Marienthal und seine Arbeitslosen

Eine kleine Gemeinde in Österreich geht neue Wege im Kampf gegen Arbeitslosigkeit

Renoviertes Gebäude der ehemaligen Arbeitersiedlung Marienthal, aufgenommen 2016. | Foto: Wikimedia

Der Name der kleinen Gemeinde Marienthal ist in der Soziologie wohl bekannt: Mit „Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit“ legten in den 1930er-Jahren 15 junge Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen rund um Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel den Grundstein für die moderne Sozialforschung. Revolutionär war ihre Methodenvielfalt, und dass sie akribisch Daten erhoben, um daraus Theorien abzuleiten. Die Studie demonstriert detailreich, wie der Wegfall von Aufgaben und Einkommen Menschen nicht nur in Armut, sondern auch Verzweiflung und Apathie stürzt. Fast 100 Jahre später wird in Marienthal wieder geforscht – nun geht es aber um das Gegenteil: Was, wenn jedem Mensch ein Arbeitsplatz garantiert wird? 

Die berühmtesten aller Arbeitslosen

Die Gemeinde Marienthal nahe Wien war als Siedlung für die Beschäftigten einer Textilfabrik entstanden, die 1931 im Zuge der Weltwirtschaftskrise bankrott ging. Dies führte zur plötzlichen Verelendung der Gemeinde – ohne Hoffnung auf baldige Besserung. Um herauszufinden, welche psychosozialen Auswirkungen dies auf die Betroffenen hatte, führte das Forschungsteam aus Wien nicht nur Interviews, sondern erhob auch auf den ersten Blick kurios scheinende Daten: Wie viele Bücher wurden in der Leihbibliothek ausgeliehen? Wie oft wurde Wäsche gewaschen? Wie schnell gingen die Menschen die Dorfstraße entlang, und wie oft blieben sie dabei stehen?

Dabei sollten die Marienthaler nicht nur als Forschungsobjekte der eigenen Karriere dienen: An der Studie durfte sich nur beteiligen, wer etwas beisteuerte. So wurden Kleidersammlungen, kostenlose Arztbesuche oder Kurse organisiert – was wiederum alles auch für die Forschung nützlich war. Wer kommt noch zum Nähkurs, wer hat die Hoffnung auf Besserung dadurch aufgegeben? Vieles wäre heute in dieser Form nicht mehr möglich, da auch Daten ohne Wissen und Zustimmung der „Erforschten“ erhoben wurden.

„An der Ecke gestanden...“

Die Forschenden waren dem Zeitgeist entsprechend davon ausgegangen, dass Armut und verfügbare Zeit dafür sorgen würde, dass Arbeitslose die Akteure einer zukünftigen Revolution würden. Sie kamen aber zu der Erkenntnis, dass eher das Gegenteil der Fall war: „Das Nichtstun beherrscht den Tag“, schrieb Marie Jahoda. In „Zeitverwendungsbögen“ hielten die Marienthaler für die Studie fest, wie sie ihre Zeit verbrachten: „9-10 zu Hause gewesen; 10-11 an der Ecke des Hauses gestanden; 11-12 gegessen; 12-1 geschlafen; 1-3 nach der Fischa spazieren; 3-4 bin zum (Kaufmann) Treer; 4-5 um Milch gegangen“. 

Die zunehmende Passivität zeigte sich auch bei anderen Daten: Die Anzahl der Entlehnungen in der Leihbücherei ging zurück, die Vereine verzeichneten sinkende Mitgliederzahlen, die „Arbeiterzeitung“ wurde in dem eigentlich politisierten Dorf immer weniger gelesen. Das Forschungsteam leitete daraus ab, dass Menschen ohne Aufgaben kaum in der Lage sind, ihre Zeit selbst zu strukturieren und in Apathie verfallen. 

Dies bedeutet aber keineswegs, dass man die Menschen zu ihrem Glück acht Stunden am Tag ans Fließband zwingen müsste: Wie ein Vergleich verschiedener Gruppen zeigt, ist es nicht unbedingt Lohnarbeit, die zufrieden macht.

