„Sterben wir jetzt, oder feiern die nur?“

Jugend am Rand – wo Pfadfinder aktiv werden

In Tulcea, einer rumänischen Grenzstadt nahe der Ukraine, organisieren Jugendliche ein Pfadfindercamp. Zwischen Krieg, Identitätsfindung und Provinz: eine Reportage über junge Menschen, die trotz Herausforderungen ihre eigene Stimme suchen – und finden.

Sechs Betten stehen in dem hell erleuchteten Wohnheimzimmer der technischen Sekundarschule Henri Coanda. Der Raum ist chaotisch: Kleidungsstücke, Energy-Drinks, E-Zigaretten, Pinsel und Farbtuben. Durchs offene Fenster summen Mücken, draußen zirpen die Grillen. Nur sieben Gehminuten sind es von hier bis zum Lacul Ciuperca. Von dort: acht Kilometer Luftlinie bis zur Donaugrenze mit der Ukraine. Dahinter der Krieg. Plötzlich ein lauter Knall, dann noch einer – der 17-jährige Toby bleibt unbekümmert liegen. „Feuerwerk“, sagt er mit einem Lächeln. „Immer wenn ich das höre, denke ich mir, sterben wir jetzt, oder feiern die nur?“ So nah an der Grenze zum Krieg schlägt sein Herz bei jedem Knall schneller. Trotzdem hat er sich mittlerweile an den Adrenalinschub gewöhnt. Auch heute liegt seine Nervosität unter einer dicken Decke aus Erschöpfung. Statt wie sonst in Zelten schlafen Toby und die anderen jungen Pfadfinder an diesem besonderen Wochenende in einem Schulwohnheim – mitten in der Stadt, mitten im Sommer, mitten in einem Leben zwischen Kriegsangst und Jugendcamp. 

Die nächtliche Erschöpfung rührt von einem ereignisreichen Tag. Mit Orga-Shirt und Pfadfinderhalstuch schwirrt Toby zwischen halb aufgebauten Ständen, Gruppen von Jugendlichen und dem Basislager hin und her. Das „Festivalul Lumini“ soll um 14 Uhr am Lacul Ciuperca beginnen. Kurz vorher werden noch hastig Tische herumgerückt, Luftballons aufgeblasen, Sitzsäcke auf der Wiese verteilt. Das viertägige nationale Pfadfinder-Camp in Tulcea endet in diesem Jahr mit einem sommerlichen Lichterfest. Dazu gibt es tagsüber Stände mit unterschiedlichen Aktivitäten und abends das Highlight: gemeinsames Singen am Strand im Schein von tausend selbstgebastelten Laternen. Das Ziel ist es, neue Mitglieder zu gewinnen, Spenden zu sammeln, die Gemeinschaft zu stärken und natürlich Spaß zu haben. Drei Monate saßen die Pfadfinder des „Lotus“-Zentrums an der Planung – ohne Erfahrung, aber mit Motivation. Viel Schlaf gab es nicht. Auch nachts wurde im Orga-Zimmer gebastelt, improvisiert und gestritten. „Ich schrei dich an, du schreist mich an, aber die Arbeit wird nicht getan. Bring mich später um, aber lass uns jetzt an die Arbeit gehen“, erinnert sich Toby an eine besonders stressige Nacht im Camp. Auch für Pilaf, mit metallic-blauen Haaren und Piercings in Nase und Lippe, war die Planung eine Herausforderung. Als einzige 18-Jährige unter den Organisatoren war sie verantwortlich für alles, was mit Unterschriften und der Kommunikation mit den Behörden zu tun hatte. Ständig klingelt ihr Telefon. „Nie wieder“, sagt sie entschlossen, bevor sie den nächsten Anruf mit genervtem Ton entgegennimmt. Alles für ein gelungenes Wochenende, alles für die anderen Pfadfinder. Trotz Hängematten und Sitzsäcken fällt es Toby, Pilaf und den anderen schwer, das Festival wirklich zu genießen. Zu groß sind die Sorgen, etwas vergessen zu haben, zu groß die Erschöpfung.  

