Ein grundlegendes Dokument für die rumänische Demokratie

Die Temeswarer Proklamation – 35 Jahre danach, immer noch aktuell

Der gesamte Text der Proklamation ist online zu finden. Er kann aber auch in der Bega-Stadt an verschiedenen Orten gelesen werden – darunter auf der Bronzeplatte an der Fassade der ehemaligen Stadtkommandantur am Freiheitsplatz oder auf der Litfaßsäule am Operplatz. Die Gesellschaft hat auch eine Broschüre dazu in verschiedenen Sprachen, darunter auch auf Deutsch, veröffentlicht. Diese ist u. a. im Temeswarer Infozentrum in der Alba-Iulia-Straße zu finden. | Fotos: die Timișoara-Gesellschaft

35 Jahren sind vergangen, seitdem vom Balkon der Temeswarer Oper die Proklamation von Temeswar/Proclamația de la Timișoara vorgelesen wurde. Vor 15.000 versammelten Menschen betonte der Journalist und Schriftsteller, später auch Politiker, George Șerban, den Text, der insgesamt 13 Absätze vereint – ein grundlegendes Dokument, das Teil des Kampfes der rumänischen Gesellschaft für die Konsolidierung der Demokratie war und weiterhin bleibt. 
In einem sensiblen aktuellen geopolitischen Kontext, in dem Demokratien immer anfälliger werden, ist es umso wichtiger, das bürgerliche Gewissen als Abwehr gegen autokratische Tendenzen zu stärken. Wie liest man also die Proklamation heute? – Davon ausgegangen wurde Mitte März eine Reihe von Veranstaltungen in der Bega-Stadt ausgetragen, um vor der Öffentlichkeit von den Werten der Demokratie zu sprechen. Ausstellungen, Vorträge, Debatten und die Verleihung der Preise der Timișoara-Gesellschaft wurden in Temeswar/Timișoara organisiert.

Nach der Revolution vom Dezember 1989 war die Proklamation von Temeswar ein wichtiger historischer Moment. Nachdem die Revolution durch einen getarnten Staatsstreich konfisziert worden war, folgte die Temeswarer Proklamation einer Rückbesinnung auf die Ursprünge der Revolution und insbesondere auf ihre zutiefst antikommunistische Bedeutung. Das programmatische Dokument, in dem verkündet wird, dass die Ideale der Revolution verraten wurden und der Aufstand friedlich fortgesetzt werden muss, ist insbesondere für seinen 8. Absatz bekannt. Dieser verbot allen ehemaligen Aktivisten und Geheimdienstmitarbeitern per Wahlgesetz das Recht, für ein Staatsamt zu kandidieren, und zwar für insgesamt drei darauffolgende Amtszeiten. „Der Präsident Rumäniens muss eines der Symbole unserer Trennung vom Kommunismus sein“, hieß es. Ion Iliescu, der rumänische Politiker, der sich im Zuge der Revolution im Dezember 1989 an die Spitze des Rates der Front zur Nationalen Rettung (FSN) setzte und nach dem Sturz des langjährigen Herrschers Nicolae Ceaușescu die Regierungsgewalt übernahm, hatte aber eine Ausnahme von diesem Absatz beantragt, soweit er betroffen war. Doch die Initiatoren der Proklamation erwiesen sich als kompromisslos: „Die Temeswarer Revolution war von den ersten Stunden an nicht nur anti-Ceaușescu, sondern auch kategorisch antikommunistisch, wobei an allen Tagen der Revolution ´Nieder mit dem Kommunismus´ Hunderte von Malen skandiert wurde“, hieß es im Text der Proklamation. 

Am 11. März wurden die insgesamt 13 Ansätze dieser von dem zum Symbol der Revolution vom Dezember 1989 gewordenen Balkon der Temeswarer Oper laut vorgelesen. „Das Volk von Temeswar war der Initiator der rumänischen Revolution. Zwischen dem 16. und 20. Dezember 1989 führte es im Alleingang einen erbitterten Kampf gegen eines der mächtigsten und abscheulichsten Unterdrückungssysteme der Welt. Es war ein schrecklicher Kampf, den wir, das Volk von Temeswar, in seinen wahren Ausmaßen kennen. Auf der einen Seite die unbewaffnete Bevölkerung, auf der anderen Seite die Securitate, die Miliz, die Armee und die eifrigen Truppen der Parteiaktivisten. Doch alle Methoden und Mittel der Unterdrückung erwiesen sich als machtlos gegenüber dem Freiheitswillen und dem Siegeswillen der Temeswarer Bevölkerung. Keine Verhaftungen, keine Schikanen, nicht einmal Massenmord konnten sie aufhalten. Jede abgefeuerte Kugel brachte hundert weitere Kämpfer auf die Barrikaden der Revolution. Und wir haben gewonnen.“ – So der anleitende Text der Proklamation von Temeswar.

