Wort zum Sonntag: Mauerbrecher

Während der französischen Revolution (1789-1799) spielte ein gewisser Isnard eine große Rolle. Er war als besonders wütender Revolutionär bekannt. Seine Wut ließ er vor allem an der Kirche und an den Priestern aus. Dazu benötigte er keinen Heldenmut. Die Kirche und die Priester waren weder mit Gewehren noch mit Kanonen ausgerüstet. Ihre Waffen waren Bekennermut und Leidensbereitschaft, also keine lebensbedrohenden Waffen. Auf einer öffentlichen Versammlung rief Isnard aus: „Ich kenne nur das französische Gesetz! Einen andern Gott gibt es für mich nicht!“ Er glaubte damals, er werde immer oben bleiben. Doch das Rad der Geschichte drehte sich weiter, auch mit ihm. Die Fraktion der radikalen Jakobiner gewann die Oberhand und schickte die Girondisten, zu denen auch Isnard gehörte, ohne viel Federlesens aufs Schafott. Auch Isnard wurde verhaftet und vor das Volkstribunal gestellt. Er, der das französische Revolutionsgesetz seinen Gott genannt hatte, wurde nun als Gesetzesbrecher zum Tode durch das Fallbeil verurteilt. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht. Er verkroch sich zwischen finsteren Mauern in einem düsteren Kellergewölbe. Doch auch hier war er seines Lebens nicht sicher. Er war von zwei Seiten bedroht. Einerseits von den Angehörigen derer, die er selbst verfolgt, eingekerkert und zu Tode gebracht hatte. Hätten diese ihn erwischt, wäre er von ihnen wie ein toller Hund erschlagen worden. Andererseits suchte ihn die Staatsgewalt, um ihn dem Fallbeil zu überliefern.

In seinem Versteck hatte er genügend Zeit, über sein verflossenes Leben nachzudenken. Die Lebensgefahr trieb ihn zur ungeschminkten Wahrheit. Er zog ehrlich die Bilanz seines Lebens: Bisher hatte er nichts anderes getan, als in seinem Herzen zwischen sich und Gott eine Mauer zu errichten, so dick und finster wie die Mauern des Kellergewölbes, in dem er hauste. Die Angst vor den Menschen trieb ihn zu Gott. Die Not lehrte ihn beten und er las religiöse Bücher. So begann er, die Mauer in seinem Herzen Stein um Stein abzureißen. Der Lichtstrahl Gottes konnte nun wieder in sein Herz eindringen. Nach sechzehn Monaten fand die Jakobinerherrschaft ihr blutiges Ende. Isnard konnte sein Versteck verlassen und sich gefahrlos in der Öffentlichkeit zeigen. Aber er war ein anderer Mensch geworden. Es blieben ihm noch 33 Lebensjahre, aber diese verlebte er als ein vorbildlicher Christ.

Wenn wir über unser bisher verflossenes Leben nachdenken und eine ehrliche Bilanz ziehen, so kommen wir zu einem ähnlichen Resultat: Unser Leben war mehr oder weniger ein Mauerbau, um uns vor Gott und seinen Geboten abzuschirmen. Viele von uns leben so, als ob es keinen Gott und keinen Tod gäbe, als ob sein Gericht kein Gewicht für sie hätte. Die Welt mit ihren verführerischen kleinen Dingen, mit ihren Sorgen und Vergnügen, hält sie gefangen. Ihr Herz ist mit banalen Dingen angefüllt wie eine Rumpelkammer. Da ist für Gott einfach kein Platz mehr übrig. Wie soll nun durch solch eine Mauer der Lichtstrahl Gottes dringen?

Besonders krass tritt dies an den Sonntagen in Erscheinung. An jedem Sonntag rufen die Glocken laut vernehmbar zum Gottesdienst. Aber in vielen Menschenherzen sind die Mauern so dick, dass kein Glockenton sie durchdringt.
Für viele bedeutet der Sonntag nichts anderes als schöne Kleider, gutes Essen, Ruhe, Sport, Erholung, Tanz, Unterhaltung. Aber das Wichtigste lassen sie außer Acht: Der Sonntag ist der Tag der Begegnung mit Gott!

Wir sind in der Adventszeit. Über dem ganzen Advent leuchtet eine wunderbare Verheißung: Gott will zu Dir kommen! Unsere Adventsaufgabe lautet: Seien wir keine Mauerbauer wie die ostdeutschen Kommunisten in Berlin 1961. Seien wir Mauerbrecher wie die Berliner im November 1989!