Unter der prallen Sonne bleibt die Festivalwiese am ersten Tag zunächst wenig besucht. Die Kreishauptstadt liegt im Nordosten Rumäniens mitten im Donaudelta. Von der Hafenpromenade sind große Kräne, Industrieschornsteine und auffällige Hotelbauten zu erkennen. Im Flusswasser treiben Touristenboote, die Ausflugstouren durch die Arme des Deltas anbieten. Wer von den Ausflügen zurück nach Tulcea kommt, ist übersät mit Mückenstichen. Nicht ohne Grund ziert das Logo des „Lotus“-Zentrums eine kleine Mücke in Pfadfinderausrüstung. Trotz der wunderschönen Lage gehen die Einwohnerzahlen Tulceas zurück. Lebten laut einer Zählung von 2011 noch etwa 213.000 Menschen in dem Landeskreis an der Donau, so sind es 2021 nur noch 193.355. 

Warum die Jugend geht

Viele junge Leute ziehen nach dem Schulabschluss in größere Städte – oder ins Ausland. Beliebt sind Großbritannien, die Niederlande und Dänemark. Auch Toby will zum Studieren nach Bukarest ziehen. Er wird eine Stadt zurücklassen, in der die Generation der jungen Erwachsenen zu fehlen scheint. Und das merkt er nicht nur daran, dass er mit 17 Jahren zu den älteren Aktiven in seinem Pfadfinder-Zentrum gehört. Laut den Jugendlichen gibt es in der Stadt kaum Angebote für sie. Die wenigen Clubs und Bars gefallen den tätowierten, gepiercten, bunthaarigen jungen Menschen nicht. Wie in vielen Kleinstädten fehlen diverse Orte, mit denen sie sich identifizieren können. Toby meidet die Clubs, in denen auch jene verkehren, die ihm auf der Straße abfällig „Emo!“ hinterher rufen. Sein rockiges Auftreten und die bunten Haare fallen hier auf. Auch die Stammkneipe der Pfadfindertruppe spielt inzwischen Charts und Manele statt Rockmusik. Ganz loslassen können sie die Bar trotzdem nicht – aus Gewohnheit. Oder weil es sonst nichts gibt. 

Die Provinzregion an der Grenze macht es den Jugendlichen schwer, sich frei zu entfalten. Wer in Tulcea aufwächst, lebt in einer Umgebung, in der rechte und ul-trakonservative Strömungen zunehmend an Stimmen gewinnen. Bei den Parlamentswahlen 2024 landeten Parteien wie AUR und SOS România auf dem zweiten und dritten Platz. Und auch die sozialdemokratische PSD, die mit 25 Prozent die meisten Stimmen aus Tulcea bekam, agiert in Fragen von LGBTQ+-Rechten oder Geschlechterrollen häufig wenig progressiv. Vor allem die jüngeren Generationen streben zunehmend nach alternativen Lebensmodellen und mehr Selbstbestimmung. Die politischen Entwicklungen hingegen hinterlassen oft Frust und Ohnmacht. Diese Tendenz ist in Rumänien keineswegs ein Spezialfall. Doch was zählt, ist das Gefühl, dass Jugendliche wie Toby und Pilaf – bunt, queer, links und laut – in ihrer Heimatregion wenig Platz finden. Und dass Menschen mit bunten Haaren, nicht-binären Identitäten oder alternativen Lebensentwürfen keine Ausweichräume haben. Räume, in denen sie sich ungestört von Blicken, Lästereien und „Emo“-Beschimpfungen aufhalten können. Der logische Weg für junge Menschen: wegziehen. In anderen Städten Rumäniens treffen sie sich dann wieder, viele, mal zufällig, mal bewusst. „Du kannst Tulcea nicht entkommen“, lacht Toby. „Egal wohin du gehst, du triffst immer jemanden von hier.“ 

