Eine Tagebuchseite

Ein Tag im Leben einer 12-Klässlerin, die sich auf die Abiturprüfung vorbereitet

Es ist kein bestimmter Tag – so verläuft eigentlich jeder einzelne Tag, seit dem ich fürs Abi lerne. Und für die Aufnahmeprüfung bei der Medizinhochschule. Schule, Nachhilfestunden, Selbststudium daheim, Schlaf und wie-der von Anfang an – es bleibt so wenig Zeit für Freunde und für das, was mir eigentlich Spaß macht. Zum Glück soll es nur bis nächsten Sommer dauern. 


6:15 Uhr:„Ina, wach auf!“, höre ich meine Mutter aus der Küche rufen. Es geht wieder von vorne los. Ich frühstücke, mache mich fertig und gehe aus dem Haus. Nach einem Sommer voller Spaß, durchfeierter Nächte mit meinen Freunden, trifft mich die Realität: Ich bin jetzt in der zwölften Klasse. Wann ist nur die ganze Schulzeit vergangen?

Ich mag den Gedanken, dass nichts unmöglich ist. Wenn man sich etwas wirklich wünscht und hart dafür arbeitet, kann es wahr werden. Aber was, wenn das nicht genug ist? Und… ist das wirklich die richtige Entscheidung? Werde ich es bereuen? Solche Fragen gehen mir ständig durch den Kopf,  wenn ich an die Zeit denke, die nun vor mir liegt. Ich wusste schon immer, dass dieser Moment kommen würde – aber wer hätte gedacht, dass drei Jahre Lyzeum sich wie drei Sekunden anfühlen würden?

Für mich wird die Schulzeit eine unvergessliche Erfahrung bleiben. Ich spreche nicht von dem endlosen Lernstoff, sondern den Erinnerungen: das Gefühl endlich zu „den Großen“ zu gehören, die ersten Begegnungen mit meinen Kollegen, von denen einige heute meine besten Freunde sind, Ferienlagern, Partys, Kaffeepausen während des Unterrichts, lange Gespräche mit Lehrern, mit denen man über alles und nichts reden konnte – ich kann dafür nur dankbar sein. Doch all das muss ich nun beiseite legen, tief in meinem Herzen bewahren und mich auf das konzentrieren, was jetzt wichtig ist: die Zukunft.

7:30 Uhr: Ich sitze im Klassenzimmer – meine Gedanken sind jedoch noch immer in meinem warmen Schlafzimmer.  Jetzt wünsche ich mir nicht mehr, dass der Tag schnell vergeht. Ich würde so gerne noch länger hier bleiben, an dem Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Es ist seltsam, daran zu denken, dass ich inzwischen jede Ecke dieses Gebäudes so gut kenne wie meine eigene Handfläche. Dass manche von uns bereits seit dem Kindergarten zusammen sind gibt mir ein Gefühl der Zugehörigkeit – fast so, als wären wir eine Familie. Und die Lehrer haben mit uns alles durchgemacht und miterlebt. Die Klassenzimmer, die Treppen, die morgens so endlos erscheinen, bedeuten für uns „Zuhause“. Jedes Wort, das ich auf Deutsch spreche, wird mich in die Stunden bei Frau Lehrerin Niculiu zurückversetzen; die Geschichtsstunden bei Frau  Ilinca werden mich immer daran erinnern, wie wichtig es ist, aus der Vergangenheit zu lernen, um die Gegenwart zu verstehen; und die letzte Seite eines Romans wird mich an meinen ersten Klassenlehrer denken lassen. Ich finde keine Worte, um den Einfluss zu beschreiben, den unsere Lehrer auf mich hatten - von jedem habe ich etwas mitgenommen.

Heute wählen wir die Farbe unseres Abschlussschals… Wo sind nur die kleinen Stäbchen geblieben?

13:20 Uhr:„Kommt schnell, lasst uns einen Kaffee trinken – wir sind ja sowieso den Rest des Tages beim Lernen!“, sagt meine Freundin und zieht mich und die anderen beiden Mädchen aus der Klasse mit. Am Anfang waren wir nur wir vier „beste Freundinnen“ mit denen ich alles teile, ja sogar die Jause – jetzt ist es ein ganzes Universum von Freunden und Bekannten.

Im letzten Jahr war aber vieles anders. Wir schaffen es nur selten, alle zusammenzukommen, denn: „Ich kann nicht, ich habe Nachhilfe.“ oder „Geht heute nicht, ich muss lernen.“

Früher spielten wir Gesellschafts- oder Kartenspiele, heute reden wir über das Abitur oder über Aufnahmeprüfungen. Wie viele von uns werden im Ausland studieren, wie viele bleiben daheim? 

