Die Europäische Union steckt derzeit in einer ganzen Reihe von Krisen: Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Schuldenkrise, Arbeitsmarktkrise, überhaupt in einer Legitimitäts-, Identitäts- oder Demokratiekrise. Rechtspopulisten und Rechtsextreme machen sich dies europaweit zunutze, um ihre nationalen politischen Interessen durchzusetzen. Auf den ersten Blick scheint eine Erklärung für den Gang der Dinge recht einfach: Armut, Korruption und gierige Banken erschüttern das Vertrauen der Bürger in die demokratischen EU-Institutionen, weshalb Populisten aller Art diese angreifen und für eigene Zwecke nutzen können. Es ist auch diese Art Erklärungen, welche große Parteien für die Probleme der EU oder der einzelnen Länder oft heranziehen, jedoch sind die Lösungsansätze, die daraus hervorgehen, wenig überzeugend.
Dass die großen Parteien keine überzeugenden Lösungen vorschlagen, werden mit großer Wahrscheinlichkeit die Europaparlamentswahlen an diesem Wochenende zeigen. Abgesehen davon, dass die oben genannte Betrachtungsweise, die von einer Art Manipulation der Bürger ausgeht, sehr vereinfacht ist, liegt ihr eigentlich auch eine stark undemokratische Haltung zugrunde: Es wird praktisch weiten Teilen der Bevölkerung unterstellt, so was wie eine Schafherde zu sein, die beim Erleben von Armut oder Korruption nicht mehr fähig ist, im eigenen demokratischen Interesse zu handeln. Für eine leicht verschiedene Perspektive auf die Dinge lohnt sich ein Blick auf ein Land, in dem Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und gierige Banker viel weniger Einfluss auf die Gesellschaft ausüben als in wohl jedem einzelnen EU-Land, blicken wir also auf die Schweiz (der Punkt „gierige Banker“ muss nicht aus der Liste genommen werden, zumindest nicht vollständig).
Sonderfall Schweiz
Als Erstes denken viele bei der Schweiz wohl an eine Reihe alberner Vorurteile über Käse, Schokolade, Uhren, usw. Kein Geheimnis ist, dass die Schweiz in wohl allen Bereichen, vielleicht abgesehen von der Selbstmordrate, besser dasteht als so ziemlich jedes andere EU-Land. Es ist nicht nur eines der reichsten Länder der Welt, es kann sich auch mit einem hohen Maß an Freiheit, einem starken und gut funktionierenden Sozialstaat und mit dem wohl demokratischsten politischen System der Welt loben. Und dennoch gibt die Schweiz bei Europaverdrossenheit und Rechtsextremismus den Ton eher an.
Bereits 2007, als die jetzige Krise noch unvorstellbar schien, machte die Schweiz mit einer Volksabstimmung über die „Ausschaffung von kriminellen Ausländern“ (und von ihren Familien im Falle minderjähriger Krimineller) auf sich aufmerksam. Auf den Wahlplakaten der Befürworter waren drei weiße Schafe zu sehen, die ein schwarzes Schaf wegtreten (übrigens ein gutes Anzeichen dafür, wie Rechtspopulisten ihre Wählerschaft sehen).
Die britische Zeitung „The Independent“ titelte damals mit der Frage „Europas Herz der Finsternis?“, erklärte, dass es ein derartiges Gesetz in Europa seit der Sippenhaft bei den Nazis nicht mehr gab und bemerkte sehr überrascht, dass dies nicht das Werk einer kleinen nationalistischen Partei war, sondern der größten Schweizer Partei, der Schweizer Volkspartei (SVP). Die Initiative wurde drei Jahre später vom Volk angenommen, ihre Umsetzung ist aber aus völkerrechtlichen Gründen weiterhin umstritten. 2009 wurde außerdem das Minarett-Verbot angenommen, wodurch es das Alpenland bisher nicht geschafft hat während einer Zeitspanne von 20 Jahren gleiche Rechte für alle Staatsbürger zu garantieren (erst seit 1990 gilt das Frauenstimmrecht in allen Kantonen). In einer erfolgreichen Volksabstimmung gegen „Masseneinwanderung“ aus EU-Ländern stufte das Wahlvolk diesen Winter Sorgen um „Staus, überfüllte Züge und die Überbauung des Landes“ höher ein als die guten Beziehungen zur EU. Erst 1999 wurden die ersten bilateralen Verträge mit der EU, darunter auch die Personenfreizügigkeit, mit klarer Mehrheit angenommen. Dabei handelt es sich um ein Vertragspaket: Sollte einer der Verträge abgelehnt werden, können alle gekündigt werden.
