Dem Vergessen entgegenzuwirken war und ist ein allzu menschliches Bestreben. Das Festhalten und das Weitergeben von Wissen verbindet durch die ganze Menschheitsgeschichte hindurch die ersten Höhlenmalereien mit unserem digitalen Zeitalter und seinen riesigen Datenbanken. Wissen muss und soll gehütet werden. Archive, in ihren unterschiedlichsten Formen: physisch oder digital, institutionell oder persönlich, sind die Orte und Horte menschlichen Wissens. 2004 wurde, in Folge eines langjährigen und mühsamen Prozesses, das Zentralarchiv der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR) eröffnet. Zu der Aufgabenstellung dieser Einrichtung steht auf der eigenen Homepage: „...um das teilweise jahrhundertealte Schriftgut christlich-evangelischen Lebens in (Groß-)Rumänien, aber auch siebenbürgisch-sächsischen Lebens in Siebenbürgen, zu sichern und zu bewahren. Infolge der massiven Auswanderung von Kirchenmitgliedern wurden Gemeindearchive in großer Zahl aufgelöst bzw. ungeschützt zurückgelassen. Im Archiv werden diese kulturhistorisch bedeutsamen Kulturgüter seitdem systematisch gesammelt, erschlossen und für die wissenschaftliche Arbeit zugänglich gemacht.“
Das 20-jährige Bestehen des Zentralarchivs (ZAEKR) wurde am 11. Oktober 2024 im „Friedrich Teutsch“ Kultur- und Begegnungszentrum in Anwesenheit zahlreicher Gäste im Rahmen einer Tagung, die sowohl die Geschichte, aber auch die Gegenwart und die Zukunft thematisierte, gefeiert. Eröffnet wurde die Tagung mit dem Vortrag von Unterstaatssekretär Thomas [indilariu zum Thema: „Vom Pergament zur Nationalbibliothek. Gedanken zur Rolle der Schriftlichkeit bei den Siebenbürger Sachsen“. In seinem Vortrag lieferte der Historiker einen Überblick über die Archivtradition bei den Siebenbürger Sachsen aus der Zeit der Vorreformation bis hin zu den heutigen Archiven in Hermannstadt/Sibiu und Kronstadt/Brașov. Dabei muss festgehalten werden, dass bei den Siebenbürger Sachsen im Vergleich zu anderen deutschsprachigen Gruppen in Osteuropa eine außergewöhnliche Dichte der schriftlichen Überlieferung festzustellen ist. Ausgehend von der Persönlichkeit Gernot Nußbächers, der seine Mails mit „Grüße aus dem Mäusekeller“ unterschrieb, illustrierte der Referent die Spannung in der Existenz von Archiven, die sich zwischen Müllhalde der Geschichte und Bewahrer derselben erstreckt. Ausgehend von dem in der Gesellschaft über die Jahrhunderte vorhandenen Bedürfnis nach vertrauenswürdiger Information behauptete [indilariu: „Egal wie digital die Zukunft wird, haben alle Konzepte etwas gemeinsam: es muss einen Ort oder Orte geben, an denen Information analog vorliegt und überprüfbar ist.“ Wobei er als lohnende Perspektive für die existierenden Archivbestände deren kompetent angegangene digitale Verfügbarmachung betrachte, und dieses auch dem Sinne der traditionellen Archivierung bei den Siebenbürger Sachsen entspreche.
Ein wichtiger Teil von Archivbeständen entstammt gewöhnlich privaten Sammlungen. Diesem Aspekt widmete sich der Vortrag von Oberarchivarin Monica Vlaicu: „Nachlässe siebenbürgischer Persönlichkeiten im Zentralarchiv der EKR“. Die persönlichen Sammlungen dienen als Nachlassschriftgut einerseits der historischen Widerspiegelung der Gesellschaft, andererseits bieten sie Informationen aus erster Hand über die Persönlichkeiten, die sie angelegt haben. Im ZAEKR befinden sich zur Zeit 86 bearbeitete Nachlässe, dabei handele es sich hauptsächlich um Nachlässe von Pfarrern, aber auch von Künstlern, Schriftstellern usw. Wie umfangreich und diversifiziert diese sein können, veranschaulichte die Referentin anhand der Nachlässe von Georg Adolf Schullerus, Viktor Roth und Ludwig Klaster.
