schiller-Hauses gegründet haben, sind am 30. April erneut für die Eröffnung einer gemeinsamen Fotoausstellung, betitelt „Graiul copacilor/Mundart der Bäume“, zusammengekommen. Koordinatorin der Veranstaltung war Aurora Fabritius und Gastgeber wie üblich das Bukarester Schillerhaus.

 „Diesmal kehren die beiden Liebhaber der Fotokunst zur Natur zurück, genauer gesagt zu den Bäumen. Die Faszination des Dialogs mit den Bäumen, an denen wir heute oft vorbeigehen, ohne sie zu bemerken, wird zu einer Therapie durch die Bilder, die ein Ingenieur und ein Biologe mit so viel Hingabe aufgenommen haben“, bemerkte einführend Aurora Fabritius. Bei der Vernissage haben die beiden Hobbyfotografen ihre eigenen Interpretationen mit dem Publikum geteilt und die Anwesenden zu einer Pareidolie-Übung (das Phänomen, in Dingen und Mustern vermeintliche Gesichter und vertraute Wesen zu erkennen) eingeladen, bei der sie selbst unterschiedliche tierische oder menschliche Figuren in den vielfältigen Formen der fotografierten Baumstämme und Strünke identifizieren sollten. Ein Baumstumpf scheint wie eine Ballerina in den Spagat zu gehen. Ein anderer erinnert an einen Pfahl aus der Zeit von Vlad dem Pfähler. Auf einem Baumstamm entstand aus einem Zweigrest eine kleine Kanzel mit einem Kreuz. Eine umgefallene Tanne mit stachelartigen Zweigstummeln sieht gefährlich aus und scheint Passanten zum Kampf herauszufordern. Einer anderen Tanne hängen Eiszapfen wie Tränen von den Nadeln. Einige Bäume sehen wie Hunde-, Hirsch- oder Hasenköpfe, Greisinnen oder sogar Modelle auf dem Laufsteg aus, während andere von echten Lebewesen bewohnt sind. Über die Entstehung der Aufnahmen von interessanten krummen Bäumen und Baumstümpfen erzählten die beiden Fotografen der Redakteurin Cristiana Scărlătescu.


Wie kamen Sie auf den Titel der Ausstellung ?

Cristian Sencovici (CS): Dies war eine lustige Geschichte. Das Thema und den ursprünglichen Titel „Strig²tul copacilor“ (Schrei der Bäume) hat uns Aurora Fabritius vorgeschlagen. Diesen fand ich ganz gut im Sinne, dass Bäume vor Verzweiflung zu schreien scheinen, oder um uns aufmerksam zu machen. Ich hätte die Ausstellung sogar „Gebrüll der Bäume“ betitelt, aber Klaus meinte im Hinblick auf die deutsche Übersetzung, Deutsche brüllen nicht, sie sprechen in einem normalen Ton. Daher „Mundart der Bäume“.  

Klaus Fabritius (KF): Außerdem hat ein normaler Baum einen geraden Stamm, Wurzeln und eine Krone. Dies ist der Normalfall. Bäume haben jedoch nicht immer ein regelmäßiges Wachstum, denn unter verschiedenen Umständen ändert sich ihre gewöhnliche Form zu einer außergewöhnlichen, sonderbaren, die für uns vielsagend ist, viel ausdrückt, als ob die Bäume sprechen würden. 

Alle Fotos tragen Titel oder Beschriftungen. Wer hat sich diese ausgedacht?

KF: Cris Sencovici hat für jedes Foto eine Beschriftung verfasst, die zum Nachdenken anregt.

Herr Fabritius, als Biologe haben Sie ein tieferes Verständnis von Bäumen.

KF: Sprechen wir mal über Bäume. Erst einmal, wenn wir einen Querschnitt durch einen Baumstamm machen, wie diese kleine Probe hier, die ich heute mitgebracht habe, bemerken wir, dass das Herz eines Baumes nicht schlägt, weil sein Leben nicht im Mark, sondern am Rand, zwischen der Rinde und dem Holz steckt. Dort pulsiert sein Leben und jedes Jahr entsteht ein neuer Jahresring, ein dünnerer oder ein dickerer, je nach Art, Wetter, Klima usw. Daran erkennt man, ob ein Jahr trocken oder reich an Niederschlägen war. 
Außerdem behalten Bäume nicht alle Äste, die aus ihren Knospen sprießen. Sie verzichten auf jene, die sie nicht mehr brauchen. Beispielsweise setzt eine Birke in einer zehnjährigen Zeitspanne etwa 20.000 Knospen an, aus denen neue Äste sprießen. Beim aufmerksamen Zählen bemerken wir, dass die zehnjährige Birke nur ca. 500 dickere Äste trägt, die widerstandsfähig sind.

