„Nicht ich hab den Beruf gewählt. Er hat mich erwählt!“

Eine Frau im traditionellen Männerhandwerk: Gürtelmacherin in Schäßburg

Seit dem Tod ihres Vaters führt Ana-Maria Nistor das traditionelle Handwerk weiter.

Ioan Nistor, Gürtelmacher | Fotos: George Dumitriu

Zierstück: Peitschengriff

Der Kürschnerturm beherbergt die Werkstatt.

Es war 2015, Ende August. Wir schlenderten durch die Festung von Schäßburg/Sighișoara. Ein paar stimmungsvolle Bilder noch vor der Heimfahrt knipsen. Es war ein goldener Spätsommertag. Am Kürschnerturm erkletterten wir die hölzerne Leiter. Spähten in die Stube. Dort saß ein Mann mit langem Rauschebart und nähte an einer alten Singer. Es roch nach Leder. Die Wände waren mit alten Instrumenten und Pferdebildern geschmückt. Ja, Peitschen, Reitgerten und Zaumzeug fertige er auch, sagte der Mann, der wirkte, als wäre er einem der vorigen Jahrhunderte entstiegen. Sein Beruf gehört zu den schützenswerten traditionellen Handwerken, seine Werkstatt hier ist ein Projekt des Mihai Eminescu Trust (MET), erklärt er. Touristen sollen nicht nur den Turm besichtigen können, sondern auch etwas sehen und erleben. Ein Stück Vergangenheit.
Wir plauderten, aber es war keine Zeit für ein Interview. Wir versprachen, wiederzukommen. Wir waren seither oft in Schäßburg, immer wieder haben wir uns verpasst. Andere Prioritäten, der Turm geschlossen, dann kam die Pandemie. Sieben Jahre sind seither vergangen. Und der alte Ioan Nistor lebt nicht mehr, mussten wir inzwischen erfahren. Etwas war unvollendet geblieben...


2022, wieder Ende August: Wir erklettern dieselbe Treppe. Spähen in den schummrigen Raum. Die Werkstatt gibt es noch, die Kulisse ist gleich geblieben: die alte Singer steht an ihrem Platz, ringsum die Instrumente. In der Ecke hinter dem Tresen sitzt nun eine junge Frau im luftigblauen Leinenkleid. Nur kurz blickt sie von ihrer Arbeit auf, lässt uns in Ruhe schnuppern. Als sie merkt, dass wir ins Gespräch kommen wollen, taut sie plötzlich auf. Ja, sie ist die Nachfolgerin in diesem Handwerk. Ziemlich ungewöhnlich für eine Frau. Und eigentlich ist Gürtelmacherauch kein Beruf, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde. „Da sind wir eine Ausnahme“. Sie lächelt. Ioan Nistor war ihr Vater.

Nicht nur Beruf – ein Lebensstil

Als Kind schon liebte Ana-Maria Nistor die Atmosphäre der Werkstatt, den Geruch des Leders, die Holztafeln mit den Instrumenten, mit Nägeln befestigt, jedes gut sichtbar, jedes auf seinem Platz. „Nach der Schule gingen meine Schwester und ich  zu Vater in die Werkstatt“, erzählt sie. Ab und zu bat sie ihn, helfen zu dürfen, und erhielt eine leichte Arbeit. Der Vater freute sich über ihr Interesse, sagte aber stets: Das ist kein Beruf für Frauen. „Ich insistierte weiter, da ließ er mich eine Reitgerte flechten. Ich hab sie geflochten und so oft wieder aufgemacht, bis alles richtig war. Danach wollte ich immer mehr lernen.“ Das war mit 15 gewesen. Der Vater gab zwar ihrem Drängen nach, ermutigte sie aber nicht von sich aus. „Weil ich ein Mädchen war.“ Nie hätte er damals gedacht, dass seine Tochter das Handwerk weiterführen könne. „Aber ich bin damit aufgewachsen“, sagt Ana-Maria. „Ich denke dabei gar nicht ans Verdienen“, fügt sie an. „Für mich ist das ein Lebensstil.“