Was wir alles durchgehen mussten, seitdem wir uns kennen: Am Anfang wollten wir Ballerinas oder Fußballspieler werden, dann ins Pilates und ins Fitnessstudio, danach kam Klavier- oder Gitarrenunterricht oder ein Robotikkurs. Und wir haben auch Schule und Freundschaften nur vor dem Bildschirm erlebt.
Inzwischen telefoniert unser Klassenkollege mit seiner Großmutter: „Ja, ich komme am Samstag zu dir, mach bitte Tomatensuppe!“, sagt er mit warmer Stimme und eilt weiter, um nicht zu spät zur Nachhilfe zu kommen. 

Und doch – trotz all der Veränderungen – eines hat sich nicht geändert: die Verbindung zwischen uns: Vielleicht sehen wir uns nicht mehr jeden Tag, vielleicht hat die Zeit keine Geduld mehr mit uns, aber jeder Witz, jeder Blick, jede gemeinsame Erinnerung hält uns zusammen. Denn oftmals merken wir nicht, wann wir die schönsten Momente erleben – wir erkennen es erst, wenn sie zu Erinnerungen werden. Die Schulzeit wird enden, aber ein Teil von mir wird für immer hierbleiben – an dem Tisch in der Ecke, zwischen dem Dampf einer Kaffeetasse und dem Lachen meiner Freunde.

15:00 Uhr:„Ina, steh gerade, Schultern zurück!“, ruft Otilia, die Physiotherapeutin, die ich nun schon seit acht Jahren wöchentlich sehe. Hier beginnt die Geschichte meines Wunsches, Ärztin zu werden. Man weiß nie, wie sehr die Menschen, denen man begegnet, einen beeinflussen können – manche werden zu wahren Vorbildern. Genau das bedeutet für mich das Team des Physiotherapiezentrums. Jahrein, jahraus dieselben Übungen, dieselben Ermutigungen, dieselbe ruhige Stimme, die mir sagte, dass ich es schaffen kann. Ich habe gelernt, dass Heilung nicht nur aus Behandlung besteht, sondern auch aus Vertrauen, Durchhaltevermögen, Empathie und Hingabe. In gewisser Weise war jede Therapiesitzung eine Lebenslektion: darüber, wie man aufsteht, wenn man am liebsten aufgeben würde, und wie man an sich selbst glaubt, auch wenn es weh tut.

Es ist leicht, sich etwas zu wünschen, aber wie wird der Weg dorthin aussehen? Manchmal habe ich das Gefühl, die ganze Last der Zukunft auf meinen Schultern zu tragen. Niemand verlangt von mir, perfekt zu sein. Ich zwinge mich aber selbst, keine Fehler zu machen, niemanden zu enttäuschen. Ich mache Pläne, Listen, setze mir Fristen – und ständig summt die Angst vor dem Scheitern leise im Hintergrund.

Gleichzeitig spüre ich auch einen unsichtbaren und oftmals unausgesprochenen Druck von außen – die Erwartungen der Eltern, die Blicke der Lehrer, die weisen Ratschläge. Ich sehe in ihren Augen den Wunsch, dass ich es schaffe, dass ich die Fehler anderer nicht wiederhole, dass ich ihnen bestätige, dass sich all ihre Mühe gelohnt hat. Ich weiß, all das kommt aus Liebe und Vertrauen – und doch ist es manchmal schwer, mit dem Gefühl zu leben, dass man nicht enttäuschen darf.

17:30 Uhr:„…vier unpaare Knochen: Stirnbein, Siebbein, Keilbein, Hinterhauptsbein“, wiederhole ich in Gedanken, bevor ich den Biologieraum betrete. Ich schaue mich um und merke: Wir alle fühlen das Gleiche – Müdigkeit, Angst, Hoffnung und diese allgemeine Verwirrung, die uns vergessen lässt, wie viele Tassen Kaffee wir heute schon getrunken haben. Niemand spricht es aus, aber man sieht es: in den müden Augen, im gezwungenen Lächeln.

Es beruhigt mich, dass ich all diesem Chaos nicht alleine ins Gesicht schauen muss. Vielleicht macht uns die Zukunft Angst, aber wenn wir schon Panik schieben, dann wenigstens gemeinsam.

Das Biologiebuch ist fast schon eine eigene Figur im Nachhilferaum. Man schlägt es auf, und sofort springen einem komplexe Diagramme entgegen, Pfeile, Notizen und Randbemerkungen, so oft unterstrichen, dass die Buchstaben kaum noch lesbar sind. Jede Seite ist ein Labyrinth aus Begriffen, die eher wie Zaubersprüche klingen. Jeder Absatz, den man versteht, ist ein kleiner Sieg – ein Grund zu lächeln und zu spüren, dass es, trotz der langen Stunden, Fortschritt gibt.

