Nine/Eleven

Was Jesaja dazu sagen würde

Es ist nun zehn Jahre her, seit die schrecklichen Bilder vom Einsturz des World Trade Center die Runde machten. Die ganze Welt konnte sehen, wie die Flugzeuge auf die beiden Türme zusteuerten, wie unter lautem Krachen und in riesigen Staubwolken die Bauwerke einstürzten, wie hustende, verletzte Menschen sich aus dem Trümmerhaufen zu entfernen versuchten, wie noch Tage später Feuerwehrleute und viele andere Helfer nach Überlebenden suchten und Leichen bargen. Was man damals zu sehen bekam, war einfach nur entsetzlich.

Augenzeugen berichteten, wie sich alles zugetragen hat, andere erzählten von dem Verlust eines geliebten Menschen. Es wurden Fotoausstellungen, Benefizkonzerte, Gedenkfeiern, Spendensammelaktionen organisiert. Beileids- und Solidaritätsschreiben aus aller Welt erreichten die angeschlagene Weltmacht.
Man versuchte, den genauen Hergang der Ereignisse zu rekonstruieren und herauszufinden, wie so etwas überhaupt passieren konnte. Es wurden Schuldige gesucht und gefunden. Weltweit wurde dem Terrorismus der Kampf angekündigt. Die Sicherheitsmaßnahmen auf den Flughäfen wurden extrem verschärft, und auf der Jagd nach den Terroristen sind Kriege begonnen worden, denen auch heute noch täglich Menschen, auch unschuldige, zum Opfer fallen.

All das sind Aktionen, die der Aufarbeitung und der möglichen Verhinderung weiterer solcher Ereignisse dienen sollen, aber die Wunden der Angehörigen der fast 3000 Toten von Nine/Eleven werden sie wohl nie ganz heilen können. Wie zwei riesige Fußabdrücke sind an Stelle der beiden ehemaligen Türme tiefe Gruben zu sehen. Die Wasserfälle, die sich dort in die Tiefe stürzen, sind gleichsam ein Zeichen dafür, dass die Tränen nie versiegen werden.

Zehn Jahre nach der Katastrophe wird uns ein Wort des Propheten Jesaja zum Nachdenken aufgegeben, das von einem totalen Neuanfang spricht (Jes 29,17-24). Da sollen öde Landstriche zum Wald, Blinde sollen sehend werden, Arme sollen sich am Heiligen Israels freuen. Tyrannen und Spötter soll es nicht mehr geben, und alle, die das Recht beugen und dadurch Unheil anrichten, sollen vertilgt werden. Gottesfurcht und Verstand werden die Oberhand haben.

Wie schön, wenn es so wäre! Doch gerade der furchtbare 11. September zeigt uns, dass es nicht so ist. Trotzdem ist dieses Prophetenwort in doppelter Hinsicht relevant. Auf der einen Seite sagt der Prophet: Gott erlöst, Gott lässt einen nicht beschämt dastehen, Gott belehrt die Irrenden, Gott heiligt sein Volk. Das kann ein Trost sein für alle jene, deren Trauer nie aufhören wird. Die Hoffnung auf eine heile Welt kann sie stärken in ihrem Versuch, das Leben trotz unwiederbringlicher Verluste als lebenswert anzusehen. Auf der anderen Seite ist die Heilszeit, die von dem Propheten angekündigt wird, geprägt von der Findung der eigenen Identität. Und die kann nicht losgelöst werden von der Gottesfurcht und -erkenntnis. Nur wer Gott als den Heiligen, den Besonderen, erkennt, kann selbst heilig sein. Das ist eine wesentliche Aussage des Bibelwortes.

Der 11. September ist ein Datum der Erinnerung an entsetzliche Bilder, an furchtbares Leid, an die Verletzlichkeit auch der stärksten Macht. Es kann für jeden Einzelnen aber auch ein Datum der Selbstprüfung und der Instandsetzung der persönlichen Beziehung zu dem heiligen Gott sein, der den Wandel zum Heil hin bewirken kann. Ob wir an unserem eigenen kleinen World Trade Center oder sonst einem persönlichen Status- und Machtsymbol arbeiten oder unser Vertrauen auf Gott setzen und ihn als den erkennen, der die Macht hat, auch unerwartete Wendungen herbeizuführen, liegt an uns.

Zeitungen schreiben, die Menschen in New York seien nach den Ereignissen des 11. September freundlicher, hilfsbereiter und aufgeschlossener geworden. Von „Ground Zero“ aus neu zu beginnen, kann für jeden Einzelnen und ganz persönlich auch eine positive Erfahrung sein. Nine/Eleven kann und sollte uns auch diesbezüglich zu neuem Nachdenken bewegen.