Nach dem Tod des Vaters kam sie oft mit ihrer Tochter Anita in den Turm. „Ich wusste nicht, wo ich sie lassen sollte.“ Anfangs ließ sie die Kleine mit den Werkzeugen Plastillin bearbeiten. Lange klebten noch die Spuren in den Instrumenten, lächelt sie, doch inzwischen habe sie alles sauber gemacht. „Später habe ich ihr Leder gegeben. Sie macht gerne kleine Arbeiten, hat Flechten gelernt, mit drei Fäden, noch kann sie nicht mit mehreren Fäden flechten, vielleicht im nächsten Jahr.“ Anita ist neun und begeistert von Mamas Handwerk. „Als sie klein war, sagte sie immer, sie übernimmt den Beruf.“ Anders als ihr Vater ermutigt Ana-Maria das Mädchen. Und schilt sich, wenn sie sich dabei ertappt, wie ihr Vater zu schimpfen: Pass auf, du machst das Material kaputt!

Lehrzeit und Feuerprobe

Ana-Maria Nistor hat ihr Handwerk „gestohlen“, wie man auf Rumänisch sagt. Abgeschaut vom Vater, aus Neugier. „Als er die Werkstatt zuhause hatte, hab ich ihn immer genau beobachtet. Oft hat er mir nicht verraten wollen, wie man etwas macht. Heute denke ich, es war besser, so zu lernen, als wenn er gesagt hätte, mach das so oder so. Manchmal hat er mich auch getestet. Beim Abmessen von Material für eine Reitpeitsche, ich hab ihm dabei geholfen, tat er so, als hätte er vergessen, wie das geht. Und freute sich, als ich es wusste!“

Doch es hat lange gedauert, bis der Vater sie gezielt instruierte. „Irgendwann hat er mir beigebracht, mit zwei Fäden zu nähen. Das kam mir so schwer vor, da dachte ich, oh Gott, den Beruf machst du nie!“

Zur Feuerprobe kam es bereits in der Kindheit: Ein sächsischer Meister war nach Deutschland ausgewandert, zwei Lehrlinge ebenfalls gegangen, „so kam ich dazu, in der Werkstatt zu helfen.“ Die zweite Herausforderung erhielt sie, als der Vater nach einem Autounfall für drei Monate ausfiel. „Da haben wir schon hier im Turm zusammengearbeitet.“ Bei dieser Gelegenheit probierte sie Dinge, die er sie früher nie machen ließ. Ganz allein eine Handtasche fertigen. Oder ein Pferdegeschirr nähen, mit Schweineschmalz einfetten und mit dem Hammer in Form klopfen. Manchmal, wenn sie nicht weiter wusste, rief sie ihn an. „Die drei Monate waren ein Test für mich, ob ich das Handwerk auch al-leine weiterführen kann.“ Langsam akzeptierte auch der Vater die Idee. Dabei wollte Ana-Maria als Kind eigentlich Journalistin werden. „Ich liebte Berühmtheiten und Zeitschriften. Wenn mir früher jemand gesagt hätte, ich werde Gürtelmacher (rum: curelar), hätte ich ihn lachend weggeschickt. Ich hab den Beruf nicht gewählt“, fügt sie nachdenklich an. „Er hat mich gewählt.“

Bewahrenswertes altes Handwerk

Heute gibt es niemanden mehr, den sie fragen kann. „Es kommen keine Gesellen aus anderen Ländern, ich bin nicht bekannt. Es gibt Leute, die wegen Vater hier in den Turm kommen – und schockiert sind, dass er nicht mehr ist. Und es gibt Leute, die mich entdecken: Schau, da ist eine Frau, die sowas macht!“ Der Beruf ging nicht, wie viele andere Handwerke, von Generation zu Generation in der Familie. „Mein Vater war Schuster, das Handwerk des Gürtelmachens hat er von einem Ungarn aus Schäßburg gelernt, Zoltan Dene{. „Der hat mich als Kind einmal flechten sehen und gab mir ein paar Ratschläge, aber ich dachte, red du nur, ich mach das wie ich will“, lacht sie.

