„Jetzt kennt unsere Generation den Preis der Freiheit“

Eineinhalb Jahre Krieg gegen die Ukraine – zweiter Unabhängigkeitstag im zweiten Zuhause Temeswar

Evgenja (Jane) Rozbytska in ihrem zeitweiligen Zuhause Temeswar | Foto: Donnik Mariya

„FAINA UA“ heißt die Organisation, die Ukrainer für Kultur-, Bildungs- und Sozialprojekte vereint.

Ein Stückchen Ukraine im Gastland Rumänien: Für den 32. Tag der Unabhängigkeit der Ukraine von der Sowjetunion wurde in Temeswar ein Konzert der Druga-Rika-Band dargeboten. | Foto: Flight-Stiftung

Mit Schmerz in den Augen – die Blicke der Anwesenden offenbaren Sehnsüchte und verwundete Seelen; Frauen drücken ihre Kinder fest in die Arme; Jugendliche halten ihre Freundinnen und Freunde um den Hals oder an der Hand, sie schwenken blau-gelbe Fahnen, singen mit und lächeln. Auch wenn sie alle ihre eigenen Kämpfe fern von ihrer Heimat ständig in sich tragen, erlauben sich die meisten von ihnen, an diesem besonderen Tag das Schuldgefühl auszusetzen und gemeinsam zu feiern. Hunderte von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine kamen am 24. August, zum Anlass des ukrainischen Unabhängigkeitstags in ihrer Gaststadt Temeswar/Timișoara zusammen. Die Ukraine feierte an diesem Tag den 32. Jahrestag ihrer Unabhängigkeit von der Sowjetunion – und beging gleichzeitig genau 547 Tage nach der Invasion durch die Russische Föderation. In der Bega-Stadt wurde dieser Tag zum zweiten Mal gefeiert. Eine Reihe von Events wurden zu diesem Anlass organisiert: Konzerte, Musik und Tanz, traditionelles Essen, Werkstätten, allerlei Aktivitäten und Beisammensein.

„Die Emotionen sind auch am nächsten Morgen noch gut. Das ist das erste Mal, dass ich mir nach der großen Invasion erlaubte, zu singen und zu tanzen und aus vollem Herzen zu schreien. Ich vermisse solche Konzerte zu Hause sehr. Solche echten Emotionen, wie in der Kindheit“. „Es war unglaublich. Ich fühlte mich wie zu Hause. Danke für die diese gefühlsträchtige Erfahrung!“ „Das war das wertvollste Geschenk zum Unabhängigkeitstag“. – Das sind nur einige der Eindrücke nach dem Konzert der Band Druga Rika in Temeswar, das pünktlich zum ukrainischen Unabhängigkeitstag bestritten wurde. 

Auch wenn es an diesem Tag um etwas Freude und Gemeinsamkeit ging, geht der Krieg für die Ukrainer weiter. „Jetzt kennt unsere Generation den Preis der Freiheit, und unsere DNA wird die Erinnerung daran, wie es nicht sein sollte, hoffentlich langfristig in sich tragen. Wir wissen nun auf Zellebene, wie sich Krieg anfühlt“, schreibt Evgenja (Jane) Rozbytska auf ihrer Facebookseite im Anschluss des in der Bega-Stadt gefeierten ukrainischen Unabhängigkeitstags.

Was für sie ein Refugium für einige Wochen und dann einige Monate sein sollte, ist inzwischen ein neues Zuhause geworden. Jane Rozbytska lebt hier mit ihrer Familie seit genau einem Jahr und sechs Monaten, als sie kurz nach dem Ausbruch des Krieges aus der Ukraine nach Rumänien geflüchtet ist. Seitdem sie im März 2022 hier eingetroffen ist, tut sie alles, um die ukrainische Gemeinschaft vereint zu halten und organisiert für sie verschiedene Events, aber auch Hilfsaktionen für die Menschen in der Ukraine. In der ADZ sind bereits mehrere Beiträge über sie und ihre Aktionen erschienen. 

