45 Stämme und ethnische Gruppen aus dem Sudan haben sich der gebürtigen Kronstädterin Enikö Nagy geöffnet und ihr ihre Jahrhunderte alte Kultur offenbart. Über 30.000 Kilometer hat Nagy zurückgelegt, um bislang unbeachtete Kulturen und ihr immaterielles Erbe zu dokumentieren. Damit möchte sie das einseitige Paradigma vom „armen und hilfsbedürftigen afrikanischen Land” verändern. Das schafft sie durch ihren Bildband „Sand in My Eyes: Sudanese Moments” (Sand in meinen Augen: Sudanesische Momente) und eine Wanderausstellung von Bildern mit Lesungen daraus.
„Daraus können viele Menschen etwas lernen“
Leidenschaftlich und schnell erzählt die 40-Jährige über ihre Erlebnisse im Sudan – insgesamt zehn Jahre hat sie dort verbracht, mehr als die Hälfte davon hat sie ihrem Buch gewidmet. Die Erlebnisse der ehemaligen Entwicklungshelferin für den Deutschen Entwicklungsdienst, später Internationale Expertin für UNESCO in den ländlichen Gegenden von Nord-Kurdufan im Sudan, wo sie zweieinhalb Jahre gedient hat, sind so zahlreich und so intensiv, dass die Autorin beim Erzählen die Wörter fast aneinanderklebt, um nichts wegzulassen. Ihre Haltung ist selbstsicher, ihre Augen strahlen. Dabei spricht sie nicht etwa von außergewöhnlichen Geschehnissen, sondern vom Alltag. Es ist ein faszinierender Alltag, dessen Philosophie die Autorin aufdeckt. In ihren Gesprächen mit Stammesoberhäuptern, Ältesten und Weisen, Poeten, Schamanen und einfachen Menschen hat Nagy deren Denkweise, Lebensart und Bräuche kennengelernt und festgestellt, dass ihre Gedichte und Geschichten zeitlose Weisheiten enthalten, zu denen auch Menschen anderer Länder Zugang finden können. Die Einfachheit, mit der die Menschen dort leben, der Gemeinschaftssinn, ihre Großzügigkeit und Güte und der Sinn für Freiheit im nomadischen Leben könnten als Vorbild für moderne Kulturen gelten, ebenso Haushaltsführung, Bekleidung, Rituale, Zeremonien oder der Respekt für die Natur und für die Alten.
Umfangreiche Einsicht
Aus der Idee, Fotos und kurze Texte festzuhalten, entwickelte sich eine künstlerische, ethnographische Studie aus 26.000 Bildern, 100 Interviews und der Bearbeitung von 2500 Texten, über fünf Jahre hinweg. 550 Fotografien sind im Bildband zu sehen. Diese werden nicht etwa durch einen Text der Autorin ergänzt, die Sitten und Bräuche, Geographie oder die Geschichte des Landes vorstellen, sondern durch sudanesische Sprichwörter, Geschichten, Fabeln, Mythen, Lieder, Ritualtexte, Segenssprüche, Anekdoten, Legenden und Gedichte der Einheimischen. Somit erhält der Leser einen intimen Einblick in das sudanesische Volk. Der Leser bekommt den Eindruck, an den fotografierten Zeremonien teilzunehmen, zu verstehen was die vielfältigen Völker denken, glauben, fühlen, wonach sie sich richten. Man meint, die Staubwolken zu riechen, die beim traditionellen Kampf junger Männer aufsteigen, und das Wiegenlied des Vaters zu hören, der sein Baby in den Schlaf singt. „Die Texte im Buch haben universellen Wert“ weiß Nagy, die mit der Wanderausstellung auch in Kronstadt/ Braşov anwesend war.
Sich das Buch zur Aufgabe gemacht
Enikö Nagy hat sich dieses Buch zur Aufgabe gemacht. „Wäre ich gegangen, ohne das Buch zu machen, so hätte ich dem Sudan Unrecht getan.“ Aus Liebe zum Sudan hat sie der Welt dessen kulturelle Schätze, auch aus entlegenen Gebieten, den Reichtum seines immateriellen Erbes gezeigt. Dadurch kann das Buch „zum Dialog, zu gegenseitiger Verständigung und zur Aussöhnung zwischen Menschen und Gesellschaften, die von Konflikt betroffen sind“, letztendlich zum Frieden beitragen, wie Francesco Bandarin, Assistent des Generaldirektors der UNESCO, im Vorwort des Buches schreibt.
Ewig überleben
„Des Sudans vielseitige Kulturen werden nur in Ewigkeit überleben, wenn sie dokumentiert und bewahrt werden“ schreibt Mansour Khalid, ehemaliger sudanesischer Außenminister, im Vorwort ihres Buches. Diese „exzellente Arbeit“ von Enikö Nagy „aus selbstloser Hingabe“ erstellt ein „klares Bild der vielfältigen Kulturen des Sudan, begleitet von Analysen der inneren Bedeutung vieler Aspekte sudanesischer Kultur, die entweder im Morast akademischen Betrugs verborgen sind, oder durch Missdeutung oder Missverständnis verdunkelt wurden. Gleichzeitig zeigt sie erfolgreich, wie unterschiedliche Ethnien im Sudan es geschafft haben, dass zahlreiche Aspekte ihrer Kulturen durch Lieder, Geschichten und dem freiem Erzählen überlebt haben“, so Mansur.
Hartnäckiges One-Woman-Projekt
Da der Sudan kein touristisches Land ist, war die Produktion eines Bildbandes, der nicht etwa Konflikte, sondern die Schönheit des Landes und seiner Menschen zeigt, für europäische Verlage nicht von Interesse, und Enikö Nagy machte alles auf eigene Faust - von Fundraising und dem Einholen von Genehmigungen über Übersetzungen bis hin zu Druck und Produktion. „Es gab viele Herausforderungen, das Projekt war überwältigend, aber ich habe immer fest an das Buch geglaubt“ erinnert sich die gebürtige Szeklerin, die das Land - fünf Mal so groß wie Deutschland - neun Monate lang kreuz und quer bereist hat, unter manchmal peinigenden klimatischen Bedingungen. Geduld, Ausdauer, Fleiß, Neugier, wie auch der Respekt und die Bewunderung für die Menschen, die sie traf, haben sie getrieben. Ihre Entschlossenheit war ansteckend, so dass sie die Unterstützung vieler Einheimischer, sowie freiberuflich Mitwirkender aus dem In- und Ausland gewinnen konnte, von denen viele unbezahlt mitgearbeitet haben. So zählt das Team, das zur Entstehung des Buchs beitrug, etwa 60 Leute.
Ein Diktiergerät der Großmutter wegen
Die Fotografin wuchs in Deutschland auf, wo ihre Eltern wenige Jahre vor der Wende von 1989 politisches Asyl fanden. Die Beziehung zu Siebenbürgen wurde jedoch immer gepflegt, regelmäßig die Verwandten hier besucht. Das abendliche Plaudern der Großmutter mit ihren Nachbarinnen auf der Holzbank vor dem Haus (im Dorf Sânzieni, Kreis Covasna), ihre Sprechweise, Kleidung und Haltung haben sie beschäftigt. