Vergeudetes Potenzial?

Rumänien lässt Milliarden an EU-Geldern liegen

EU-geförderte Projekte auf Kreisebene in Rumänien (2014-2020) | Quelle: Ministerium für europäische Investitionenund Projekte

Als Rumänien im Januar 2007 der Europäischen Union beitrat, verfügte mehr als die Hälfte der Bevölkerung über keinen Kanalisationsanschluss. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf war weniger als halb so hoch wie der europäische Durchschnitt. Das durchschnittliche Nettogehalt lag bei knapp über 1000 Lei. Die Bürger und Bürgerinnen Rumäniens blickten mit großen Erwartungen auf den Beitritt ihres Landes zur EU. Seit dem Beitritt vor knapp über 17 Jahren sind mehr als 62 Milliarden Euro an EU-Mitteln an Rumänien geflossen. Eine Summe, die auf den ersten Blick beachtlich erscheint. Betrachtet man die Gesamtsumme an Geldern, die tatsächlich hätten abgerufen werden können, so stellt man fest, dass Rumänien das volle Potenzial an EU-Mitteln nicht ausgeschöpft hat.

Seit dem EU-Beitritt hat der rumänische Staat wesentlich von den Mitteln der Europäischen Union profitiert. Insgesamt hat das Land rund 21 Milliarden Euro zum EU-Haushalt beigetragen, aber auf der anderen Seite auch 62 Milliarden Euro erhalten. Daraus ergibt sich, dass Rumänien mit über 40 Milliarden Euro zu einem der Nettoempfängerländer der EU gehören. Von dieser Entwicklung hat der rumänische Staat nicht nur infrastrukturell enorm profitiert. Auch ökonomisch haben die EU-Mittel ihre Wirkung entfaltet. Das durchschnittliche Nettogehalt ist auf weit über 4000 Lei gestiegen. Das Pro-Kopf-BIP hat sich im gleichen Zeitraum dem von Ungarn und Polen beträchtlich angenähert.

EU-Mittel vor dem Beitritt 

Die Kohäsionspolitik ist das wichtigste Instrument der EU, um in ihre Mitgliedsländer zu investieren. Dahinter steckt die Intention, die wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Ungleichheiten innerhalb der Europäischen Union zu verringern. Staaten, die sich vor dem EU-Beitritt in der Heranführungsphase befinden, profitieren bereits von dieser Investitionspolitik. Rumänien erhielt mittels der sogenannten „PHARE-Programme“ mehrere Milliarden Euro vor dem Beitritt 2007. Diese Mittel flossen vor allem in die Agrarindustrie, aber auch in den Auf- und Ausbau der Produktions- und Verarbeitungsstätten. Diese Investitionen sollten die Basis für den Übergang zur EU-Finanzierung nach dem offiziellen Beitrag schaffen. Während sich die Wirtschaft in Rumänien auf diese Investitionsmodelle besser einstellte, gelang es dem Staat jedoch nicht, hinreichend bürokratische und strukturelle Schwierigkeiten auf der Verwaltungsebene anzugehen. Politische Entscheidungsträger hielten sich mit der Verwendung von EU-Mitteln deutlich zurück, da diese viel strenger überwacht werden. Dies befeuerte die Tendenz, Gelder anzufordern, die man mit weniger Aufwand und Überwachung bekommen konnte.

Finanzzyklen nicht ausgeschöpft

Nach dem Beitritt konnte Rumänien für das Haushaltsjahr 2007-2013 EU-Mittel in Höhe von 27 Milliarden Euro in Anspruch nehmen, die im Rahmen von sieben operationellen Programmen genutzt werden konnten. Es gelang mit großem bürokratischen Aufwand, etwa 91 Prozent der verfügbaren Mittel durch unterschiedliche Projekte abzurufen. Die Prioritäten waren Investitionen in die Infrastruktur, d. h. neue Straßen, die mit europäischen Geldern gebaut wurden. Als nächstes standen Forschung und Innovation, kleinere und mittlere Unternehmen, allgemeine und berufliche Bildung, soziale Eingliederung und Umwelt auf der Finanzierungsliste. 