Es ist interessant zu bemerken, dass eine Rhetorik, die auf Sicherheit und eher wirtschaftliche Befürchtungen aufbaut („die Arbeitsplätze!“), in einem Land an Zustimmung gewinnt, das praktisch immer sicherer wird und dessen Wirtschafts- und Sozialsystem sich als sehr robust erweist, sei es im Kontext der Wirtschaftskrise oder der Vertiefung der Beziehungen zur EU, erhöhte Einwanderung miteinbegriffen. Und dies gilt nicht nur für die Schweiz, sondern für eine ganze Reihe europäischer Staaten wie Österreich, den Niederlanden oder den skandinavischen Ländern. Das sind aber auch die EU-Länder in denen rechtspopulistische und europaskeptische Parteien schon früh den Ton angegeben haben. Daher drängt sich die Frage auf, ob ein Verlust an wirtschaftlicher und im allgemeineren Sinne gesellschaftlicher Teilnahme für weite Bevölkerungsschichten möglich ist, ohne dass offensichtliche soziale Probleme wie Armut oder Arbeitslosigkeit damit einhergehen. Sollte man sich selber der Gesellschaft stärker entfremdet fühlen, dürfte sich dies nämlich darin äußern, dass von anderen, besonders neu dazugekommenen, mehr „Integration“ verlangt wird.
Das Schweizer Bankenwesen ist ein erster Anhaltspunkt hinsichtlich der Möglichkeit einer derartigen Entfremdung. Das Bankensystem ist zwar in erster Linie für das Bankengeheimnis, die beiden Großbanken UBS und Credit Suisse und spätestens seit der Finanzkrise für Skandale in aller Welt bekannt, jedoch sind landesintern traditionell die öffentlich-rechtlichen Kantonalbanken (mit einem Marktanteil von etwa 30 Prozent) sowie die genossenschaftlich organisierten Raiffeisenbanken (etwa 20 Prozent Marktanteil) von großer Bedeutung – dies trifft übrigens auch auf das deutsche und in gewisser Hinsicht das österreichische Bankensystem zu. Andererseits besteht hier ein Trend hin zu größeren privaten Beteiligungen an den Banken und weniger festgeschriebenen Staatsgarantien. Ein Trend, der in starkem Kontrast zur Bereitschaft des Staates steht, großen Privatbanken, zum Beispiel der UBS, im Zuge der derzeitigen Finanzkrise unter die Arme zu greifen – ein eindeutiges Demokratieproblem (zur Rettung der UBS wurde das Volk nicht befragt).
