Differenzierte Phänomenologie ungarischer Befindlichkeiten und Besonderheiten 

Buch „Ungarn verstehen“ bietet Erklärungen der politischen Entwicklungen in Ungarn seit 1990 und des Erfolgs von Viktor Orbán


Ungarn hat seit Jahren eine schlechte Presse im Westen. Auch vor Wissenschaft und Publizistik macht das neue Unverständnis für Entwicklungen im Land und eindeutige  Wahlentscheidungen für Viktor Orbán nicht halt. Es ist den tonangebenden intellektuellen, politischen, akademischen und medialen Kreisen, Milieus und Eliten im Westen schlicht unverständlich, dass Ungarn seit 2010 stabil gegen als Allgemeingut wahrgenommene linksliberale Haltungen aufbegehrt und das Wahlvolk dem rechtskonservativen Orbán und seiner Partei Fidesz regelmäßig hohe Wahlsiege bis hin zu Zweidrittelmehrheiten beschert. Heftige Vorwürfe aus dem Westen zu Justizreformen und Medienpolitik Orbáns sind an der Tagesordnung, das Verhältnis zur EU ist zerrüttet und die Regierungspartei Fidesz mittlerweile nicht mehr in der EVP-Parteienfamilie beheimatet. 

Das vorliegende, schon nach kürzester Zeit in zweiter Auflage erschienene Buch des Politikwissenschaftlers Werner J. Patzelt wirkt hier wie ein Antidoton gegenüber Halbwissen, Klischees und Vorurteilen. Es zählt zum Besten, was in letzter Zeit über Ungarn publiziert wurde. Patzelt liefert eine hintergründige politische Landeskunde und eine Phänomenologie jener historischen und mentalen ungarischen Befindlichkeiten und Besonderheiten, die zu den anhaltenden Wahlerfolgen Orbáns führen und ausgerechnet dem in der EU so ungeliebten Regime dieses Rechtskonservativen so nachhaltige Erfolge über mehrere Wahlperioden ermöglichen. 

Die Geschichte und die politische Lage und Landschaft Ungarns werden hier äußerst differenziert dargestellt und dabei auch Fremdbilder und Selbstbilder in einen komparativen Dialog gebracht. Patzelt arbeitet schlüssig heraus, dass und warum die deutliche Mehrheit der Ungarn – abgesehen von liberalen Milieus in der Hauptstadt Budapest – die Politik Orbáns und seiner Fidesz-Partei und -Regierungen von der Zuwanderungs- und Migrationspolitik über die LGBTQ-Thematik und die Politik für die ungarischen Minderheiten im Ausland bis hin zur Familienpolitik großmehrheitlich unterstützen und schlicht für richtig hält. Deutlich werden aber auch die autokratischen Züge Orbáns und entsprechende systematische machtsichernde Reformen etwa der Verfassung und des Wahlrechts hin zu einem Mehrheitswahlrecht benannt. 

Das einleitende Kapitel handelt vom Wandel des deutschen Ungarnbildes von einer traditionell äußerst positiven Wahrnehmung im Umfeld der Wende von 1989 und der Würdigung des ungarischen (heute meist vergessenen) Beitrags zur Grenzöffnung und Wiedervereinigung bis hin zu einer oft faktenbefreiten und ideologischen Generalkritik heute, bei der besonders in Deutschland Gesetze der Orbán-Regierung schon von nicht ungarischsprachigen Journalisten verrissen werden, noch bevor sie überhaupt in einer internationalen Sprache in Übersetzung vorliegen. Ungarn hat hier zweifellos die Rolle des Buhmanns in der medialen Darstellung im deutschsprachigen Raum von Rumänien übernommen, das lange unter den weitverbreiteten Dracula-, Roma-, Pferdekutschen- und Elendsklischees litt. Dass zeitgleich zu Orbáns von der Bevölkerung mit Wahlentscheidungen mehrfach positiv goutierten Reformen die linken PSD-Regierungen unter dem Patronat der Dragnea-Cliquen in Rumänien den Rechtsstaat systematisch beschädigten, entging den Medien und der Politik in Deutschland und Brüssel geflissentlich.     