Wie es nun ein Jahr später ist, immer noch in Temeswar zu leben und das Kriegsende noch außer Sicht zu haben? „What can we do?“ antwortet sie auf Englisch, also, was können wir denn tun? „Der Krieg geht für alle weiter“, sagt sie. „Nichts tun, das ist keine Option“, setzt sie entschlossen fort - vor allem da sich die Geflüchteten weiterhin mit Gewissensbissen konfrontieren, haben sie doch ihr Land und ihre Leute „im Stich gelassen“. So kämpfen sie, wenn auch aus der Entfernung, unermüdlich für ihre Heimat.

„For Mariupol“ – Musik für die Heimat

Rund 1000 ukranische Bürger leben derzeit im Raum Temeswar. Seit dem Ausbruch des Krieges kamen tausende von Flüchtlingen aus dem Nachbarland nach Rumänien. Auch in Temeswar ließen sich viele nieder. Vor einem Jahr lebten in der Bega-Stadt etwa 2500 Flüchtlinge. Die neuen Arbeitsbedingungen und die inzwischen eingeschränkte Flüchtlingshilfe senkte die Zahlen in Rumänien stark.

Für die Hiergebliebenen aber brachte Evgenja erneut ein Stückchen Heimat nach Temeswar. So wurde am 24. August die legendäre ukrainische Band Druga Rika (Der zweite Fluss) für einen Auftritt nach Temeswar gebracht. Die Britpop-Band besteht seit über 26 Jahren und zieht mit ihren bewegenden Texten und einprägsamen Liedern stets zahlreiche Fans zu ihren Konzerten. Für die paar Hundert Ukrainer – meistens Frauen mit Kindern und Jugendlichen – in Temeswar, war das ein besonderes Event. „Für sie war es ein guter Anlass Musik von zu Hause, aber auch männliche Stimmen in ukrainischer Sprache live reden zu hören“, erzählt Evgenja Rozbytska. 

Während der Live-Show in Temeswar hörten die Anwesenden auch den Song „For Mariupol“, der im letzten Sommer veröffentlicht wurde und vom Krieg im Nachbarland handelt. Die Musiker veranstalten auch zahlreiche Wohltätigkeitskonzerte und engagieren sich ehrenamtlich, um den vom schrecklichen Krieg betroffenen Landsleuten zu helfen. „Die Ukrainer haben ein kurzes historisches Gedächtnis“, sagte Valery Kharchyshyn, der Leadsänger der Band von der Bühne in Temeswar. „So sagen es auch die Historiker. Wahrscheinlich ist dies ein Schutzmechanismus unseres Gehirns, der uns nach einem neuen schrecklichen Kampf schneller in die Entwicklung und ins Positive stürzt. Denn wir kämpfen schon seit Jahrhunderten gegen dieses Monster. Die Einheit haben wir also auch in unserer DNA. Wir kämpfen auf allen Fronten weiter“, setzt Evgenja Rozbytska fort. 

Die schöne und gute Ukraine

Die Ukrainerin hat im Frühling dieses Jahres zusammen mit zwei weiteren ukrainischen Flüchtlingen in Temeswar den Verein „FAINA UA“ gegründet, darunter ist auch Iryna Yetskalo, die Gründerin von UkrKidsHub, inzwischen eine Schule für ukrainische Flüchtlingskinder in der Bega-Stadt. Die drei Mitbegründerinnen des Vereins haben seitdem zahlreiche Events und Projekte vor Ort in die Wege geleitet: ihre Hilfe im Supportzentrum für Ukrainer angeboten; die Telegram-Gruppe „Ukrainer in Timi{oara“ erstellt; die „Wer ist wer“-Umfrage unter den Ukrainern vor Ort durchgeführt, Daten gesammelt und eine Community-Basis erstellt. Auch ein Osterpicknick für Ukrainer wurde organisiert; ein Geschäft mit kostenlosen Sachen für Ukrainer wurde in Zusammenarbeit mit dem Intersect-Verein und der Gemeinschaftsstiftung eröffnet, die „StandWithUkraine“-Wandmalerei in Zusammenarbeit mit der Jugendstiftung FITT wurde erstellt. In Partnerschaft mit dem „Prin Banat“-Verein hat Evgenja ihre Idee der Videomapping-Performance „Sensitive Content“ mit berührenden Aufnahmen sowie Gemälden der ukrainischen Volksmalerin Maria Prymachenko auf dem Gebäude des Opernhauses in Temeswar umgesetzt sowie zur Entstehung des Dokumentarfilmes „When Borders Get Indistinct“ beigetragen. Eine Reihe von Abenden mit ukrainischer Küche oder die Zubereitung eines Riesenborschtschs im Rahmen des Festivals „La pas“ wurden ebenfalls von Evgenja und ihren Kolleginnen im Lauf des vergangenen Jahres in die Wege geleitet. „Wir vertreten also die aktive ukrainische Gemeinschaft in Temeswar seit 2022, bringen Ukrainer und Partner zusammen, um interkulturelle Projekte zu schaffen, einen Verein zu haben bringt uns näher“, erklärt Evgenja Rozbytska die Idee hinter dem neuen „FAINA UA“-Verein. Der Name des Vereins kommt von einem Begriff, der in ukrainischer wie rumänischer Sprache eine ähnliche Bedeutung hat: „fain(a)“ („gut/ schön/ fein“) – FAINA UA soll so viel wie „Die schöne/gute Ukraine“ bedeuten. 