Von der Werkstatt im Turm hatte Ioan Nistor lange geträumt. „MET hat hier alles restauriert, sie befassen sich mit alten Berufen, die es wert sind, erhalten zu werden. Ich weiß nicht, wie sie auf Vater kamen, aber er wollte schon lange in der Burg arbeiten, er kannte seinen Wert.“

An der Wand hängt eine Tafel „Gürtelmacherzunft Schäßburg“ mit den Namen der früheren Meister: Rilki Heinrich (1890-1954), Fritz Berger (1924-1958), Folkendt Georg (1918-1950). Am 16. Juni 1954 hat Zoltan Deneș hier die Abteilung Gürtlerei (secția curelărie) gegründet. Unter der Liste der Arbeiter (Folberth Kurt, 1954; Simon Wilhelm 1955-1982; Temesvari Iosif 1955; Fabian Wilhelm 1955; Nagy Ioan 1979; Schnabel, Georg 1979; Halmen, Thomas 1983; Adam Erich 1985; Nistor Ioan 1952-1987, gestorben 2018) steht: 1921 wurde die Nähmaschine FERENGEL aus Agnetheln/Agnita für den Gegenwert von vier Ochsen gekauft. 1957 wurde das erste Pferdegeschirr in Schäßburg gefertigt, im Wert von 1391 Lei. 1991 wurde die Abteilung unter Ioan Nistor privatisiert, für ihn arbeiteten Halmen Thomas und Manea Aurelian, sowie Deneș Zoltan bis 2009 als Rentner, so die Tafel.

Alltag einer Gürtelmacherin

Das Handwerk ihres Vaters führt Ana-Maria Nistor in traditionellem Stil weiter, inzwischen traut sie sich fast alle Produkte zu. „Als mein Vater sah, dass es mir ernst ist, hat er mir viel mehr beigebracht. Leider nicht alles, er starb zu früh.“ Die alten Instrumente benutzt sie lieber als moderne, jedes hat einen Namen - leider hat sie sie nicht alle gelernt. „Nur die Farben ändern sich mit der Mode“, verweist sie auf die Handtaschen in buntem Leder. Ihr gefallen Naturfarben besser.

An den Wänden hängen charmante Umhängetäschchen, schicke Rucksäcke in Aktentaschenform, geflochtene, mit Blumen oder Sonnen verzierte Peitschen und Reitgerten, rumänische und ungarische Modelle – alles funktionell. „Ich finde, jeder Mensch sollte ein handgemachtes Unikat tragen“, sagt Anamaria Nistor und bedauert, dass sie dieses Jahr nicht genug von dem feinen Kalbsleder gefunden hat, das sie für die Taschen braucht. Sie zeigt, wie man ein Modell macht, um welches das Leder gewickelt und mit Hämmerchen und Stanzen ein Muster reingeklopft wird - Sternchen, Schmetterlinge, Blümchen, einfache geometrische Formen.

Peitschen flicht man erst mit vier Strängen, dann mit 8, dann 16, „da hast du 8 Fäden in jeder Hand, das dauert zwei Stunden“. Eine Handtasche macht sie in einem Tag – einweichen, schneiden, kleben, immer wieder warten - und ein Rucksack dauert drei Tage. Wenn sie keinen gewachsten Faden bekommt, muss sie auch diesen selbst wachsen.

Längst hat sie Stammkunden, die immer wieder kommen. „Einmal war ich sogar im Fernsehen“, erzählt Ana-Maria Nistor. „Eine Serie über Handwerk und Tradition.“ Im Sommer bietet sie für Kinder Ferienworkshops an, auch dies will sie weiter ausbauen. Die Kleinen flechten Armbänder oder basteln Schlüsselanhänger und stanzen Muster hinein. Bald wird ihnen Anita etwas vorzeigen können.

Eine schönere Hinterlassenschaft als den Beruf kann  sich Ana-Maria kaum vorstellen. Ein kostbarer Schatz, der sie auch noch ernährt. „Ich glaube, mein Vater freut sich von oben, dass ich sein Handwerk mit Liebe weiterführe, sagt sie mit weichem Gesicht. Oft fällt es ihr schwer, über ihn zu sprechen, die Tür des Schmerzes immer wieder zu öffnen, „aber es ist auch eine Freude“. Manchmal spürt sie ihn in der Werkstatt. Meist dann, wenn ihr etwas nicht gelingen will. Dann macht sie ein paar Minuten Pause – und auf einmal geht es ganz leicht. „Und ich schau erstaunt auf meine Hände – und habe das Gefühl, dass er mit meinen Händen arbeitet!“