Zwischen Luftalarm und Opernbesuch

Begegnung mit Flüchtlingen aus der Besatzungszone Cherson Fotos: der Verfasser

Die ehemalige Evangelische Kirche in Neuburg

Die ehemalige Evangelische Kirche in Bessarabien

Die Oper in Odessa

Eine Reisegruppe, bestehend aus vier Personen: Christiane Lorenz vom diakonischen Dienst der Ukrainehilfe der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien (EKR), Pfarrer Zoran Kezdi im Auftrag des Zentrums Evangelische Theologie Ost – internationale Studiengruppe (ZETO), Dr. [tefan Cosoroab˛, Vertreter der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) und Pfarrer Uwe Seidner als Mitstreiter in der Flüchtlingsarbeit und Osteuropakorrespondent, hat sich ein anscheinend wagemutiges Ziel gesetzt: Menschen in dem vom Krieg gebeutelten Nachbarland zu besuchen, zu unterstützen und ein Zeichen der Solidarität setzen.

Es ist nun über ein Jahr her seit dem Beginn der russischen Invasion. Etwa ein Drittel der Menschen aus unserem Nachbarland Ukraine sind Flüchtlinge, viele von ihnen verschlug es auch in unser Land. In Teilen unserer Gesellschaft und der EKR erwies sich die Hilfsbereitschaft als groß, Menschen wurden aufgenommen. Da die Kirchengemeinde Wolkendorf schon seit einigen Jahren  Kontakte zu Odessa pflegt, wurden diese Kommunikationskanäle genutzt, um einigen Familien Zuflucht anzubieten. Nach mehr als einem Jahr Erfahrung hatten sich nun Verantwortliche unterschiedlicher Bereiche vorgenommen, die Perspektive zu wechseln, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Wichtig war auch, ein Zeichen der Solidarität zu setzen und zu erörtern, wie weitere Unterstützung aussehen könnte. Natürlich meinten viele in unserem Umfeld: „Das ist doch gefährlich!“ oder „Was wollt ihr denn da?“ oder „Da herrscht doch Krieg!“. Wir sahen das etwas anders. Odessa befindet sich nicht an vorderster Frontlinie, und die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Raketenangriffs zu werden, war gering. Aber natürlich hatte jeder seine eigenen Gedanken…

Der Start der Reise wurde für Sonntag, den 19. März angesetzt. Nachdem wir Gebet und Segen aus dem Gottesdienst mitgenommen hatten, ging die Reise los. Am Nachmittag erreichten wir die moldauisch-ukrainische Grenze. Ab diesem Augenblick sollten uns Schritt für Schritt die Zeichen des Krieges bewusstwerden: Schon an der Grenze wurden unsere Telefone vom Geheimdienst geprüft. Wir fügten uns dieser Aufforderung und verstanden die Sorge der Behörden, Spione aus Transnistrien könnten einreisen.  Die Grenzkontrolle verlief freundlich und schmerzlos. 

In Odessa war es dann der Luftalarm, der uns anfangs aufschrecken ließ. Aber sehr schnell ließen wir uns von der Gelassenheit der Einheimischen anstecken. Viele Millionen Menschen in diesem Land leben diesen Alltag, seit 13 Monaten. Einschränkungen wegen des Krieges spürten wir nicht so richtig. Die Supermärkte waren offen und gut bestückt.  Strom gab es auch die ganze Zeit über, und sogar sehr guten Internetempfang. 

Wir durften Gast im Haus der evangelischen Kirche Sankt Paul sein.Anfang der neunziger Jahre war hier der Bischöfliche Sitz der Deutschen Evangelisch-Lutherischen Kirche der Ukraine (DELKU) eingerichtet worden. Die DELKU sieht sich als direkte Nachfolgerin der evangelischen Kirche der Ukraine, die im Stalinismus verboten wurde. In den vergangenen Jahren hatte es zahlreiche Austauschmöglichkeiten zwischen der EKR und DELKU gegeben. Doch seit Pandemie und Kriegsbeginn hat es niemanden mehr hierher verschlagen, nicht nur aus Rumänien, sondern aus ganz Europa nicht. So berichteten uns die Gastgeber, erfreut über diesen ersten Besuch nach schweren Jahren. 