Grenzen überfliegen

Im Vorjahr hat Jane Rozbytska in Zusammenarbeit mit dem Verein „Prin Banat“ eine Videomappingshow für den ersten Unabhängigkeitstag der Ukrainer in Temeswar organisiert (die ADZ berichtete). In Partnerschaft mit der Flight-Stiftung wurde nun ein neues Event am 24. August unter dem Namen „Independence Day“ organisiert. Die Feier ist aber Teil eines viel größeren und umfangreichen Projekts – „Flight Over Borders“. Das Projekt ist Teil des Bidbooks (Kandidaturheft) der Kulturhauptstadt Temeswar 2023 und erforscht das Thema der Grenzen und des Dialogs durch die Kunst. Themen der Identität, des Multikulturalismus und der Durchlässigkeit der Grenzen sowie Überlegungen zu den Risiken, die die Angst vor dem Anderssein in einem immer noch vielfältigen und offenen Europa hervorrufen kann, sollen dabei in den Vordergrund gerückt werden. „Flight over Borders“ ist also ein Festival der kulturellen Vielfalt und transdisziplinären Initiativen, das die Vitalität von Temeswar im Jahr 2023 und das transformative Potenzial des Programms Kulturhauptstadt Europas hervorhebt. 

Eine Reihe von Events werden noch bis Ende September innerhalb des Festivals in Temeswar sowie außerhalb der Grenzen der Stadt und des Landes organisiert werden. Mitte September wird u.a. ein neuer Konzertabend mit drei Bands aus Rumänien, der Ukraine und Serbien organisiert. Die Eurovision-Gewinnerin des Jahres 2016, die ukrainische Sängerin Jamala, wird dabei in Temeswar auftreten. 

In ihrem Gewinnersong „1944“ geht es um die Deportation der Krimtataren durch Josef Stalin. Im Jahr 1944 wurden mehr als 200.000 Krimtataren auf Befehl des sowjetischen Diktators nach Zentralasien deportiert. Dabei kam fast die Hälfte von ihnen ums Leben. Inzwischen leben noch zirka 150.000 Krimtataren in Zentralasien, etwa 280.000 auf der Krim. Auch Jamalas Ur-Großmutter war während des Zweiten Weltkriegs als Vertriebene betroffen. 


Details zu „Flight Over Borders“ sind von der Webseite flight-festival.com/flight-over-borders abrufbar.

*** Dieser Beitrag wurde durch die Finanzierung „Energie! Kreative Stipendien”, die von der Stadt Temeswar über das Projektezentrum im Rahmen des nationalen Kulturprogramms „Temeswar - Kulturhauptstadt Europas 2023” gewährt wurden, verfasst. Die Erstellung gibt nicht unbedingt den Standpunkt des Projektezentrums der Stadt Temeswar wieder und das Zentrum ist nicht verantwortlich für den Inhalt des Beitrags oder für die Art und Weise, wie dieser verfasst wurde.