Für den nächsten Finanzzyklus 2014-2020 standen Rumänien insgesamt 41 Milliarden Euro an EU-Mitteln zur Verfügung. Rumänien gelang es in diesem Zeitraum aber nur, über 80 Prozent dieser Summe zu erhalten. Schon in den Anfangsjahren nach dem Beitritt zur EU zeigte sich ein eklatantes Problem. Die Projekte konnten nicht zeitgemäß durchgeführt und demzufolge abgeschlossen werden. Es kam zu Verzögerungen von ein bis zwei Jahren in den neuen Finanzzyklus hinein. Für die Jahre 2007-2013 lässt sich dies noch mit der relativen Unerfahrenheit mit der erst neu aufgebauten Verwaltung für EU-Gelder erklären. Im gegenwärtigen Finanzrahmen 2021-2027 stehen Rumänien etwa 46 Milliarden Euro zur Verfügung.

Unzureichendes Projektmanagement: Der Faktor Zeit

Für den Zeitraum 2014-2022 wurden nicht weniger als elf Investitionsbereiche ins Auge gefasst, darunter Forschung, Entwicklung und Innovation, Digitalisierung, wettbewerbsfähigere Klein- und Mittelstandsunternehmen, der Übergang zu einer grünen Wirtschaft, Risikomanagement und Klimawandel, Erhaltung und Schutz der Umwelt, nachhaltiger Verkehr und Investitionen in die allgemeine und berufliche Bildung zur Bekämpfung aller Formen von Diskriminierung. Der Finanzzyklus der Projekte verlängerte sich auch wegen der Corona-Pandemie.

Den neuesten Daten zufolge liegt die Nutzungsrate der Mittel für den Zeitraum 2014-2020 in Rumänien bei knapp über 84 Prozent. Rumänien hat jedoch noch bis zum Ende des Jahres Zeit, alle Projekte abzuschließen. Ein Grund, warum die abgerufenen Mittel im Gegensatz zum ersten Finanzzyklus gesunken sind, ist das schleppende Projektmanagement. Ein Grundsatz im Projektmanagement ist der Zeitfaktor. Projekte sollten in einem bereits vorgegebenen Zeitraum abgeschlossen sein. „Jedes Mal beginnen wir mit zwei bis drei Jahren Verspätung im Haushaltsjahr. So lange brauchen wir, um die Institutionen zu akkreditieren, die Verwaltung vorzubereiten, die Projekte, die Ausschreibungen. Sagen wir, dass wir 2007 eine Weile gebraucht haben, um uns an die europäischen Anforderungen und Standards zu gewöhnen. Aber seit 2013 sollten wir keine Ausreden mehr haben. Und weil die Projekte zu spät kommen, ziehen sie sich in die Länge“, erklärt der renommierte Wirtschaftsjournalist Constantin Rudni]chi. Werden beispielsweise nicht alle Projekte aus dem laufenden EU-Haushaltsjahr bis zum Ende dieses Jahres abgeschlossen, gibt es zwei Optionen. Bereits erhaltene EU-Gelder müssen an die Europäische Kommission zurückgegeben und die Projekte abgeschlossen werden, oder die Projekte werden fortgeführt, aber mit Geldern aus dem eigenen Staatshaushalt. Dies war z. B. der Fall bei den Krankenhäusern, die von der Liste der PNRR-Finanzierung gestrichen wurden und für die Rumänien ein Kredit bei der Europäischen Investitionsbank zugesagt wurde. Durch die Verzögerung bei der Durchführung von Projekten gehen dem Staat de facto eingeplante EU-Mittel verloren.

