Die politische Krise in Serbien spitzt sich zu, auch wenn sie es (noch?) nicht auf die erste Seite der Medien schafft. Man ist immer noch zu sehr „gewöhnt“ ans „Pulverfass Europas“ und nur Kriegszustände dort, wie Ende der 1990er Jahre die Sezessionskriege, erregen weltweit Aufmerksamkeit.
Nicht übersehen werden darf aber, dass sich der Wind auch in Südslawien dreht: die Klischees von den ethnisch-religiös bedingten Spannungen verschwinden und verwischen sich zugunsten neuer Verhältnisse. Die alten ethnisch-religiösen Konflikte – der südslawische Raum war lange auch der europäische Austragungsraum zwischen einem fundamentalistisch geprägten orthodoxen Christentum und dem Islam/Mohammedanismus – verschwimmen zugunsten eines gemeinsamen politischen Vorgehens gegen das, was manche das „Erbregime Diktator Titos“ nennen. Jenseits der religiösen und ethnischen Spannungen stehen die europäischen Perspektiven Serbiens.
Seit sich die Studenten von der Spitze der serbischen Protestbewegungen zurückgezogen haben (auf dem Savija-Platz in Belgrad verständigten sie am 28. Juni die Demonstranten: „Wir geben euch grünes Licht. Wir haben Vertrauen in euch!“) werden die Demos zunehmend gewalttätiger, auch wegen Provokateuren. Seither ist sowohl die Frustrierung der Protestierer gegen Vucic, als auch die Zahl der Provokateure (angeheuert werden vor allem private Wachteams), die maskiert und mit Knüppeln attackieren, womit die Polizei jederzeit ausreichend Vorwände zum Ein- und (brutalen) Durchgreifen hat. So geschehen in Belgrad, Nis, Neusatz, Kragujevac, Pantschowa, Uzice.
In Novi Pazar, im Süden, gab es einen besonderen Vorfall. Die hiesige Bevölkerung, „traditionell verfeindete“ muslimische Bosniaken (damit sind dort vor Jahrhunderten konvertierte orthodoxe Christen gemeint) und serbisch-orthodoxe Christen haben noch vor 30 Jahren für blutige Auseinandersetzungen innerhalb der Stadtgemeinschaft gesorgt. Inwieweit die Feindschaft „gewachsen“ oder politisch von Gesinnungsgenossen Milosevic´s geschürt ist, ist nie genau untersucht worden. Fakt ist, dass auch das Vucic-Regime einige der muslimischen Bosniaken nutzt, um Misstrauen und Spannungen zu schüren.
Ende Juli drangen in schwarze Uniformen gekleidete Maskierte in die örtliche Universität vor und prügelten auf die Studenten ein. Den Zugang zur Uni hatten sie verrammelt. Überraschend war die Reaktion der Einwohner von Novi Pazar: in unerwarteter Solidarität erschienen sie als Demonstranten in der Stadt und vor der Universität – eindeutig und demonstrativ alle bisherigen „Grenzen“ von Ethnie und Glauben ignorierend. Die Bruchlinie, die sie bis dahin trennte, war urplötzlich verschoben: sie bestand nur zwischen der Bevölkerungsmehrheit und den Provokateuren/ Ordnungskräften und den Autoritäten.
Spontan gab es Solidaritätskundgebungen mit Novi Pazar in mehreren serbischen urbanen Ballungszentren. Andere reisten nach Novi Pazar, demonstrierten mit den Einheimischen. Selbst die Fahne der Minderheit der muslimischen Bosniaken – Fahnen haben auf dem Balkan noch starke Sammel- und Aussagekraft – durfte wieder ausgerollt werden und flatterte neben der serbischen. Akzeptanz, bürgerliche Einigkeit wurden betont.
Unerwartet schaltete die Polizei: die Maskierten stammten aus Kraljevo, hieß es, und sie waren Mitglieder einer privaten Sicherheitsgesellschaft. Verhaftet wurde nur zögerlich, doch der Fortschritt im geistigen Umdenk- und Verschiebungsmechanismus von Auffassungsgrenzen war enorm.
Der Prozess der Neudefinierung alter Feindbilder läuft südlich des Donaulaufs. Vucic rief zu sozialem Frieden auf. Sagte nichts von Verurteilung des Vorgehens der Schlägertrupps. Das nahm man ihm übel. Seine „Interethnischen Spannungen“ verzeiht ihm niemand.
Auch Fakt: in anderen Räumen Südslawiens wohnt man immer noch im Gestern.