Gestrandet in einem Hafen namens Nachtasyl

Ärzte boten Obdachlosen kostenlose Untersuchungen an

Am Weltgesundheitstag wurde im Nachtasyl eine mobile Klinik eingerichtet, um die Obdachlosen zu untersuchen. Viele junge Ärzte machten freiwillig mit. Rechts oben: Fast immer gibt es auch Zeit für Gespräche: Prof. Dorel Săndesc ist gewillt, sich die Lebensgeschichten der Menschen, die er untersucht, anzuhören.

Er redet nicht und hat keine Identität: „Mutu“ lebt seit zwei Monaten im Nachtasyl der Caritas, wo er human behandelt wird. Fotos: die Verfasserin

Aus dem hellgelb gestrichenen Haus mit Gittern an den Fenstern erklingen viele Stimmen, obwohl es längst noch nicht Abend ist im „Pater Jordan“-Nachtasyl. Es ist erst 15 Uhr an diesem Freitag, doch so langsam kehren die Bewohner wieder heim. Drei Männer rauchen ungestört im Hof. Eine Frau in dunkelgrüner Pelzjacke streichelt noch rasch eine graue Katze, die sich liebevoll an ihr Bein schmiegt, bevor sie sich zu den Rauchern gesellt. Alle grüßen höflich, winken sogar noch kurz hinüber. Die drei zählen zu den 74 Männern und Frauen, die jede Nacht eine Bleibe im „Pater Jordan“-Nachtasyl für Obdachlose der Diözesancaritas Temeswar finden. Für mehr als die Hälfte der Menschen, die dort übernachten, ist das Nachtasyl ihr eigentliches Zuhause. So wie es einst die Straße gewesen ist. 

Der große Saal im Hochparterre des Gebäudes in der Brâncoveanu-Straße, jener Raum, in dem gewöhnlich die Bewohner des Nachtasyls an langen Holztischen zu Abend essen, wurde für etwa drei Stunden zu einer Klinik umgestaltet. An die 20 Ärzte, die meisten davon recht jung, kümmern sich um die Männer und Frauen, die im Nachtasyl leben – sie messen ihren Blutdruck, untersuchen sie mit dem Stethoskop, führen EKG durch, und weiteres. 

Es ist der 7. April, der Weltgesundheitstag, und für die Mediziner, die heute ins Nachtasyl gekommen sind, ist es eigentlich ein arbeitsfreier Tag. Sie haben jedoch entschieden, nicht etwa übers verlängerte Wochenende irgendwohin zu fahren, um zu entspannen, sondern sich jenen Menschen zu widmen, die in ihrem Leben weniger Glück gehabt haben. 
Die vierte mobile Ärztekarawane, ein Projekt des ATI-Vereins „Aurel Mogo{eanu“ in Temeswar, führte die Mediziner um den Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin Prof. Dr. Dorel S²ndesc ins Nachtasyl der Caritas, um den Nutznießern kostenlose Untersuchungen der inneren Medizin, Kardiologie, Pneumologie, Endokrinologie, Neurologie und Optometrie anzubieten. 

„Wie eine Familie“

Blaue Sporthose, schwarzes Hemd mit hohem Kragen, darüber eine einfache, schwarze Weste: Adrian ist 43 und lebt seit 1998, mit einigen Unterbrechungen, im Temeswarer Nachtasyl. Er ist derzeit arbeitslos, doch in der Vergangenheit hat er mehrere Jobs gewechselt. „Ich habe in einer Fabrik gearbeitet, doch die Menschen missachten uns, wenn sie erfahren, wer man ist, wo man lebt“, sagt er betrübt. Seine Stirn ist von Falten geprägt. Besonders tief: Die Zornfalten über seiner Nase.

Er stamme eigentlich aus einer guten Familie, doch die Eltern hätten sich irgendwann scheiden lassen und die Kinder im Kinderheim abgegeben. Im „Rudolf Walther“-Kinderdorf habe er gelebt und dort die Schule besucht, auch den Beruf eines Tapezierers erlernt. Dann habe er jahrelang auf der Straße gelebt, u.a. in einem Kanal in der Nähe des Volksparks. 
„Bis uns Pater Berno, Gott habe ihn selig, hergebracht hat“, sagt Adrian dankbar und lächelt, als er sich an den gutmütigen Salvatorianer-Pater Berno Rupp erinnert. Das Nachtasyl für Obdachlose war Pater Bernos erstes Hilfsprojekt in Rumänien. Ihm verdanken viele Menschen sogar ihr Leben – denn der harte Winter auf der Straße kann in Rumänien tödlich sein. 
Adrian hat einen 23-jährigen Sohn, der „zum Glück seine eigene Familie hat“. Der Mann scheint zufrieden zu sein, sich mit seiner Lebenslage abgefunden zu haben. Es sei gut im Nachtasyl, man unterstütze einander „wie in einer Familie“ – vor allem die Jüngeren würden den älteren Menschen helfen. 