Um das Leben der Bäume besser zu verstehen, muss man sich dessen bewusst sein, dass drei natürliche Kräfte auf sie wirken: die Sonne, welche eine Aufwärtsströmung bildet, die Schwerkraft mit ihrer Abwärtsströmung in Richtung Wurzeln, und der Wind. Sonnenlicht ist äußerst wichtig für sie. Im Wald wird immer darum gekämpft, denn nur wer ans Licht kommt, überlebt. Deshalb wachsen viele Bäume oft krumm. 

Ein anderer Faktor, der das natürliche Aussehen der Bäume ändert, ist der Mensch. Die Form vieler Bäume in unseren Fotografien ist ein Ergebnis menschlichen Einwirkens. Ihre Antwort darauf besteht in dem Versuch, sich von der verursachten Verstümmelung zu heilen.

CS: Auch Fotos werden von drei Faktoren bestimmt: Licht, Dunkel und dem Beobachtungssinn des Fotografen.

Wodurch unterscheiden sich Ihre Fotos?

KF: Durch unsere Subjektivität. Jeder hat seine eigene Per- spektive. Das Schöne an der Fotografie ist eben, dass jedes Foto ein Unikat ist. Keine zwei sind gleich, auch wenn sie am selben Ort mit dem gleichen Fotoapparat geschossen wurden. Bilder unterscheiden sich voneinander durch kleine Details und jedes fängt einen Augenblick der Geschichte zu einem bestimmten Zeitpunkt ein.  

CS: Jedes Foto hat eine Geschichte. Wie ich besondere Details vor Ort bemerkt habe, könnte ich Ihnen nicht sagen, denn über ihre Expressivität bin ich mir erst nach der Bildentwicklung bewusst geworden. Dieses Bild zum Beispiel (Anm.d.Red: von einem Überrest eines Zweigs, der ein kleines Kreuz bildet, das erst gegen den hellen Hintergrund eines Schneeflecks am Baumstamm auffällt) hatte ich zunächst „Altar“ genannt, aber es war, als ob bald ein Pfarrer hinter dem Kreuz auftauchen würde, um eine Predigt zu halten, daher fand ich den Titel „Kanzel“ passender. 

Außerdem kann man sich durch verschiedene Versuche von Bildinterpretationen echt entspannen. In diesem Bild (Anm.d.Red.: von einem entwurzelten Stumpf) scheint der Stumpf mit „Bauch“ und hochgelegten „Beinen“ in der Sonne zu liegen. Leute, die nicht so optimistisch sind, würden sagen „Der Arme ist mit hochgelegten ‚Beinen‘ gestorben“. Jeder interpretiert auf seine eigene Weise.

Herr Sencovici, wie sind Sie drauf gekommen, Baumstrünke zu fotografieren?

CS: In den 60er Jahren habe ich eine Baumstrünke-Ausstellung in Sinaia gesehen. Die Strünke waren nur ein wenig aufgeputzt, nicht geschnitzt, und dennoch so unglaublich beeindruckend. Einige Jahre später habe ich eine Fotoausstellung besucht, in der ebenfalls Baumstrünke dargestellt waren, aber diesmal schwarz-weiß, was noch eindrucksvoller wirkte. So kam ich darauf, dass auch sie unsere Aufmerksamkeit verdienen und ich bin einfach auf sie während meiner Wanderungen, die Kamera in der Hand, aufmerksam geworden. Man muss vorsichtig durch den Wald auf den Feldern laufen und stößt auf viele Dinge, eines schöner und ausdrucksvoller als das andere.

Sehr interessant finde ich auch Paare von Baumstümpfen. Zum Beispiel ähneln diese hier zwei schwatzenden Greisinnen. Daher die Beschriftung „Hör mal, was ich gestern erfahren habe“.

Herr Fabritius, Ihre Leidenschaft für die Tierwelt kommt auch in dieser Fotoreihe zum Vorschein. Verraten Sie uns einige kuriose Fakten über das Zusammenleben von Tieren und Bäumen.

KF: Die Tierwelt, die einen Baum umgibt, ist äußerst vielfältig. Selbstverständlich tauchen immer  verschiedene Insekten und Vöglein auf, wie zum Beispiel der Baumläufer, der auch in einem der Fotos vorkommt. Dies ist einer der kleinsten Vögel und der einzige, der einen Baumstamm auch herunterlaufen kann, denn die anderen Vögel können die Stämme nur hinauflaufen und dann fliegen sie weg. Ein anderer Fakt: Kormorane leben in Gemeinschaften und versammeln sich abends in einem Baum. Jener Baum ist zum Vertrocknen verurteilt, denn die Exkremente der Kormorane enthalten soviel Säure, dass sie Teile des Baums verätzen und dieser stirbt allmählich ab. Doch auch nachdem ein Baum umfällt, gibt es so etwas wie Totholz in der Natur nicht. Nichts geht verloren, alles verwandelt sich.

Ihnen beiden herzlichen Dank für das interessante Gespräch! 


Die Ausstellung „Graiul copacilor/Mundart der Bäume“ kann noch bis zum 18. Mai im Bukarester Kulturhaus „Friedrich Schiller“ (Str. Bati{tei Nr. 15) besucht werden.