Angst vor dem Krieg als Normalität

Doch nicht nur der Wunsch nach Akzeptanz belastet die Jugendlichen in Tulcea – auch der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig. Die 18-jährige Valeria liegt auf einem türkisen Sitzsack, raucht und blickt in Richtung Donaugrenze, über den Lacul Ciuperca hinweg. Ihre Haarspitzen sind rosa gefärbt, an ihren Ohren glitzern alte und frisch gestochene Piercings. Mit vor Aufregung zitternder Stimme erzählt sie von den Angriffen, die sie durch ihr Fenster beobachten kann: „Man kann die roten Punkte am Himmel sehen – von den Drohnen. Viele.“ Wochenlang ist keine zu sehen, dann fliegen sie wieder tagelang ohne Pause. Das RO-Alert-System warnt vor herabfallenden Objekten. Die Menschen sollen ihre Häuser nicht verlassen, sich in Kellern oder möglichst unterirdisch in Sicherheit bringen. 

Valerias Zimmer befindet sich in der ersten Etage. Sie berichtet von wackelnden Fenstern und Türen während der nächtlichen Angriffe. Die Angriffe gelten der nur 20 Kilometer entfernten Hafenstadt Ismajil – so nah, dass Explosionen und Rauch bis nach Tulcea sichtbar sind. Das zeigen auch Tobys Handyaufnahmen, die er und seine Freunde zu Beginn des Krieges panisch austauschen. Trotzdem wird der Krieg hier zunehmend zur Normalität. Valeria macht sich Sorgen um die Zukunft, weiß aber resigniert, dass sie die Situation nicht beeinflussen kann. „Wir haben uns daran gewöhnt. Jetzt stört mich der Alarm nur noch. Ich denke mir nur: Halt die Klappe, ich will schlafen!“. 

Dass der russische Angriffskrieg hier kein fernes Medienereignis ist, zeigen Daten des rumänischen Verteidigungsministeriums. Seit dem Angriff im Februar 2022 gingen bei 38 von 52 Drohnenangriffen Trümmerteile auf rumänischem Boden nahe der Grenze nieder. In zehn Fällen seien russische Drohnen sogar in den rumänischen Luftraum eingedrungen. 

Valeria spricht auch über die ukrainischen Geflüchteten in Tulcea. Als Angehörige der ethnischen Minderheit der Lipowaner ist sie mit Russisch aufgewachsen und versteht ein wenig Ukrainisch. Doch Nähe zu den ukrainischen Geflüchteten an ihrer Schule entsteht kaum. Valerias persönlicher Eindruck ist, dass viele der Geflüchteten vergleichsweise wohlhabend seien. „Warum fliehen die ausgerechnet nach Tulcea und nicht weiter in den Westen oder in die USA?“, fragt sie sich. In ihren Augen beanspruchen die Geflüchteten aus der Ukraine vor allem rumänische Ressourcen. In ihren Worten spiegelt sich ein Misstrauen, das nicht selten ist. Auch das gehört zur Wirklichkeit der Jugendlichen in der Grenzregion: Desorientierung, Angst und Überforderung – alles zur gleichen Zeit. 

Zugehörigkeit durch Gemeinschaft: was das Pfadfindern leisten kann

Vielleicht ist das genau der Grund, weshalb sich mit einbrechender Dunkelheit die Festivalwiese und der Strand am Lacul Ciuperca mit jungen Menschen füllt - mit und ohne Pfadfinderausrüstung. Die Pfadfinder scheinen einen Ort der Zugehörigkeit geschaffen zu haben, an dem existenzielle Sorgen für einen Moment verschwimmen. Mit ausgelassener Stimmung fallen sich Jugendliche um den Hals, begutachten gewonnene Preise und machen sich an die Arbeit. Bewaffnet mit Feuerzeugen helfen alle, ob Organisatoren, Freunde oder Passanten, dabei, die tausend selbstgefalteten Papierlaternen zum Leuchten zu bringen. So fangen Strand und Promenade an, in gemeinschaftlicher Arbeit zu erstrahlen. Das „Lotus“-Zentrum ist in Tulcea eine feste Größe. Mit ca. 250 Mitgliedern und 70 Aktiven ist es nicht nur im Stadtgebiet angesehen, sondern auch unter den anderen Zentren in Rumänien bekannt dafür, besonders sozial und offenherzig zu sein. Wer in Tulcea Pfadfinder werden will, muss warten, bis er oder sie auf die weiterführende Schule kommt. Das macht den Einstieg spät und die Gruppe entsprechend jugendlich, fast schon erwachsen. 