Geld hilft

Die Forschungsgruppe identifizierte vier Gruppen unter den Marienthalern: die Ungebrochenen, die Resignierten, die Verzweifelten und die Apathischen. Der Grad der Resignation ließ sich ablesen an der zunehmenden Verwahrlosung, am Alkoholkonsum oder daran, ob jemand etwa noch zum Arztbesuch kam. Dabei zeigte sich, dass der Gemütszustand der Menschen oft in direktem Zusammenhang mit ihrer ökonomischen Lage stand – wer etwa durch einen Nebenerwerb oder eine Pension mehr Geld zur Verfügung hatte, war eher optimistisch und bemüht, die Lage zu verbessern als diejenigen, die komplett im Elend versanken. Diese Tatsache ist wenig überraschend: Wer die Haustiere schlachten muss, um nicht zu verhungern, oder die Kinder mangels Schuhen bei schlechtem Wetter nicht in die Schule schicken kann (beides wurde dokumentiert), hat wohl wenig Ressourcen für Optimismus übrig – was, wie Marie Jahoda schreibt, „zum Verzicht auf eine Zukunft führte, die nicht einmal mehr in der Phantasie als Plan eine Rolle spielt“. Aber auch andere Faktoren haben Einfluss: „Ungebrochen“ waren etwa oft Menschen, die bereits Krisen überstanden und daher die Erfahrung gemacht hatten, dass es wieder aufwärts gehen kann. 

Sinn und Verantwortung

Dass das Team zum großen Teil aus Frauen bestand, mag der Grund sein, dass auch Gender-Aspekte beleuchtet wurden – was zu einer wichtigen Erkenntnis führte: Frauen kamen mit der Situation weitaus besser zurecht als Männer. Das liegt natürlich nicht in der Biologie begründet, sondern darin, dass die Rolle der Männer in der Familie vor allem in der finanziellen Versorgung bestand (bzw. besteht). Können sie diese nicht mehr erfüllen, sind sie im Grunde obsolet. 

Die Verantwortung der Frauen bestand dagegen ohnehin darin, sich unbezahlt um andere zu kümmern – ihre Aufgaben in Kinder- und Altenbetreuung und Haushalt mussten weiterhin erledigt werden, sie wurden weiterhin gebraucht. Dieser Unterschied lässt sich selbst in Details ablesen, wie der Gehgeschwindigkeit, welche die Forscher und Forscherinnen heimlich von einem Kellerfenster aus maßen: Frauen gingen im Schnitt eineinhalb mal so schnell wie Männer die Dorfstraße hinunter, und sie blieben nur halb so oft für längere Gespräche stehen. 

Wirklich so apathisch?

Der Schriftsteller Gerald Grassl stellt der Theorie „Arbeitslosigkeit macht apathisch“ im Magazin „Augustin“ weitere Argumente entgegen: Er verweist etwa auf eine Aufnahme einer Massendemonstration von Arbeitslosen in Wien 1932: „Im Vordergrund blicken etwa ein Dutzend Männer zornig, trotzig, manche zweifelnd bis skeptisch in die Kamera. Keiner von ihnen wirkt ‚resigniert‘.“ Und er weist darauf hin, dass ein Großteil der Arbeitslosen von Marienthal nach 1934, nachdem also Engelbert Dollfuß das Parlament ausgeschaltet und den Ständestaat errichtet hatte, der Kommunistischen Partei beitraten – und während der NS-Zeit Widerstand leisteten. Fünf von ihnen wurden deswegen 1943 hingerichtet. 

Später Ruhm

Der Faschismus hatte auch auf die Studie zu Marienthal und ihre Verfasserinnen und Verfasser gravierende Auswirkungen: Die meisten mussten aufgrund ihres sozialdemokratischen Engagements bereits Mitte der 30er-Jahre fliehen, später wären sie, als Juden und Jüdinnen klassifiziert, von den Nazis ermordet worden. In den USA und Großbritannien gelangen einigen von ihnen glänzende Karrieren in der Wissenschaft. Die Studie, die den Bücherverbrennungen und dem Vergessen zum Opfer gefallen war, wurde daher 1971 ins Englische übersetzt und daraufhin breit rezipiert, so avancierte sie zum Klassiker der Sozialforschung. Dass der Text noch immer spannend zu lesen ist, verdanken wir vor allem Marie Jahoda, die auf Fachjargon verzichtete und in klarer Sprache berichtet. 

Marienthal heute

Wir springen fast 100 Jahre in die Zukunft: In den 2010er-Jahren sperrt wiederum eine Textilfabrik in Marienthal zu, kurz darauf auch eine Chemiefabrik, wieder verlieren viele ihr Einkommen. Und wieder interessiert sich die Soziologie für die kleine Gemeinde – aber diesmal geht es nicht um die Auswirkungen der Arbeitslosigkeit, sondern um die Auswirkungen einer ungewöhnlichen Maßnahme dagegen: Die Jobgarantie. Dabei handelt es sich um ein Experiment, das von Ökonomen der Oxford University konzipiert und vom AMS Niederösterreich (Arbeitsmarktservice, fungiert als Arbeitsamt) durchgeführt wird. Wer über ein Jahr lang arbeitslos war, erhält „eine universelle und bedingungslose Garantie für einen gut bezahlten Arbeitsplatz“, heißt es auf der Webseite des AMS. 

