Warum bin ich hier?

Die rumänische Demokratie in der Pubertät

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„Also ist die Frage, die ich mir selber stelle: Warum bin ich hier? Und ich beabsichtige nicht, ihnen diese Frage zu beantworten.“ Wer diese Worte in einem absurden Theaterstück sucht, wird nicht fündig werden, denn die Aussage stammt von John Ion Banu. In der zweiten Fernsehdebatte der Präsidentschaftskandidaten sollte jeder den anderen eine Frage stellen. Besagter Kandidat aber stellte eine Frage an sich selbst, formulierte ein paar Sätze über die Veränderung, die er darstellen würde, die aber niemand wolle, um mit der zitierten Aussage zu schließen. Inzwischen ist der erste Wahldurchgang für das Präsidentenamt über die Bühne gelaufen. Wer dabei auf das Fallen des Vorhangs über ein möglicherweise von Eugene Ionesco geschriebenes Stück, welches 2024 mit den Europawahlen als erstem Akt begann, hoffte, bemerkt, dass die Schauspieler sich einem Improvisationsakt hingegeben haben, welcher kein Ende nehmen will.

Erstmal aber die Debatten in der letzten Woche vor den Wahlen: Die erste, von Digi24 im Cotroceni-Palast organisiert, war eher eine abgespeckte Fassung. Eingeladen waren die in den Umfragen bestplatzierten fünf Kandidaten. Wie in einem Roman von Agatha Christie verschwanden manche Gäste auf unerklärliche Weise: Victor Ponta gab am Morgen bekannt, dass er nicht beabsichtige, zu erscheinen, ohne aber eine Begründung zu liefern. George Simion erschien in Begleitung seiner Mutter und seiner Gattin, überreichte seiner Gegenkandidatin Elena Lasconi, mit der Erklärung, sie sei die einzige Berechtigte, anwesend zu sein, einen Blumenstrauß, reichte Mama das Händchen und verdünnisierte sich. Es sollte sein einziger Fernsehauftritt während der Woche sein, denn er war schon in seiner Rolle als Hologramm von Ex-Kandidat Călin Georgescu aufgegangen. Die Debatte selber: man musste sich durchgehend fragen, ob den drei noch anwesenden Kandidaten klar war, für welches Amt sie sich beworben haben, denn als Zuschauer fühlte man sich eher wie ein Beisitzer eines Zickenkriegs als einer Debatte, in der es um die Zukunft des Landes gehen sollte.

Bei der zweiten Debatte, organisiert von TVR1 und von den wichtigsten Sendern übertragen, sollten alle elf Kandidaten anwesend sein (zehn erschienen, das schon erwähnte Hologramm fehlte). Die Debatte stand unter dem Zeichen des zur Schau getragenen Glaubens: Victor Ponta las in der Bibel während seine Gegenkandidaten sprachen, Ex-Pfarrer Terheș war bemüht, wenigstens in jedem dritten Satz Gott zu erwähnen, Elena Lasconi jagte Nicușor Dan mit einer Bibel in der Hand über die Bühne, wobei dieser beteuerte, dass er praktizierender orthodoxer Christ sei und deswegen keinen Schwur mit der Hand auf der Bibel ablegen könne. Die dritte Debatte bei Antena3 brachte nichts Neues, auch sie schafften es nicht, Simion zum Erscheinen zu überzeugen. Es wurde so gut wie gar nicht über Visionen und Konzepte gesprochen, sondern man blieb auf der Ebene der Zicken und setzte auf persönliche Angriffe.

Dass die Debatten notwendig waren, kann niemand bestreiten. Doch sie haben den Wählern nicht wirklich etwas gebracht, umso weniger haben sie es geschafft, die Unentschiedenen für den einen oder anderen zu überzeugen.

Eine Protestwahl!?!

Der Vormittag des Wahlsonntags deutete auf eine Rekordwahlbeteiligung hin, doch am Nachmittag ebbte die Wählerflut ab und die Wahlbeteiligung bewegte sich in einem für Rumänien üblichen Rahmen – 53,21% entsprechend 9,57 Millionen Wählern fanden den Weg ins Wahllokal. Der weiterhin durch Abwesenheit in der Öffentlichkeit glänzende George Simion sicherte sich den ersten Platz mit 40,95% der Stimmen, gefolgt von Nicușor Dan mit 21,01%, Crin Antonescu 20,07% und Victor Ponta 13,04%. Die vorliegenden Wahlergebnisse zwingen, diese als Protestwahl zu verstehen. Die beiden bestplatzierten Kandidaten werden von der eigenen Wählerschaft als von „außerhalb des Systems kommend“ wahrgenommen und bekamen daher als Alternative zum politischen Establishment den Zuspruch. Zugleich muss/kann das Wegbleiben von fast 50% der wahlberechtigten Bevölkerung auch als schweigender Protest verstanden werden. In absoluten Zahlen: von den 17.988.047 wahlberechtigten Bürgern haben sich 8.412.836 nicht an den Wahlen beteiligt. Von den 9.575.211 abgegebenen Stimmen haben 5.845.133 Bürger für Kandidaten gestimmt, die man als Antisystem-Personen wahrnimmt.  

