Wie viele Abgeordnete im neuen Europäischen Parlament, das im Juni gewählt wurde, gehören einer nationalen Minderheit an bzw. vertreten eine solche? In der vorhergehenden neunten Legislaturperiode waren es 20 gewesen. In der zehnten sind es nicht viel mehr.
Nur 12 der 192 nationalen Minderheiten in der Europäischen Union hatten in der neunten Legislaturperiode eigene Vertreter im Europaparlament, wie Paul Videsott und Silena Gasser in ihrer Analyse im Europäischen Journal für Minderheitenfragen feststellten. 20 Abgeordnete waren es insgesamt, was bei 705 Parlamentariern einen Anteil von 2,8 Prozent bedeutete. Wie Videsott und Gasser in ihrer Studie unterstreichen, liegt das weit unter dem Anteil nationaler Minderheiten an der EU-Gesamtbevölkerung von 447 Millionen: Minderheiten zählen 30 Millionen Angehörige, was einen Anteil von 6,7 Prozent bedeutet. Bestimmungen, die die Wahl von Minderheitenangehörigen ins EU-Parlament erleichtern, gibt es nur in zwei Staaten: Belgien und Italien.
Definitionsprobleme und Unschärfen
Wie schaut es nun in der aktuellen Legislaturperiode aus? Bevor die Frage analysiert wird, ein paar Hinweise zu methodischen Problemen. Nicht jeder Abgeordnete, der im Siedlungsgebiet einer nationalen Minderheit lebt, ist Minderheiten-Angehöriger. So mancher ist in das Gebiet der Minderheit gezogen, fühlt sich ihr aber nicht zugehörig. Es gibt spanische EU-Abgeordnete, die einen baskischen Namen tragen, aber schon als Kleinkind aus dem Baskenland weggezogen sind und in ihrer politischen Tätigkeit keine Minderheitenanliegen vertreten. Es gibt weiters Abgeordnete, die zwar aus dem Minderheitengebiet kommen, aber einer staatsweit tätigen Partei angehören, die sich nicht um Minderheitenfragen kümmert oder Minderheiten gar ablehnt. Wieder andere gehören einer Minderheit an, sind Mitglied einer staatsweit tätigen Partei, setzen sich in dieser aber auch für Minderheitenfragen ein.
Wer einer nationalen Minderheit angehört bzw. sich für die Probleme solcher Gemeinschaften einsetzt, ist – sofern dies nicht bereits durch die Zugehörigkeit zu einer politischen Bewegung sichtbar ist – oft nicht auf dem ersten Blick zu erkennen. Auch die Lebensläufe der Abgeordneten, die auf der Website des EU-Parlaments eingesehen werden können, helfen zuweilen nicht weiter, ebenso wenig Wikipedia-Einträge oder andere Informationsquellen. Im Folgenden werden daher nur Abgeordnete berücksichtigt, deren Eintreten für nationale Minderheiten ohne Zweifel ist. Dass dabei einige Unschärfe besteht, liegt in der Natur der Sache.
Hinweise zur Vertiefung sind willkommen an info@midas-press.org.
Die Minderheitenvertreter im EU-Parlament
Im neuen EU-Parlament sitzen 17 Abgeordnete, die Angehörige einer nationalen Minderheit in ihrem Herkunftsstaat sind. Sie vertreten elf nationale Minderheiten. Es handelt sich um folgende Parlamentarier:
Rumänien
Iuliu Winkler, ungarische Minderheit, Partei: UDMR, Fraktion: Europäische Volkspartei – Christdemokraten
Loránt Vincze, ungarische Minderheit, UDMR, Europäische Volkspartei – Christdemokraten
Rumäniens EU-Abgeordnete werden nach einem geschlossenen Listensystem gewählt: Die Parteien legen die Reihenfolge der Kandidaten auf ihrer Liste fest, und die Wähler geben ihre Stimme für die Listen ab, können aber die Reihenfolge der Kandidaten nicht ändern. Diese Listen sind im ganzen Staatsgebiet dieselben. Der Dachverband der ungarischen Minderheit UDMR erhielt mit 577.000 Stimmen (6,48 Prozent) den höchsten Zuspruch bei einer Wahl überhaupt in den letzten 20 Jahren, Kommunal-, Parlaments- und Präsidentschaftswahlen eingeschlossen. Er war als einzige Vertretung der ungarischen Minderheit angetreten. 2019 hatte der UDMR mit 5,26 Prozent die Fünf-Prozent-Hürde nur knapp übersprungen. Winkler ist seit 2007 EU-Abgeordneter, Vincze seit 2019. Der UDMR ist in der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) geblieben, auch nachdem die ungarische Regierungspartei Fidesz 2021 aus der EVP ausgetreten war und 2024 die Fraktion der Patrioten für Europa gegründet hatte.