Wie Sandra Kern, stellvertretende AMS-Geschäftsführerin in Niederösterreich, gegenüber der Sendung „Dimensionen“ vom 13. März im Radiosender Ö1 erzählt, meldeten sich ausnahmslos alle Betroffenen für das Programm an. In den verlassenen Fabrikhallen wurde eine Tischlerei eingerichtet, andere arbeiten in der Verwaltung oder kommunalen Einrichtungen, ein Gemüsegarten entstand, in dem alle mitarbeiten und ernten können. Neue Arbeitsplätze wurden geschaffen, bestehende nicht gefährdet.

„dass ich nicht nutzlos bin“

Nach einem Jahr zeigen sich durchwegs positive Effekte, so Soziologin Hanna Quinz von der Uni Wien: Die Teilnehmenden berichten, dass ihre Lebenszufriedenheit sich deutlich verbessert habe, Angstzustände treten seltener auf, sie hätten wieder das Gefühl dazuzugehören. Wirtschaftlich geht es ihnen deutlich besser – alle können sich jetzt am Monatsende Essen leisten, vorher nicht.

Andrea Herold, eine der Teilnehmenden, erzählt, dass sie nach 35 Jahren im selben Betrieb bereits ihre Pensionsfeier geplant hatte, als die Firma pleite ging und sie zum ersten Mal im Leben arbeitslos wurde – mit Mitte 50 und zwei kaputten Knien. In dieser Situation finden sich viele wieder: Ein Drittel der Langzeitarbeitslosen in Österreich ist krank, die Hälfte über 50 Jahre alt. Es habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen: „Ich habe mich plötzlich nutzlos, sinnlos, wertlos gefühlt. (…) ‚Du hast nichts mehr, wofür du leben kannst‘ – das waren so meine Gedanken“, erzählt sie gegenüber Ö1. Nun arbeitet sie im Modellprojekt und ist sehr zufrieden damit.

Laut Jörg Flecker leben wir „in einer Arbeitsgesellschaft“: Nicht zu arbeiten wird allein Menschen mit großem Vermögen zugestanden. Gleichzeitig werde der Umgang mit dem Arbeitsmarkt individualisiert: Wer arbeitslos ist, werde selbst dafür verantwortlich gemacht und als Mensch abgewertet. „Die sind selber schuld, zu faul, wollen ja gar nicht“ – damit halten wir die Illusion aufrecht, dass wir selbst vor Arbeitslosigkeit gefeit seien. Dabei standen in Österreich im Jahr 2022 im Schnitt 126.000 offene Stellen 333.000 Arbeitslosen gegenüber – es können gar nicht alle einen Job finden. In der Politik wird der Glaube an die selbstverschuldete Arbeitslosigkeit gerne genährt, schließlich kann sich der Staat so der Verantwortung entziehen. Das dadurch geschwächte soziale Sicherheitsnetz dient wiederum der Wirtschaft: In der ersten Hälfte des Jahres 2019 wurden in Deutschland 960 Millionen Überstunden geleistet, die Hälfte davon unbezahlt. Ohne die latente Angst vor sozialem Abstieg könnten Arbeitgeber sich wohl nicht über eine knappe halbe Milliarde kostenloser Arbeitsstunden freuen. 

Gemeinnützigkeit?

Im Experiment Jobgarantie übernimmt bei einem Wechsel in die Privatwirtschaft das AMS für die ersten drei Monate die kompletten und für weitere neun Monate zwei Drittel der Lohnkosten. Eine Maßnahme, die man durchaus kritisch betrachten kann: Die „1-Euro-Jobs“ in Deutschland haben gezeigt, dass subventionierte Arbeitskräfte nach Ablauf der Maßnahme kaum eingestellt, sondern durch die nächste von Steuergeld finanzierte Arbeitskraft ersetzt werden. Aber selbst so hat etwa die Hälfte der Betroffenen keine Stelle finden konnten. Nun kann man diese Menschen weiterhin mit verpflichtenden Bewerbungen und Geldkürzungen drangsalieren – oder man schafft gemeinnützige Arbeitsplätze, von denen alle profitieren. Die Kosten sind dieselben: 30.000 Euro wendet Österreich jährlich für jede langzeitarbeitslose Person auf, 30.000 Euro kostet die jährliche Finanzierung eines gemeinnützigen Arbeitsplatzes.

Der Bedarf wäre da: Jörg Flecker weist darauf hin, dass bspw. bei der Fürsorge gegenüber der wachsenden Anzahl älterer Menschen Gemeinden oft das nötige Budget fehle, für gewinnorientierte Betriebe sind diese Bereiche selten rentabel. Zwar könnte man nicht so einfach aus latenten Bedürfnissen einen Job machen – aber wenn man die Situation der Arbeitslosen von Marienthal von 1931 mit der heute vergleicht, dann scheint es doch der Mühe wert.