Wer beispiesweise nicht die 50 Bani hat, die für eine Übernachtung im Asyl gezahlt werden müssen, der bekomme sie von jenen, die das Geld haben. Die Menschen halten in der Not zusammen.

„Das ist keine Razzia“

Zur Nachtasyl-Familie gehört auch Ana, 42. Sie scheint heute besonders gut gelaunt zu sein. „Geh ruhig, lass dich untersuchen, das ist keine Razzia“, ermahnt sie einen misstrauischen Kollegen, der sich aber nicht umstimmen lässt. 

Ana trägt rote Sportschuhe, eine schwarze Sporthose mit dem Logo des Deutschen Fußballbundes, ein rot-gelb-blaues T-Shirt und eine schwarze Wintermütze auf dem Kopf. Sie sei 2002 zusammen mit etwa zehn Kindern aus einem Kinderheim in Bârlad nach Temeswar gekommen. „Heute spielt Bayern und ich bin großer Bayern-Fan. Sie werden bestimmt gewinnen“, sagt sie. Zusammen mit den jüngeren Männern, die im Nachtasyl leben, schaut sie jeden Abend Fußball. „Tagsüber und bis gegen 19 Uhr schauen die Alten, was sie wollen, abends sind wir mit dem Fußball dran“, erklärt sie, wie sie sich 74 Menschen die vor dem Fernseher verbrachte Zeit einteilen. Zurzeit arbeitet sie halbtags als Putzfrau in einem Hotel. 

Sowohl sie als auch Adrian geben einen Teil ihres Einkommens für Sportwetten aus. „Wenig, ein paar Lei sind das nur. Ich habe einmal mit fünf Lei 1700 Lei gewonnen“, erzählt Adrian stolz. Gerade Menschen, denen es finanziell nicht besonders gut geht, finden das schnell und leicht verdiente Geld reizvoll. In der Nähe des Nachtasyls befindet sich eine Sportwettenbude. 

Wie Schiffe im Hafen

Der Arzt Dorel Săndesc, der 2022 für seine Wohltätigkeitskampagnen mit der Trophäe „Arzt des Jahres“ der rumänischen Ärztekammer ausgezeichnet wurde, steht im Mittelpunkt der Aktion, die heute im Nachtasyl stattfindet. Er trägt eine schwarze Lederjacke, darunter ein schwarzes Rocker-T-Shirt mit der Aufschrift „Anesthesia Rocks“, und einen schwarzen Hipster-Hut auf dem Kopf. 

Dorel Săndesc ist heute nicht als Universitätsprofessor oder Kreiskrankenhausmanager hier, sondern als Mensch, der für seine Mitmenschen da ist. Er unterhält sich gern mit allen, die er heute untersucht, er nimmt sich dafür die notwendige Zeit. Die Lebensgeschichten der Nachtasyl-Bewohner interessieren und beeindrucken ihn. Die Menschen öffnen ihre Herzen gern. So auch die über 70-jährige Frau mit einer Tochter und drei Enkeln, für die sie keine Last sein möchte. Deswegen lebt sie im Nachtasyl für Obdachlose. „Man sieht es vielen an, dass sie ganz besondere Menschen sind, Intellektuelle, die aus verschiedenen Gründen im Nachtasyl gelandet sind. Ich vergleiche sie mit einst wunderschönen Schiffen, die alle in diesem Hafen namens Nachtasyl gestrandet sind“, erzählt Dorel Săndesc. 