Abends, nach der Veröffentlichung der Hochrechnungen, ging das absurde Theaterstück weiter. Während knapp 4 Millionen Wähler ihm die Zukunft Rumäniens in den Wahlurnen anvertrauten, befand sich der nichts-anderes-als-Rumänien-liebende Souveränist Simion anscheinend in Wien. Kann man es ihm übelnehmen? Eigentlich nicht, denn wegen des 1. Mai gab es in Rumänien Brückentage – und wem hat schon ein City-Break in der österreichischen Hauptstadt während eines verlängerten Wochenendes geschadet? Das kann man sich leisten, wenn man der Garant der „goldenen Zukunft“ des Landes ist. Des Sieges sicher, hatte er schon im Vorfeld eine Dankesrede aufgenommen, die er zur entsprechenden Uhrzeit ins Netz stellte. Nach Georgescu-Modell an einem massiven Schreibtisch vor einer Bibliothek, die neben Büchern auch mit Ikonen bestückt war, sitzend, bestätigte Simion, dass er weiterhin für die versprochene goldene Zukunft Rumäniens kämpfen wird, wobei seine Wählerschaft mit Adleraugen auf die Sicherung seines Wahlsieges aufpassen sollten. Nicht weniger absurd war der Auftritt des Vertreters der Regierungsallianz Crin Antonescu: Als Verlierer stand er mit einem breiten zufriedenen Lächeln am Mikrofon und kündigte seinen Abgang an. Die Perspektive des Rückzugs in sein Dolcefarniente, welches er in den letzten zehn Jahren genossen hat, ließ anscheinend sein Herz vor Freude überschwappen. Elena Lasconi, die im November 2024 sich den Einzug als Zweitplatzierte in den zweiten Urnengang sichern konnte, inzwischen aber die Unterstützung der eigenen Partei verloren und nur noch 2,68% der Stimmen erhalten hatte, präsentierte sich als Siegerin und versprach, dieselbe zu bleiben, um in einer ungewissen Zukunft Rumänien von der System-Kamarilla zu befreien.

Die Wahlergebnisse haben aber auch noch mehr an Kurioses mit sich gebracht. Während die in der Republik Moldau wohnenden wahlberechtigten Bürger in einer absoluten Mehrheit für den pro-europäischen Kandidaten gestimmt haben, haben die im Westen des Kontinents lebenden rumänischen Bürger für den euroskeptischen Kandidaten gestimmt – in Spanien, Italien und Deutschland lag der Zuspruch für George Simion bei ungefähr 74%. Obwohl die Regierungsallianz im Land die stärkste Parteistruktur hat (Mitglieder, Filialen, Bürgermeister, Lokalvertreter usw.) konnte sie die eigene Wählerschaft nicht überzeugen, den eigenen Kandidaten zu wählen; außer in fünf Verwaltungskreisen hat AUR (Allianz für die Vereinigung der Rumänen) sich überall den Wahlsieg gesichert.

Interim-Interim-Interim

Die klare Niederlage verlangte nach Schuldigen und die Köpfe begannen zu rollen. Als erste kündigte Elena Lasconi ihren Rückzug als Vorsitzende der USR (Union Rettet Rumänien) an.

Am späten Nachmittag kündigte Premier Marcel Ciolacu sein Amt und mit ihm die gesamte rumänische Regierung. Der noch-Vorsitzende der Sozialdemokraten behauptete, dass die Wahlergebnisse die Existenzberechtigung der Regierungsallianz komplett relativiert hätten. So befindet sich Rumänien in einer nie dagewesenen Situation: die wichtigsten Ämter des rumänischen Staates werden interimistisch verwaltet: Ilie Bolojan – Interimspräsident,  Mircea Abrudan – Interimsvorsitzender des Senats, Cătălin Predoiu – Interimspremier. Dabei befindet sich Rumänien von Angesicht zu Angesicht mit einer massiven Wirtschaftskrise, zugleich verlangt die geopolitische Situation nach Stabilität, Vorhersehbarkeit und Handlungsfähigkeit – alles Dinge, die interimistisch nicht wirklich gemeistert werden können, da in der Ausübung der Funktionen starke Einschränkungen vorhanden sind.

Dass sich die rumänischen Sozialdemokraten vor der Verantwortung in von ihnen verursachten Krisen drücken, ist nichts Neues. Man kann fast sagen, dass die Wahlergebnisse der PSD den Vorwand geliefert haben, um die heißen Eisen, die sie selber ins Feuer geworfen haben, nicht mit den eigenen Händen rausholen zu müssen.  

Das durch Wahlgeschenke verursachte neunprozentige Haushaltsdefizit, der bevorstehende Verlust von bereitstehenden EU-Fördergeldern, die Durchführung von durch Abkommen zugesicherten Reformen auf staatlicher Ebene – all dies sind die Herausforderungen, denen sich die nächste Regierung nolens volens stellen muss. Wo gibt es dafür ein wärmeres Plätzchen als in der Opposition, von wo aus man lauthals schreien kann, dass die Regierungsinhaber die Bösen sind? Die offene Frage: Rumänien hat auch fähige Politiker, die dieses alles meistern könnten, doch wollen sich diese auch der Verantwortung stellen?

Der 18. Mai 2025 wird zeigen, wohin die Reise geht. Er wird auch zeigen, welche Zukunft sich die Rumänen für sich selber und ihr Land vorstellen. In weniger als zwei Wochen werden wir ein klares Bild haben von dem, was  die rumänische Wählerschaft unter Demokratie versteht. Zurzeit sieht es so aus, als ob die junge rumänische Demokratie gerade pubertiert. Hormongesteuert und mit Pickel im Gesicht, weiß sie gerade nicht, wohin mit sich selber. Zwar stehen alle Wege offen, zwar glänzt so manch rostiges Eisen wie Gold, zwar hat man die Vorbilder älterer, erwachsener Geschwister vor Augen, doch muss man am Ende die Pubertät alleine durchstehen, man muss sich selber und anderen die Antwort auf die Frage: „Warum bin ich hier?“ geben können, um letztendlich als mündiger Erwachsener am Tisch mitreden zu können.