Niemand spricht darü-ber, wie viel ein Zwölftklässler wirklich leistet. Jeder Tag beginnt mit der Schule, geht weiter mit Nachhilfe und endet spät – mit offenen Heften und Büchern, mit Gedanken an die Prüfungen, die immer näher rücken. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Zeit gar nicht mehr existiert. Und doch bleibt das Leben nicht stehen. Man muss das Gleichgewicht finden – die Verbindung zu Freunden nicht verlieren, mal einen Film schauen oder auf ein Date gehen.

19:00 Uhr: Endlich, nach einem langen Tag bin ich wieder zu Hause. Wie immer wartet meine Mutter mit einem warmen Essen auf mich, bereit, über meinen Tag zu sprechen. Mein Vater sitzt schon am Tisch, zappt durch die Fernsehsender, aber in Wahrheit wartet er nur auf den richtigen Moment, um das Gespräch darüber zu beginnen, wie ich die Dinge vielleicht besser hätte machen können. Meine Mutter lächelt mich an und fragt, ob ich tagsüber etwas gegessen habe – als wüsste sie die Antwort nicht schon längst. Ich zucke mit den Schultern, und sie seufzt: „Siehst du, ich hab’s dir gesagt – nur mit Kaffee und Brezeln kannst du nicht leben!“

Unsere Gespräche sind immer eine Mischung aus Lachen und kleinen Meinungsverschiedenheiten. Mama streut ihre Ratschläge dazwischen – „Geh nicht so spät ins Bett“, „Iss mittags wenigstens etwas“. Papa dagegen ist kurz und direkt: „Mach, was du musst, dann wird alles gut.“ Und obwohl ich ihre Wiederholungen manchmal satt habe, weiß ich, dass hinter jedem Wort ehrliche Fürsorge steckt – eine Liebe, die man nirgend-wo sonst findet.

Manchmal denke ich, wie glücklich ich bin. Gerade jetzt, wo alles so schnell geht – Schule, Freunde, Pläne, Sorgen – sind sie mein Anker. Ja, sie nörgeln, aber nur, weil sie sich sorgen. Sie sagen mir dieselben Dinge nicht, weil ihnen nichts anderes einfällt, sondern weil sie wollen, dass es mir gut geht. Ich weiß, ohne sie wäre es viel schwerer, meinen Weg zu finden.

Mama hat eine Angewohnheit, die mich jedes Mal amüsiert: Sie prüft mich beim Lernen – vor allem bei Biologie. Ich sitze am Schreibtisch, das Heft offen, versuche mir all diese komplizierten Begriffe über Zellen, Systeme und Enzyme zu merken, während sie auf dem Bett sitzt, mit einem konzentrierten Blick, als wäre sie meine Lehrerin. Manchmal versteht sie sogar wirklich etwas davon. Sie verbessert mich bei einer Definition – auf ihre lustige Art – und wir beide lachen. Irgendwie wird das Lernen leichter, wenn sie in der Nähe ist.

23:30 Uhr:„Hausaufgabe in Geschichte – ja. Hausaufgabe in Deutsch – ja. Aufsatz in Rumänisch – ja. Chemie – auch erledigt.“ Ich schließe ich meinen Planer, zufrieden, dass ich alles geschafft habe, was ich mir für heute vorgenommen hatte. Meistens gelingt es mir, mit den Aufgaben Schritt zu halten, weil ich jeden Moment nutze - sogar den Heimweg von der Schule. Zu Hause konzentriere ich mich lieber auf das Lernen für die Aufnahmeprüfung und das Abitur, die mir in dieser Zeit viel wichtiger erscheinen.

Obwohl ich alles für die Schule erledigt habe, bleibt mir in letzter Zeit kaum Raum für das, was ich wirklich liebe: zu zeichnen, einen Liebesroman zu lesen oder Klavier zu spielen. Eine Sache jedoch, auf die ich niemals verzichten könnte, ist Musik. Bevor ich mit dem Lernen oder den Hausaufgaben beginne, setze ich meine Kopfhörer auf – und sofort stellt sich ein gutes Gefühl ein. Die Aufgaben wirken nicht mehr so schwer, und die Zeit vergeht schneller. Musik hilft mir, mich zu konzentrieren und gleichzeitig zu entspannen. Auch im Bus mache ich das Gleiche. Meistens  setze ich mich ans Fenster, stecke die Kopfhörer ein und drücke auf „Play“. Nach ein paar Sekunden verschwinden alle Geräusche um mich herum: nur ich und die Musik bleiben. Ich schaue aus dem Fenster, und die Welt draußen scheint sich im Rhythmus des Liedes zu bewegen. Ich weiß, dass ich von außen leicht als eine von „den Jugendlichen von heute, die scheinbar orientierungslos sind”, abgestempelt werde. Manchmal merke ich gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht – und wenn ich ankomme, tut es mir fast leid, die Musik zu stoppen.

00:15 Uhr:„Ina, geh ins Bett, lass das Handy!“ – ruft meine Mutter aus ihrem Zimmer. Und so schlafe ich am Ende des Tages ein, mit Gedanken an den kommenden Sommer.