Der Absolvent der Klausenburger Medizinfakultät leitet seit 2002 die Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie am Kreiskrankenhaus in Temeswar. Dies ist die vierte Wohltätigkeitskampagne im Temeswarer Nachtasyl für Obdachlose. „Diese Menschen müssen von Zeit zu Zeit untersucht werden, weil es Gesundheitsprobleme gibt, bedingt durch ihre Lebensbedingungen“, sagt Dorel Săndesc. „Ich habe vor einiger Zeit einen obdachlosen Mann getroffen, er stand in der Nähe der Sternwarte und las einen berühmten Roman. Wir sind ins Gespräch gekommen und so habe ich von seiner Unterkunft, dem Nachtasyl, erfahren“, erzählt der Facharzt, wie er auf die Unterkunft aufmerksam geworden ist. 

„Es macht uns Freude, diesen Menschen zu helfen. Es gibt nichts Schöneres als die Genugtuung, die wir verspüren, wenn sich diese Menschen uns gegenüber dankbar zeigen“, sagt er. „Ich glaube ehrlich, dass es keine bessere Investition auf dieser Welt gibt, als selbstlos seinem Mitmenschen zu helfen. Das Gute, das wir tun, kommt vermehrt zu uns zurück. Wir spüren, dass diese Menschen für uns beten“, fügt er hinzu. 

Im großen Saal am Eingang hängt oben, über dem Fenster, an dem für gewöhnlich Abend für Abend Essen ausgegeben wird, der gekreuzigte Jesus. Ende April sollen weitere Medizinkarawanen organisiert werden – in Săvârșin und im Donaudelta, verrät Professor Săndesc.

Der einstige Nikolaus-Lenau-Schüler und Kinethotherapeut an der ATI-Abteilung des Kreiskrankenhauses,Șerban Jădăneanț, ist in die Aktion eingebunden. Als Mediziner kann er bei dieser Blitzaktion nicht wirklich nützlich sein, doch als Organisator auf jeden Fall. „Wir haben hier eine Mini-Klinik eingerichtet. Oben, im ersten Stock, bieten unsere Partner von der Firma Essilor kostenlose Optometrie-Untersuchungen an. Etwa 50 Menschen werden neue Brillen bekommen, alles gratis“, sagt Șerban Jădăneanț, der seit 2018 bei den Wohltätigkeitskampagnen von Prof. Dorel Săndesc mitmacht. 

Dach über dem Kopf, Essen, Menschen

Die Menschen warten geduldig, bis sie an der Reihe sind, um von den Ärzten untersucht zu werden. Unter ihnen ein lächelnder Mann mit Schnurrbart und phosphoreszierender gelber Jacke. Sein Alter ist schwer einzuschätzen, denn die meisten Menschen, die im Nachtasyl übernachten, sehen älter aus als sie es in Wirklichkeit sind. Er mag über 60 Jahre alt sein. „Mutu“ sagen die Nachtasylbewohner zu ihm, denn er ist taubstumm, er redet kein Wort. 

Sein Fall ist kompliziert. „Seit zwei Monaten lebt er bei uns, er war davor angeblich bei einem Mann in Hitiaș, wo er bei der Viehzucht mitgeholfen hat. Er redet nicht, er kann nicht schreiben, er hat keine Papiere, keine Identität, nichts“, erklärt Caritas-Geschäftsführer Herbert Grün. 

Er wurde aber sofort in der Gemeinschaft angenommen, denn „er ist bescheiden, er passt sich an, er stört niemanden“, erklärt Ion, ein Mann über 60, der gar kein Einkommen besitzt. Ion war mal verheiratet, hat auch verschiedene Arbeitsplätze gehabt. „Ich habe hier gar keinen Freund“, betont er. „Bekannte, ja, man hilft sich gegenseitig, aber Freunde, nein, keinen einzigen“, sagt er trocken. Er hat zumindest ein Dach über dem Kopf, warmes Essen, und Menschen, die sich um ihn sorgen. Das Mindeste, was ein Mensch braucht, um zu (über)leben, ist für ihn und seine 73 Kollegen gesichert.

Die Herberge der Caritas für Menschen ohne Unterkunft ist ein Hafen, in dem von Zeit zu Zeit neue Schiffe ankommen, während andere wieder wegfahren. Menschen, die nichts und niemanden mehr auf der Welt haben, finden hier eine Bleibe für eine, zwei, drei oder viele Nächte. 

Manche von ihnen schaffen es irgendwann mal, wieder auf eigenen Beinen zu stehen und ein neues Leben anzufangen. Die meisten Schiffe bleiben aber für immer im Hafen namens Nachtasyl verankert.