Die Evangelischen der Region blicken auf einen jahrelangen „Kirchenkampf“ zurück: Im Oktober 2018 entzog die DELKU-Synode dem Ende 2013 gewählten Bischof Serge Maschewski mehrheitlich das Vertrauen und dessen Vollmachten und wählte satzungsgemäß als Nachfolger den Pfarrer von Charkiw, Pawlo Svarts. Doch Maschewski gab sein Amt nicht freiwillig ab und räumte auch nicht das Kirchenamt zu Sankt Paul in Odessa. 

Es folgten jahrelange Prozesse, bis er 2021 aus den Räumlichkeiten des Bischofsamtes ausquartiert werden konnte. Pfarrer Alexander Gross und Diakon Alexander Zhakoon nahmen uns mit Freuden in Empfang. Von ihnen erfuhren wir über die aktuellen Herausforderungen der Gemeinden in und um Odessa. Der Krieg hat diese noch einmal sehr schrumpfen lassen. Viele aus der Gemeinde hatten schon vorher Kontakte in den Westen gepflegt und schlugen ab Februar 2022 diesen Weg ein. Das Augenmerk der Kirchengemeinden liegt zurzeit auf zwei Ebenen: Die eine ist die Arbeit mit Flüchtlingen aus dem Gebiet Kherson, vorwiegend aus der evangelischen Gemeinde Schlagendorf/Zmiivka am Dnjepr im Kirchenzentrum Peterstal/Petrodolysnke. Die Orte standen lange unter russischer Besatzung, wurden nun aber befreit. Die andere Ebene ist die Arbeit mit Kindern aus umliegenden Dörfern im Tageszentrum im Haus des Pfarrers Alexander Gross in Neuburg/Novogradkivka.

Die Begegnung mit den Flüchtlingen in Peterstal ist uns sehr nahe gegangen. Betroffen erzählten diese von dem Erlebten aus dem besetzten Gebiet Cherson, über die Gräueltaten der russischen Besatzer, was uns einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Diese Erfahrungen haben bei den Betroffenen Traumata hinterlassen. 

Heute organisiert das Kirchenzentrum in Peterstal (übrigens die einzige evangelische Kirche, die nach dem Zerfall der Sowjetunion mit deutschen Fördermitteln neu erbaut wurde) Hilfstransporte mit Lebensmitteln in die Gemeinde Schlangendorf am Dnjepr. Diese Gemeinde befindet sich auch heute noch an der direkten Frontlinie zu den russischen Truppen. Vom anderen Ufer des Dnjepr beschießen die russischen Besatzer die Zivilisten und ihre Häuser. Kürzlich wurde das Nachbarhaus des Pfarrhauses von einem Artilleriegeschütz getroffen. Die ganze Familie starb dabei. 

Die sehr gefährlichen Fahrten  mit den Hilfsgütern werden mit dem alten „Vito-Gemeindebus“ unternommen. Das letzte Stück des Weges muss nachts, bei sehr schlechten Holperpisten und ohne Licht gemeistert werden, da die Gefahr einer Angriffsdrohne oder eines Beschusses sehr hoch ist. Es ist ein regelmäßiger Drahtseilakt. Bis jetzt ist es gut gegangen…

In Neuburg/Novogradkivka erinnert die alte lutherische Kirchenruine an längst vergangene Zeiten. In einem Anbau zu einem Wohnhaus hat Alexander Gross einen kleinen Gebetsraum eingerichtet. Im Keller des Hauses gibt es Räumlichkeiten. Hier kümmern sich eine Lehrerin und die Frau des Pfarrers um Kinder aus der Umgebung, die seit Kriegsanfang keine Schule mehr besuchen. Wir brachten Ostergeschenke für die Kinder und hinterlegten diese unauffällig, um die Kinder bei ihren Schulaufgaben nicht zu unterbrechen. Mittlerweile sind die beiden Kirchengemeinden Peterstal und Neuburg Anlaufstellen für Menschen geworden, die im religiösen Niemandsland auf der Suche nach einer Glaubensheimat sind. An die Vergangenheit der deutschen-evangelischen Kirche erinnern nur noch steinerne Zeugnisse. Von den Deutschsprachigen sind so ziemlich alle ausgewandert.