Spanien
Jaume Asens Llodrŕ, Katalane, Catalunya en Comú, Grüne – Europäische Freie Allianz (EFA)
Vicent Marzŕ i Ibáńez, Katalane, Compromís, Grüne – EFA
Diana Riba i Giner, Katalanin, Esquerra Republicana de Catalunya, Grüne – EFA
Oihane Agirregoitia Martínez, Baskin, Euzko Alderdi Jeltzalea (Baskische Nationalpartei), Renew Europe
Pernando Barrena Arza, Baske, Euskal Herria Bildu (Vereinigtes Baskenland), Die Linke – GUE/NGL
Indoia Mendia, Baskin, Sozialisten (PSOE), Progressive Allianz der Sozialdemokraten
Ana Miranda Paz, Galizierin, Bloque Nacionalista Galego, Grüne – EFA
Movimiento Sumar, ein Zusammenschluss regionaler und Minderheitenparteien wie Catalunya en Comú und Compromís, erhielt 4,67 Prozent der Stimmen. Ahora Repúblicas, ein ähnlicher Zusammenschluss u. a. mit Esquerra Republicana de Catalunya, Euskal Herria Bildu und Bloque Nacionalista Galego, kam auf 4,91 Prozent. Die Koalition CEUS mit der Baskischen Nationalpartei erhielt 1,63 Prozent.
Estland
Jana Toom, russische Gemeinschaft, Eesti Keskerakond (Estnische Zentrumspartei), Renew Europe
Eesti Keskerakond erhielt 12,4 Prozent der Stimmen in Estland.
Da die Mitglieder der russischen Gemeinschaften in den baltischen Staaten zumeist von während der Zeit der Sowjetunion zugewanderten russischen Familien abstammen, ist ihre Einstufung als nationale Minderheit umstritten.
Lettland
Nils Ušakovs, russische Gemeinschaft, „Saskana“ socialdemokratiska partija (Sozialdemokratische Partei „Harmonie“), Progressive Allianz der Sozialdemokraten.
„Harmonie“ erhielt 7,13 Prozent der Stimmen in Lettland.
Italien
Herbert Dorfmann, Südtiroler Volkspartei, Europäische Volkspartei – Christdemokraten
In Italien können Listen der deutschen, französischen und slowenischen Minderheiten bei EU-Wahlen mit einer nationalen Liste eine Verbindung eingehen. Der Kandidat der Minderheitenliste erhält einen der von der nationalen Liste errungenen Sitze, wenn er mindestens 50.000 Stimmen erhält. Seit Bestehen dieser Regelung wurde diese Hürde nur von der SVP übersprungen, dies aber ununterbrochen. Bei dieser Wahl ging die SVP eine Listenverbindung mit Forza Italia ein.
Herbert Dorfmann erhielt im Wahlkreis Nordost 82.426 Stimmen. Die SVP kam italienweit auf 0,52 Prozent der Stimmen; in Südtirol waren es 47 Prozent. Bei der Wahl 2019 hatte Dorfmann 100.446 Stimmen bekommen, 93.957 im Jahr 2014 und 2009 bei Dorfmanns erster Wahl ins Europaparlament 84.361 Stimmen.