Auf Gegenseitigkeit beruhende Unternehmen
Genossenschaften spielen in der Schweiz überhaupt eine wichtigere Rolle als in den meisten anderen Ländern. Zum Beispiel sind die beiden größten Handelsketten Migros und Coop Genossenschaften, diese haben einen Marktanteil von über 50 Prozent im Detailhandel und allgemein einen nicht so schlechten Ruf im Umgang mit Mitarbeitern wie die in den vergangenen 15 Jahren neu dazugekommene Konkurrenten aus der EU (Aldi oder Lidl zum Beispiel). Die Genossenschaften kommen auch bei Managergehältern seltener in die Kritik. Allerdings geht die Anzahl der Genossenschaften in der Schweiz zurück. Die „NZZ“ zeigt aufgrund statistischer Daten, dass die Anzahl der Genossenschaften seit 15 Jahren stetig zurückgeht, während gleichzeitig die Aktiengesellschaften zulegen – in den 90er Jahren war die Anzahl sowohl der einen als auch der anderen relativ stabil geblieben. Zwar waren die AGs schon in den 90er Jahren 10 Mal zahlreicher (nun 20 Mal), als die der Genossenschaften (es sind nun etwas mehr als 9000), aber unwichtig sind letztere nicht. Die Handelskette Coop hat beispielsweise alleine nur 2,5 Millionen Mitglieder, der Zusammenschluss der Raiffeisenbanken ist nach Bilanzsumme die drittgrößte Bankengruppe im Land, zählt 3,7 Millionen Kunden und 1,8 Millionen Genossenschafter. Dass hier eine mitwirkende Form des Wirtschaftens einer an Profitmaximierung orientierten Form (politisch) geopfert wird, wirkt offensichtlich. Dass dies jedoch zu einem freieren Markt führt, kann wohl nur die UBS mit Überzeugung behaupten.
Spielt also die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz eine Rolle für die EU oder Rumänien? In den vergangenen Jahren wurde ersichtlich, dass EU-Verdrossenheit und Rechtspopulismus nicht in direkter Verbindung mit Armut, Arbeitslosigkeit oder der Zunahme weiterer sozialer Probleme stehen. Als große Gefahren für die jetzige EU-Wahl gelten nicht Parteien aus Spanien oder Italien sondern aus Frankreich und Großbritannien, nicht aus Irland oder Portugal sondern aus den Niederlanden, weniger aus Osteuropa als mehr aus Österreich oder den skandinavischen Ländern. Umgekehrt sieht es mit Deutschland und Griechenland aus. In Griechenland hat die Troika die Leistung erbracht, sich noch undemokratischer als die nationalen korrupten Politiker zu verhalten – unter anderem wurde 2011 ein Referendum zu den Sparauflagen verhindert.
Zudem ist es gerade das Land, in dem „Demokratie“ nicht mehr in „Herrschaft des Volkes“ übersetzt werden muss. Die deutschen Wähler konnten sehen, dass die von ihnen gewählte Regierung es schafft, die EU-Politik ganz im Sinne des eigenen Verständnises von „Schulden“ und „Schuld“ zu gestalten; diesen Einfluss haben Wähler in Frankreich oder Großbritannien nicht. Also ist die EU-Verdrossenheit da am größten, wo Wähler den Einfluss ihrer Stimmen am stärksten schwinden sehen, wo die EU mit einer Abnahme der Demokratie in Verbindung gebracht wird (dies gilt weniger im Falle der neuen EU-Staaten, der Trend ist aber da). Zusätzliche Befugnisse für das EU-Parlament geben dem Wähler mehr Einfluss über die EU-Politik, aber der Prozess ist zu langsam. Das EU-Parlament hat nach wie vor nicht das Recht, Gesetzesinitiativen vorzulegen.
Dieser Ent-Demokratisierungsprozess findet nicht nur auf politischer sondern auch auf wirtschaftlicher bzw. wirtschaftspolitischer Ebene statt, und zwar schneller und breiter gefächert als in der Schweiz. Die Schuld liegt nicht nur bei Brüssel, aber gerade dort, wo die Nationalpolitik sehr schwach ist, kann beobachtet werden, dass Privatisierungen und die Ausrichtung des Wirtschaftsgeschehens lediglich am Profit zunehmend ins Absurde gehen. Staatliche Rettungsaktionen für private Banken sind das markanteste Beispiel, können aber auch ganz in der Logik der Krise, die überwunden werden muss, interpretiert werden. Bei den Privatisierungen reicht die Krise nicht mehr als einzige Erklärung. Beispielsweise wurde das staatliche griechische Gasverteilerunternehmen an einen aserbaidschanischen Staatskonzern verkauft. Beim rumänischen Energiekonzern Rompetrol hat es keine 10 Jahre gedauert, bis er bei einem kasachischen Staatsunternehmen gelandet ist. In Hamburg und Berlin laufen Bestrebungen, die Stromnetze zu rekommunalisieren – diese gehören dem schwedischen Staatsunternehmen Vattenfall.