Die persönliche Art, Zeitgeschehen festzuhalten war auch Thema des Vortrags von Dr. András Bandi: „Handschriftliche Eintragungen in Schreibkalender aus Siebenbürgen“. Im Zentralarchiv befinden sich 18 Schreibkalender, die aus dem 17. bis ins 19. Jahrhundert reichen. Die von Bandi vorgestellten Schreibkalender, manche ausführlicher, andere wiederum sachlich gehalten, geben mittels der unterschiedlichen Beschäftigungen, denen die Eigentümer nachgingen, aus erster Hand Informationen über Handelsbeziehungen, Alltag usw. in ihrem historischen Kontext wieder. Als Forschungsvorhaben würde es sich lohnen, zu den im ZAEKR vorhandenen, auch die in der Bibliothek des Brukenthal-Museums (wahrscheinlich über 100) Schreibkalender zu untersuchen und in einer Zusammenschau mittels einer Veröffentlichung dem breiten Publikum zugänglich zu machen. Zum Amüsement des Publikums las der Referent die eine oder andere spritzige Eintragung in den Schreibkalendern vor, was wiederum die eher unkonventionelle Weise veranschaulichte, wie diese Dokumente als historische Quelle dienen können.
Den Weg von der Transilvanica-Bibliothek zum Zentralarchiv und die damit verbundenen Herausforderungen veranschaulichte mittels eines umfangreichen Fotomaterials Dr. Cornelia Schlarb in ihrem Vortrag: „Eine Fotoreise in die Vergangenheit – Meine Tätigkeit in Archiv und Bibliothek in der Umbruchszeit“. Schlarb erzählte von den bewegten Jahren, in denen Pfarrarchive aus Ortschaften, aus denen die Minderheit ausgewandert war, übernommen werden mussten. Wie sie nach einer ersten Sichtung vor Ort in Kartonschachteln in die Sammelstellen in den betreffenden Bezirken transportiert wurden, da es damals noch keine zentrale Stelle für dieses Archivmaterial gab. Dieses befindet sich nun hauptsächlich im Zentralarchiv, unter entsprechend guten Bewahrungsumständen.
Wie die Tätigkeiten der Archivare sich in diesen 20 Jahren geändert haben und welche Arbeitsinhalte ihren Alltag bestimmen, beschrieb Archivarin Monica Rus in ihrem Vortrag: „Über 20 Jahre Mitarbeit im ZAEKR – Schwerpunkte meiner Tätigkeit“.
Der aus Nordhausen angereiste Dr. Wolfram Theilemann stellte sich in seinem Vortrag: „In hoc signo vincemus – Aktuelle Gedanken zum Wegwerfen und Übriglassen“, der schweren Frage, was in Archiven überhaupt bewahrt werden sollte, denn nicht alles, was „archivreif“ ist, ist auch „archivwürdig“. Der ehemalige Leiter des Zentralarchivs erläuterte, dass Archivare 90 Prozent von dem, was man ihnen anbietet, vernichten müssten. Dazu brauche es natürlich ein Regelwerk und klare Vorgehensweisen. Dazu bemerkte Theilemann: „Seid freundlich zu euren Archivaren, sonst radieren sie euch aus der Weltgeschichte aus.“ In seinem Exkurs baute der Referent eine Parallele zwischen dem christlichen Dasein in der Welt und den Archivaren. Dazu meinte er: „Aus christlicher Perspektive ist Geschichte die Geschichte des Heils. Archive sollen und müssen geführt werden, weil sie eben diese dokumentieren.“ Um dann schlussfolgern zu können: „Archivare haben angesichts der Archive gelernt, zu sagen, was Christen immer wieder lernen müssen: wir sind nicht die Herren der Ernte. Wir sammeln nur die Überreste.“
Abgeschlossen wurde die Tagung mit dem Vortrag von Dr. Gerhild Rudolf, Leiterin des Teutsch-Hauses: „Erika Schuller-Paulas: Neue Gedanken verwirklichen! - Spurensuche nach Zeugnissen einer starken siebenbürgischen Persönlichkeit“. In ihrem reichlich illustrierten Vortrag stellte Dr. Rudolf die vielschichtige Persönlichkeit Erika Schullers vor: von ihrer Tätigkeit als Architektin, die erste anerkannte Architektin im ungarischen Reich, über ihren sozialen Einsatz für Kleinkinder und für die Bildung der Frauen, bis zu ihrem gesellschaftlich-politischen Einsatz für die Gleichberechtigung von Frauen in der siebenbürgischen Gesellschaft, zum Beispiel durch ihren Kampf für das Wahlrecht der Frauen.
Dr. Gerhild Rudolf verglich in der Eröffnung der Tagung das Teutsch-Haus mit einem Herz mit seinen vier Kammern: das Zentralarchiv, das Museum, das Ökumenische Forschungsinstitut und das Erasmus-Büchercafe. Wer einmal das Haus betreten hat, kann diesem Vergleich zustimmen: nicht nur, dass man spürt, das dieses Herz schlägt, sondern durch die hier durchgeführte Forschungs- und Ausstellungstätigkeit pumpt es Blut in Adern, Blutgefäße und Kapillaren, von denen man manchmal gar nicht weiß, wohin sie führen.