Überlappende Finanzzyklen

Die EU versucht, den Mitgliedsstaaten im Bereich der Verzögerungen entgegenzukommen. Aus diesem Grund gibt es derzeit zwei sich überschneidende Finanzzyklen 2014-2020 und 2021-2027. Der erste wurde um drei Jahre verlängert, damit möglichst viele Projekte abgeschlossen werden können, während der zweite gerade erst begonnen hat, obwohl bereits mehrere Jahre vergangen sind. Der Grund für diese Verzögerung war die erst im Juli 2022 unterzeichnete Partnerschaftsrahmenvereinbarung mit der Europäischen Kommission, die die Grundlage für die Verteilung der Mittel der Kohäsionspolitik bildet. Erst danach wurden die anderen an der Verwaltung der EU-Mittel beteiligten Strukturen akkreditiert.

In den nächsten Jahren wird Rumänien über ein Budget von 46 Milliarden Euro verfügen, von denen fast 31 Milliarden Euro aus dem europäischen Haushalt stammen. Das Geld wird über 16 operationelle Programme, acht nationale und acht regionale zur Verfügung gestellt. Darüber hinaus werden zum ersten Mal die Investitionsbudgets für die regionale Entwicklung an die acht regionalen Entwicklungsagenturen vergeben und nicht mehr von einer zentralen Behörde verwaltet.

Konkurrenz: Staatliche Mittel vs. EU-Finanzierung

Während der Privatsektor in Rumänien die verfügbaren EU-Mittel sehr gut nutzt, vor allem im Agrarbereich, ergibt sich bei der öffentlichen Verwaltung und deren Behörden ein anderes Bild. Eine weitere Erklärung für die geringere Nutzungsrate von EU-Mitteln liegt in den Projekten selbst verborgen, die aus dem staatlichen Haushalt finanziert werden. Obwohl es Rumänien theoretisch nicht erlaubt ist, nationale Programme, d. h. mit Mitteln aus dem Staatshaushalt, aufzulegen, die Mittel der Europäischen Union kannibalisieren, also das Gleiche finanzieren, hat der rumänische Staat genau dies immer wieder als Maßnahme genutzt. Wenn ein Bürgermeister oder Präsident einer Kommunalverwaltung erkennt, dass europäische Mittel verfügbar sind, bei denen jeoch das Niveau der Kontroll- und Überwachungsmechanismen, insbesondere bei den Vergabeverfahren, sehr hoch sind, entscheiden sich viele für staatliche Investitions- und Finanzierungsprogramme wie z.B. PNDL oder „Anghel Saligny“. Der rumänische Staat konkurriert somit auf der Ebene der Finanzierungsmöglichkeiten mit den zur Verfügung stehenden EU-Mitteln. Entscheidungsträger in der öffentlichen Verwaltung wählen hierbei dann den „bequemeren“ Weg. Für sie bedeutet dies weniger Kontrolle, weniger Aufwand und geringerer Druck.

Um dies zu vermeiden, gibt es bestimmte Verfahren, auf die die Behörden zurückgreifen können. Dazu gehört die Möglichkeit, nicht abgeschlossene Projekte nicht komplett zu streichen, sondern diese lediglich von einem Haushaltsjahr in das nächste zu verschieben.

Dieses Verfahren hat Rumänien schon mehrmals angewandt, weil es eben zu Schwierigkeiten bei der rechtzeitigen Abwicklung von EU-Projekten kommt. Beim gegenwärtigen Finanzzyklus gestaltet sich dieses Verfahren jedoch wesentlich komplexer. Nur Projekte, die die Bedingungen der Verordnung 2021-2027 erfüllen, können schrittweise eingeführt werden. Das bedeutet nur solche Projekte, die z. B. keine schädlichen Auswirkungen auf die Umwelt haben. Daraus resultiert, dass man in den nächsten Jahren einen Teil der Mittel nicht für neue Projekte, sondern für die Fertigstellung verschobenener, älterer Projekte verwenden wird. Neue Projekte und deren Finanzierung stehen somit erst mal wieder in der Warteschlange.