Der zusammengefasste Text wurde von insgesamt 189.510 Unterstützern  unterzeichnet. Gleichzeitig gab es aber auch erste ablehnende Reaktionen, insbeson-dere im Hinblick auf den umstrittenen Absatz 8. Zahlreiche Proteste gegen diese Ablehnung fanden landesweit statt, jedoch mit keinen großen Änderungen auf der politischen Ebene in Rumänien nach der Wende. Am 20. Mai 1990 fanden die ersten freien Wahlen im postkommunistischen Rumänien statt, bei denen FSN die Macht übernahm und Ion Iliescu mit 85 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt wurde.

Kampf für Erhaltung der Demokratie

Der Initiator der Proklamation, George Șerban, ist in der Zwischenzeit verstorben, doch der Kampf der vor 35 Jahren gegründeten Timișoara-Gesellschaft für die Erhaltung der demokratischen Werte geht weiter. „Der Text der Proklamation ist heute aktueller als je zuvor. Es gibt viele wesentliche Dinge, die im Jahr 2025 in der gleichen Tonart zu lesen sind. Wir haben einen Anstieg des Nationalismus, der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus – einen Anstieg, den ich 35 Jahre nach der Revolution und viele Jahre nach unserer Mitgliedschaft in der EU nicht erwartet hätte. Wir erinnern uns daran, dass wir zu Beginn durch das Fegefeuer des Europarates gegangen sind, der uns die Lektion der Menschenrechte und die Lektion der Toleranz und der Bekämpfung des Nationalismus beibringen wollte. Artikel 4 der Proklamation erinnert uns daran, und hier sind wir nun, 35 Jahre später, und wir fordern die Menschen auf, erneut auf die Straße zu gehen, um das zu verteidigen, was wir gewonnen haben, um die Demokratie zu verteidigen und um Nein zu Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu sagen“, so Florian Răzvan Mihalcea, der seit Jahren Vorsitzender der Timișoara-Gesellschaft ist, der ADZ gegenüber. 

Punkt 8 – ein umstrittener Absatz

Was wäre, wenn der Abschnitt 8 damals doch umgesetzt worden wäre? – Dies ist eine Frage, die sich die Öffentlichkeit seit nun 35 Jahren immer wieder stellt. Hätte die Geschichte anders geschrieben werden können? „Nicht nur dieser Absatz, sondern auch die Umsetzung anderer, hätten zu einer anderen politischen Lage in Rumänien geführt. Die Strukturen, die vom kommunistischen Regime und der Securitate so viele Jahrzehnte aufgebaut wurden, sind geblieben, weil es uns eben damals, 1990, nicht gelungen ist, einen Bruch in ihrer Entwicklung zu erreichen. Nach zehn Jahren hätte sich dies alles normalisiert. Diese Pause hätte es der Gesellschaft ermöglicht, sich zu reinigen und zu regenerieren“, setze Florian Mihalcea fort. 

35 Jahre, die nun seit der antikommunistischen Revolution und seit der Proklamation von Temeswar vergangen sind, das ist eine lange Zeit, die einen Abriss zwischen Generationen darstellt. Die jungen Menschen können kaum noch Unterschiede zwischen Kommunismus, Demokratie und Nationalismus finden und das Thema Revolution bleibt eine große Unbekannte. „Es ist auch normal, dass sie all diese Ereignisse von vor 35 Jahren aus weiter Ferne betrachten. Ich erinnere mich, als ich 1980 Student war – seit dem Kriegsende 1945 waren damals genau 35 Jahre vergangen. Für mich und meine Generation lag der Krieg irgendwo in der weiten Geschichte. Genauso sehen es heute die jungen Menschen. Wenn aber zum Zweiten Weltkrieg viele Schriften und Tatsachen bekannt sind, danach viele Verfassungen und neue Partnerschaften und Gesetze entstanden sind, gibt es in der nahen Geschichte zu wenige Informationen zu den Ereignissen von 1989 in Rumänien. Nur verkürzte Informationen, die nicht wirklich wahr sind. Wir haben immer noch Dinge, die von einem Gericht nicht bestätigt werden können. Nur Bruchstücke der Wahrheit. Also können wir auch nicht verlangen, dass die jüngeren Generationen die Tatsachen richtig verstehen”, so Mihalcea. 