Finnland
Li Andersson, schwedische Minderheit, Vänsterförbundet – Left Alliance (17,3 Prozent), Die Linke – GUE/NGL
Anna-Maja Henriksson, schwedische Minderheit, Svenska folkpartiet i Finland (6,1 Prozent) – Renew
Litauen
Waldemar Tomaszewski, polnische Minderheit, Lietuvos lenku rinkimu akcija – Krikšcionišku šeimu sajunga (Wahlaktion der Polen Litauens – Bund der christlichen Familien; 5,78 Prozent), Europäische Konservative und Reformer
Belgien
Pascal Arimont, Deutschsprachige Gemeinschaft, Christlich Soziale Partei (0,21 Prozent), Europäische Volkspartei – Christdemokraten
Das Gebiet der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien bildet einen eigenen Wahlkreis, ein Mandat ist daher garantiert. Arimont hat sein 2019 gewonnenes Mandat verteidigt.
Deutschland
Rasmus Andresen, dänische Minderheit, Bündnis 90/Die Grünen (11,9 Prozent), Grüne – EFA
Sonderfälle
Neben diesen Abgeordneten gibt es noch weitere, die als Minderheitenangehörige einzustufen sind, aber unter besonderen Kriterien. Das gilt etwa für Ungarn. Die Regierung von Viktor Orbán hat in den vergangenen Jahren freigiebig Pässe an Angehörige der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten Ungarns ausgegeben. Das schlägt sich auch im EU-Parlament nieder. Mit Viktória Ferenc (Partei Fidesz, 44,8 Prozent, Fraktion Patrioten in Europa) und Gabriella Gerzseny (Tisztelet és Szabadság Pártja; 29,6 Prozent; Europäische Volkspartei – Christdemokraten), die beide aus der Ukraine stammen, sowie Annamaria Vicsek (Fidesz) aus Serbien stellt Ungarn drei Abgeordnete, die nicht aus einem EU-Mitgliedsstaat kommen. Für Orbáns Partei Fidesz sitzt außerdem Kinga Gál im Europaparlament, die aus Klausenburg/Cluj-Napoca in Rumänien stammt und ihre fünfte Legislaturperiode in Angriff nimmt.
Fredis Beleris in der Delegation Griechenlands ist Abgeordneter der Nea Demokratia (Neue Demokratie; 28,3 Prozent; Europäische Volkspartei – Christdemokraten), stammt aber aus Albanien und gehört der dortigen griechischen Minderheit an.
Ein besonderer Fall ist auch Eugen Tomac, der im ukrainischen Teil Bessarabiens geboren wurde, aber in Rumänien lebt und für den Partidul Mi{carea Popular˛ (Partei der Volksbewegung; Fraktion Renew) schon zum zweiten Mal ins EU-Parlament gewählt wurde.
Als schlesischer Regionalist bezeichnet sich Lukasz Kohut, der als Abgeordneter Polens für die Koalicja Obywatelska (Bürgerkoalition; 37,1 Prozent; Progressive Allianz der Sozialdemokraten) im Parlament sitzt. Die Behauptung einer eigenen schlesischen Identität ist umstritten; Kohut wird daher in dieser Analyse nicht als Minderheitenvertreter gezählt.
Resümee
Zu den 17 Abgeordneten, die elf nationale Minderheiten aus EU-Mitgliedsstaaten vertreten, kommen weitere 6 Europapolitiker, die nicht auf Listen aus ihrem Herkunftsland in das EU-Parlament gewählt wurden. Insgesamt sind 23 Angehörige nationaler Minderheiten Mitglieder des Europaparlaments; ihr Anteil beträgt 3,2 Prozent. Das sind zwar 0,4 Prozentpunkte mehr als in der neunten Legislaturperiode, aber nicht einmal die Hälfte des Anteils der Minderheitenangehörigen an der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union (30 von 447 Millionen bedeuten 6,7 Prozent).
Das Netzwerk MIDAS
Die Europäische Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (Midas) wurde 2001 gegründet. 28 Tageszeitungen aus 12 Staaten gehören Midas an. Ziel ist, gemeinsam Strategien zu entwerfen und die Zusammenarbeit beim Austausch von Informationen, bei Druck und Marketing zu fördern. Dieser Bericht entstand im Rahmen dieser Zusammenarbeit.