Nach einem bewegten Tag mit vielen Eindrücken machten wir einen kurzen Halt auf dem Rückweg nach Odessa. Wir blickten auf den Strand des Schwarzen Meeres. Ein paar Stufen trennten uns vom Wasser. Doch große Warnschilder und Stacheldrahtzaun hielten uns davon ab, uns dem Meer zu nähern: „Achtung! Lebensgefahr!“. Es wird – wegen schon geschehenen Unfällen – vor Seeminen gewarnt. Den Abend ließen wir kulturell ausklingen und verbrachten diesen bei einer Vorstellung in der Oper. Noch im Februar konnten Opernsänger aus Odessa zusammen mit dem Bachchor in Kronstadt für ein Benefizkonzert auftreten. Nun freuten sich diese jungen Männer, die uns noch kürzlich in Wolkendorf und Kronstadt besucht hatten, über den Gegenbesuch. Es gab eine Führung durch das Haus der Oper. Die Architekten Helmer und Fellner sollten auch uns in Rumänien bekannt sein: Die Opern in Jassy, Klausenburg und Großwardein gehörten ebenfalls zu ihren Aufträgen. Doch Odessa sollte das Meisterwerk werden. Doch zurück zum Kriegsalltag: Drei Monate nach Kriegsbeginn nahm die Oper 2022 ihre Tätigkeit wieder auf: „Was sollte man auch sonst machen, wir müssen doch weiterleben.“ 

Wir betraten den großen Opernsaal im Rokoko-Stil. Dabei hatten wir ein richtiges „Back-Stage“-Erlebnis und bewunderten die Technik. Doch das Konzert sollte, da wochentags, nicht im Opernsaal stattfinden. Zu sehr ist die Zuschauerzahl zurückgegangen. In den großzügigen Kolonnadengängen wurde ein Piano aufgestellt und die Sängerinnen und Sänger von Sopran bis Bass boten ukrainische Folklore dar. Am Ende des Konzertes ertönte plötzlich Luftalarm. Wir bemerkten ihn erst, als wir das Gebäude verließen. Trotz Alarm durften wir mit unseren Freunden noch einkehren. Bei Soljanka und Wareniki ließen wir den Abend ausklingen und waren von der Gefasstheit dieser Menschen beeindruckt.

Auf der Heimreise entschieden wir uns, einige ehemalige bessarabiendeutsche Dörfer zu besuchen, bevor es durch Gagausien, eine Teilrepublik Moldaus, wieder zurück in die Europäische Union gehen sollte. Als wir durch Tarutyno fuhren, einst ein wichtiges Handelszentrum der Bessarabiendeutschen, überraschte uns ein kilometerlanges Spalier von Menschen aller Altersgruppen. Sie hielten blau-gelbe Fahnen und Wimpel in der Hand. Doch sogleich merkten wir, dass der Anlass ein trauriger war: die Militärbestattung eines gefallenen Soldaten. Wir hielten an, und der Trauerzug zog vorbei. Die Leute erwiesen dem Gefallenen die letzte Ehre und versuchten auf diese Weise, ihren Dank auszudrücken. Die Kolonne von Menschen, die auf den Trauerzug warteten, setzte sich auch in den nächsten Ortschaften fort.

Für uns sollte in wenigen Stunden der Kriegsalltag aufhören, doch für die Menschen in der Ukraine geht er weiter, Tag für Tag: In der Kirche, in den Schulen, in der Gesellschaft. Was für mich aber sehr beeindruckend war, ist diese Zuversicht und der Mut dieser Menschen. Sie sind überzeugt davon, dass das Gute siegen wird. Die Streitkräfte genießen ein sehr hohes Vertrauen. Die Ukrainer sind überzeugt: Sie werden – auch dank der Unterstützung der freien Welt – das Land verteidigen und den Besetzer vertreiben. Aber bis dahin finden sich die Menschen wie Du und Ich mit dem Kriegsalltag ab und pendeln zwischen Luftalarm und Opernbesuch.