Im „Aktionsplan Unternehmertum 2020“ der EU-Kommission fehlt der Bezug auf gemeinschaftliche Unternehmensformen wie etwa Genossenschaften völlig. Dabei zeigt ein Bericht des Internationalen Genossenschaftsverbands („International Co-operative Alliance“, ICA) von vorigem Jahr, dass unter den 300 größten genossenschaftlich organisierten oder auf Gegenseitigkeit beruhenden Organisationen weltweit, neben den USA und Japan die meisten gerade in Westeuropa zu finden sind. Verhältnismäßig kleine Länder wie die Schweiz, Österreich, die Niederlande sowie die skandinavischen Länder sind hier überaus stark vertreten. In Finnland zum Beispiel gibt es bei einer Bevölkerung von 5,6 Millionen Menschen fast vier Millionen Genossenschafter, die französische Crédit Agricole oder die Niederländische Rabobank gehören zu den größten Kreditinstituten ihrer Länder. In Deutschland übertrifft die Bilanzsumme der Finanzgruppe der Raiffeisenbanken sowohl diejenige der staatlichen KfW als auch diejenige der Commerzbank und reiht sich nach der Deutschen Bank auf Platz zwei ein. Für die Politik spielt „too big to fail“ offensichtlich vor allem dann eine Rolle, wenn es sich um einige große Interessen handelt, nicht um viele kleine.
Und Rumänien?
Rumänien ist mit großer Wahrscheinlichkeit das absurdeste aller Beispiele. An Rompetrol wurde schon erinnert, aber bei den neuen „privaten“ Besitzern von Dacia und Petrom – der französischen Renault und die österreichische OMV – sind die jeweiligen Staaten die größten Anteilseigner. Politiker überholen sich gegenseitig in marktfreundlichen Aussagen, und tatsächlich werden regelmäßig Investitionen großer Unternehmen vom Staat unterstützt, aber gleichzeitig werden Förderprogramme für kleine und mittlere Unternehmen zusammengestrichen. Im Zuge der Austeritätspolitik, mit der auf die Krise ab 2009 geantwortet wurde, war eine der ersten Maßnahmen eine absurd hohe Mindeststeuer für kleine Unternehmen. Beim Wort Genossenschaft würden wohl auch die sogenannten rumänischen Sozialdemokraten direkt an die Decke gehen, dabei sind längst mehrere Tochterunternehmen von Organisationen aus dem ICA-Bericht auch in Rumänien tätig: Die österreichische VIG ist über Omniasig, Asirom und BCR Lebensversicherungen Marktführer am Versicherungsmarkt, die Raiffeisen Zentralbank Österreich betreibt eine der wichtigsten Banken in Rumänien, Rewe, der zweitgrößte Lebensmittelhändler in Deutschland, ist mit Penny und Billa präsent und die Schweizer Genossenschaft Coop ist der Besitzer von Selgros. Gleichzeitig scheuen Politiker aller Parteien nicht davor zurück, Gesetze speziell für Großunternehmen zu schreiben.
Zum Schluss ein Ausschnitt aus dem aktuellen Parteiprogramm der Sozialdemokratischen Partei (SP) der Schweiz: „Die SP Schweiz war und ist eine Partei, die den Kapitalismus nicht als Ende und schon gar nicht als Vollendung der Geschichte akzeptieren will. Sie hat immer eine Wirtschaftsordnung ins Auge gefasst, die über den Kapitalismus hinausgeht und diesen durch Demokratisierung letztlich überwindet.“ Man kann natürlich diskutieren ob die Demokratisierung der Wirtschaftsordnung zur Überwindung des Kapitalismus führt, aber wer sich mehr Demokratie von Europa wünscht, sollte dies nicht nur auf das politische System beziehen.