In dieser Hinsicht hat die Timișoara-Gesellschaft am 15. März den französischen Historiker Thierry Wolton eingeladen, einen Vortrag über die Auswirkungen der kommunistischen Regime in Europa zu halten. Im Anschluss wurde auch eine Debatte zum Thema „Wie liest man heute die Proklamation von Temeswar?” organisiert. Daran beteiligten sich Horia-Roman Patapievici, Sabina Fati, Vasile Bănescu, Florian Mihalcea, Florin Negruțiu und Vladimir Tismăneanu (online).

Im Anschluss wurden auch die Preise der Gesellschaft verliehen: Der „Speranța”-Preis („Hoffnung“) ging an den polnischen Premierminister Donald Tusk, den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Rates. „Er ist unserer Meinung nach der Mann der Stunde. Er ist auch für uns, für die Rumänen, eine Hoffnung, denn er ist auf dem Weg, die Verteidigung der Ostflanke unter allen Umständen zu gewährleisten“, sagte der Vorsitzende der Timișoara-Gesellschaft bei der Preisverleihung. Der „Alexandra Indrieș“-Preis wurde an Valeriu Nicolae, Journalist, Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist verliehen. Der „Oscar Berger“-Preis wurde den Journalisten Florin Negruțiu und Ioana Ene Dogioiu vergeben. Der Preis „Punkt 12 der Temeswarer Proklamation“ ging an Franz Metz, den ehemaligen Organisten der römisch-katholischen Kirche in der Elisabethstadt/Elisabetin. Der Preis „Ion Monoran“ wurde Vasile Bănescu, dem ehemaligen Sprecher des rumänischen Patriarchats, und Petru Ilieșu, dem Gründer der Stiftung „Timișoara 1989“, einem der wenigen antikommunistischen Dissidenten in Timișoara, verliehen. Der „Hammer und Sichel“-Preis ging an den PNL-Europaabgeordneten Rareș Bogdan für seine „besonderen Bemühungen um die Erhaltung und Unterstützung des (neo)kommunistischen Systems und der Strukturen in Rumänien“. „Es ist offensichtlich, warum Rareș Bogdan diese Auszeichnung erhalten hat. Der Schaden, den er in letzter Zeit vor dem Wechsel an der Spitze der PNL angerichtet hat, hat die Wähler verunsichert und zu einem Bündnis beigetragen, das für Rumänien äußerst schädlich ist. Und nicht zuletzt hat er fleißig Stimmen für Călin Georgescu gesammelt“, fügte Florian Mihalcea hinzu. 


„Am 20. Dezember 1989 kam Temeswar endgültig unter die Kontrolle der Bevölkerung und wurde zu einer freien Stadt in dem großen Gefängnis, zu dem Rumänien in jenen Tagen geworden war. Von diesem Tag an wurden alle Aktivitäten in der Stadt von der Tribüne auf dem Opernplatz aus von der Rumänischen Demokratischen Front geleitet, die damals die Revolution in Temeswar vertrat. An diesem Tag verbrüderte sich die Armee mit den Demonstranten und beschloss, den Sieg gemeinsam mit ihnen zu verteidigen. Am 21. Dezember skandierten über hunderttausend Menschen auf dem Opernplatz: ´Wir sind bereit zu sterben´. Eine Reihe von Ereignissen in Rumänien, insbesondere nach dem 28. Januar 1990, stehen im Widerspruch zu den Idealen der Temeswarer Revolution. Diese Ideale sind der rumänischen Öffentlichkeit von den zentralen Medien nicht einmal zur Kenntnis gebracht worden, außer teilweise und verworren. Unter diesen Umständen sehen wir, die direkt an allen Ereignissen zwischen dem 16. und 22. Dezember 1989 beteiligt waren, uns gezwungen, der ganzen Nation zu erklären, warum das Volk von Temeswar die Revolution begonnen hat, warum es gekämpft hat und warum viele von ihnen ihr Leben geopfert haben, warum wir immer noch entschlossen sind, um jeden Preis und gegen jeden zu kämpfen, bis wir den vollständigen Sieg erringen.” – so in der Anleitung der Proklamation von Temeswar vom 11. März 1990.