Patzelt bietet einen detailreichen Überblick zur Geschichte Ungarns, dem Regierungssystem, Parteien und Parteienentwicklung seit 1989, Verfassung, Rechtswesen und Gerichtsbarkeit, Zivilgesellschaft und gerade auch zur Medienlandschaft Ungarns. Waren die Medien mit Reichweite in den 1990er Jahren aus kommunistischer Zeit noch links geprägt und agierten wie politische Akteure, so hat Orbán seit 2010 erfolgreich ihm nahestehende Medien aufgebaut und damit für mediales Gleichgewicht gesorgt. Seit seinem überraschenden zweiten Wahlsieg 2010 schaffte er es zudem, ein klassisches Mehrheitswahlrecht zu installieren, das stabile Mehrheiten ermöglicht, wie Patzelt ausführt. 

Patzelt verdeutlicht, dass die laute Kritik an Orbán im Westen sich meist auf Stellungnahmen aus der Hauptstadt Budapest als Hochburg der Opposition bezieht, während die große Mehrheit auf dem Land Politik und Person Orbáns positiv sehen, weil er deren politische Grundüberzeugungen wie das Ziel begrenzter Zuwanderung, Nationalgefühl sowie Schutz und Förderung von Familien nachhaltig umsetzt. Die Sozialisten sind zudem vor allem seit der öffentlichen Selbstbezichtigung der Lügen für den Wahlsieg seines Vorgängers Ferenc Gyurcsány und massiver Korruption bis 2010 nachhaltig diskreditiert. Außerdem fehlen den Gegnern Orbáns überzeugende charismatische Persönlichkeiten und innere Kohärenz, zählten doch zu den Wahlbündnissen gegen ihn auch so umstrittene Parteien wie die lange Zeit rechtsextreme und antisemitische Jobbik. Dies alles wurde und wird in den westlichen Medien kaum wahrgenommen. Patzelt arbeitet das heraus und bietet eine komplexe Gesamtsicht.     

Patzelt verschweigt keinen Kritikpunkt an Politik, Person und Auftreten Orbáns, erklärt aber auch die ungarischen Eigenheiten und Mentalitäten gerade im Blick auf das Verhältnis zur EU, die zu Orbáns Wahlerfolgen geführt haben. Diese resultieren vor allem aus der Geschichte einer jahrhundertelangen wechselnden Fremdherrschaft von Osmanen über Habsburger bis zu den Kommunisten. Seine Ausführungen beruhen nicht auf den üblichen oberflächlichen Stereotypen und Klischees, sondern sind faktenbasiert, ergänzt durch historische Tiefenbohrungen.  

Zu den Politikfeldern, die ausführlich behandelt werden, zählen besonders relevante Bereiche wie die Erinnerungskultur und die Minderheitenpolitik im In- und Ausland, klassische Themen wie Haushalts-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, Steuer- und Sozialpolitik, Bildungspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch heiße Eisen wie die LGBTQ-Politik Orbáns, die im Ausland umstrittener ist als im Lande selbst. Auch seine missverständliche Rede von der „illiberalen Demokratie“ wird von Patzelt seziert und als Kritik an neoliberalen Politikentwürfen identifiziert. Besonders aufschlussreich ist das Kapitel 5 („Orbán-Land“; S. 403-469), in dem Patzelt die vorherrschenden Narrative pro und kontra Orbán vergleichend diskutiert. In acht bedenkenswerten „Deutungsschlüsseln“ wird schließlich das Phänomen des anhaltenden Fidesz-Erfolges nachvollziehbar erklärt.    

Patzelts Werk zielt darauf ab, „Lesende und Mitdenkende in die Lage zu versetzen, sich selbst ein Urteil zu bilden“ (S. 403) und „einem eigenständigen Urteil des Lesers zuzuarbeiten“ (S. 467). Dem dient dieser Band auf eine konstruktive Weise. Wer sich mit Ungarn und Viktor Orbán beschäftigt und auseinandersetzt, sollte dieses Buch unvoreingenommen lesen und zur Kenntnis nehmen. Es schließt die Kluft zwischen Wahrnehmung und Wissen, auch wenn aus rumänischer Sicht die Politik Orbàns für die ungarischen Minderheiten im Ausland durchaus von kritikwürdigen Einseitigkeiten und manchen Maßlosigkeiten gekennzeichnet ist. Die Ungarn selbst nehmen Orbàn freilich mehrheitlich als einen Politiker wahr, der die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung in wichtigen Fragen respektiert und umsetzt. Das ist man in Deutschland von der Asylpolitik bis zur Energiepolitik schon lange nicht mehr gewohnt.  

Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen. Geschichte, Staat, Politik; Langen Müller Verlag, München 2023, geb., 482 S., ISBN 978-3-7844-3678-4