Wort zum Sonntag: Das unbeschriebene Blatt

Während der Regierung Karls des VII. (1422-1461) wurde der „Hundertjährige Krieg“ zwischen Frankreich und England munter fortgeführt. Die Franzosen wurden wiederholt geschlagen. Das Heer sandte deswegen einen der höchsten Frontoffiziere an den König. Er sollte mit größtem Nachdruck die Not des Heeres, den Fall der festen Plätze und die drohende Gefahr einer totalen Niederlage darstellen und eine sofortige Verstärkung des Heeres erwirken. In größter Eile beim Hoflager angelangt, erfuhr der Offizier, dass der König mit seinen Hofherren gerade einer heiteren Unterhaltung beiwohnte. Der Sendbote musste lange warten, bis er zur Audienz vorgelassen wurde. Endlich empfing ihn der König, nahm ihn vertraulich bei der Hand, und führte ihn durch seine Gemächer, die voll waren von Spieltischen, musikalischen Instrumenten und allerlei Unterhaltungskram. Dann ließ er sich lang und breit über die neuesten Theateraufführungen aus und berichtete über die Turniere und Wettrennen, die man an Hofe vorbereitete. Danach wollte der König die Meinung des Frontoffiziers über die bevorstehenden Festlichkeiten hören. Von so viel Sorglosigkeit überrascht, sagte der Offizier verwundert: „Ich denke, dass es schwer sein dürfte, heutzutage in der ganzen Welt einen einzigen Menschen zu finden, der mit so heiterer Stimmung ein ganzes Königreich verliert, wie Eure Majestät!“ Diese Worte, mit freimütiger Offenheit gesprochen, trafen beim König ins Schwarze. Er wurde ernst, nahm mit Aufmerksamkeit den Bericht über die bedrängte Lage seiner Truppen und die Fortschritte des Feindes entgegen. Nun erwachte er aus seiner Lethargie, traf unverzüglich Anordnungen für die Unterstützung der Armee und suchte zu retten, was noch zu retten war.

Auch wir tragen seit unserer Taufe einen königlichen Besitztitel in uns, den Besitztitel auf das Reich Gottes. Da wir Kinder Gottes sind, sind wir auch Erben Gottes. Jeder getaufte Christ ist in den Augen Gottes ein Prinz oder eine Prinzessin. Das Reich aber, das wir einmal in Besitz nehmen sollen, ist kein kurzes, vergängliches Reich, wie das des Königs Karl, sondern ein unvergängliches, ewiges Reich. Doch dieses kostbare Erbe wird uns nicht ohne unser Zutun in den Schoß gelegt. Hier trifft das Sprichwort zu: Gott schenkt die Nüsse, aber aufknacken müssen wir sie selber! Auch wir müssen kämpfen. Es ist ein langer Krieg, zwar nicht so lang wie der Hundertjährige Krieg, aber er dauert doch ein ganzes Menschenleben lang. Unsere Feinde heißen nicht Engländer, sondern Sünde und Teufel. Gegen diese Feinde müssen wir stets gerüstet sein, um alle Angriffe abzuwehren. Tun wir das auch? Viele handeln genauso unvernünftig wie damals der französische König. Sie interessieren sich nur für Geld, Unterhaltung und Tingeltangel. Dabei erobern Sünde und Teufel die festen Plätze in ihrem Herzen und sie geraten in die größte Gefahr, das verheißene Königreich Gottes zu verlieren.

Einer der größten Denker der Menschheit, der Franzose Pascal, urteilt über solche Menschen folgendermaßen: „Die Gleichgültigkeit auf Gefahr ewiger Verdammnis hin ist nicht mehr natürlich. In allen anderen Dingen sind die Indifferenten ganz andere Menschen. Sie sind ängstlich in Nebensachen, überlegen diese mit Vorsicht und Umsicht. Derselbe Mensch, der wegen eines verlorenen Postens oder wegen irgendeiner eingebildeten Ehrverletzung tagelang in wütendster Verzweiflung ist, derselbe weiß zwar, dass er mit dem Tode alles verliert, empfindet aber darüber weder Unruhe noch Schrecken. Diese Unempfindlichkeit des Herzens gegenüber den Schrecknissen und die Empfindlichkeit gegenüber Nebensächlichkeiten ist wie ein unbegreiflicher Zauberschlaf und eine unerklärliche Sorglosigkeit.“

Auf diese Feststellung Pascals setzt Christus den i-Punkt in seinem Gleichnis von den fünf Pfunden. Der sorglose Knecht vernachlässigt das anvertraute Gut seines Herrn und geht nur eigenen Geschäften nach. Bei der Abrechnung steht er mit leerer Hand da, verliert alles und wird verurteilt.

Dieses Gleichnis Christi soll uns Anstoß sein, alles zu tun, um nicht vor Gott bei der Abrechnung in eine ähnliche Situation zu gelangen. Handeln auch wir wie die übrigen zwei Knechte. Sie setzen sich für das Gut ihres Herrn voll und ganz ein. Der Lohn ist auch dementsprechend.

Wie König Karl VII.durch das freimütige Wort des Offiziers Anstoß zum Handeln erhielt, so erging es auch dem als Begründer der anglikanischen Mission in Ostindien berühmt gewordenen Schottländer Buchanan (+1815). Dieser hatte eine sehr bewegte Jugend. Nichts lag ihm ferner, als an das Heil seiner Seele zu denken. Den ersten heilsamen Anstoß verdankte er der Unterredung mit einem Bauern aus den schottischen Bergen. Dieser fragte ihn einmal: „Mein Freund, was ist Ihre religiöse Überzeugung?“ Leichtfertig erwiderte der junge Lebemann: „Ich habe keine. In dieser Beziehung bin ich ein völlig unbeschriebenes Blatt.“ Da entgegnete der Bauer mit bedenklicher Miene: „Freund, wenn es so mit Ihnen steht, dann nehmen Sie sich in acht, dass nicht der Teufel seinen Namen darauf schreibt!“ Diese Worte machten Buchanan sehr nachdenklich. Von nun an suchte er emsig nach der Wahrheit, und er fand sie auch. Aus ihm wurde ein überzeugter Christ und Missionar, der viele Menschen zu Christus geführt hat.

Was wollen wir tun? Keiner von uns kann ein unbeschriebenes Blatt bleiben. Entweder schreibt Gott seinen Namen auf das Blatt unserer Seele oder der Teufel. Werfen wir die Trägheit in religiösen Dingen von uns. Jeder steht vor der Wahl, entweder alles zu gewinnen oder alles zu verlieren! Schreiben wir mit unserem tagtäglichen christlichen Handeln den Namen Gottes auf das Blatt unserer Seele. Der Gewinn: das Königreich Gottes!