Die Gemeinschaft im Pfadfinderzentrum bedeutet vielen Jugendlichen in Tulcea enorm viel. Für Pilaf ist es mehr als nur ein Ort für soziales Engagement. „Das hat mir ernsthaft das Leben gerettet“, sagt sie. Bevor sie dem Zentrum beitrat, war sie einsam, ohne Freundschaften, ohne Hobbys – und tief depressiv. Doch bei „Lotus“ änderte sich das. Sie wurde aufgenommen wie sie war. Fand Freunde. Einen Sinn. Verantwortung. „Ich will das mein ganzes Leben lang machen. Und wenn ich einmal Kinder habe, sollen die auch hierherkommen.“ Auch Toby erzählt, wie sehr ihn „Lotus“ verändert hat. Früher hatte er große Angst davor, neue Leute kennenzulernen. Doch als er zum ersten Mal ins Zentrum kam, wurde er mit Jubel begrüßt. „Und ich so: Ah das bedeutet es also, Pfadfinder zu sein.“ Die offene Atmosphäre half ihm, seine Schüchternheit zu überwinden.   

Die Werte der Pfadfinder und ihre eigenen Regeln

Die Pfadfinderbewegung will junge Menschen stärken und sie zu Selbstverantwortung, Gemeinschaftssinn und sozialem Engagement ermutigen. Pfadfinder sollen Vorbilder sein und sich aktiv für Menschen und Umwelt einsetzen. Immer ganz nach dem Motto: „Jederzeit bereit!“ Im Zentrum in Tulcea wird dieser Anspruch ernst genommen, auch wenn Regeln wie das Rauch- und Fluchverbot mit Pfadfindertuch hier eher locker gehandhabt werden. So sieht man Jugendliche hier und da kurz ihr Tuch ablegen, um an einer Zigarette zu ziehen oder ein Schimpfwort zu murmeln. Auch starre Geschlechterrollen werden hier hinterfragt. Viele der jungen Menschen im Zentrum sind queer oder nicht-binär. Deshalb lehnt das Zentrum getrennte Schlafräume oder Zelte nach Geschlecht ab. Wichtig ist nur, dass sich alle wohlfühlen. „Lotus“ ist für sie ein Ort, an dem sie lernen, sich selbst und einander zu vertrauen. 

Am Strand, erleuchtet vom Licht der Papierlaternen, beginnen die Pfadfinder zu singen. Dicht gedrängt stehen sie im Sand, begleitet von vier Jugendlichen mit akustischen Gitarren. Unter den vielen Zuschauern: Valeria, die gerührt den Pfadfinderliedern lauscht. Toby steht mit verschränkten Armen am Rand. Er singt dieses Mal nicht mit – zu groß ist die emotionale Erschöpfung. Später wird ihn die Euphorie dann doch packen. 

Tulcea ist eine Stadt am Rande. Industrie und Natur. Krieg und Frieden. Zwischen Konservativem und dem Wunsch nach Veränderung. Ein Spagat zwischen queerer Jugend, Abwanderung und sozialem Engagement. Doch hier am Lacul Ciuperca entsteht durch sie etwas anderes: ein Raum zum Sich-selbst-Finden, ein Raum der Zugehörigkeit und der eigenen Stimme. 

Noch brennen die Laternen, noch wird gesungen. Viele halfen beim Aufbau, den Abbau aber werden die Pfadfinder allein stemmen. Sorgfältig werden sie alles wieder einsammeln, kein einziges Teelicht vergessen. Denn trotz rauchen, trinken und schimpfen – sind sie Pfadfinder.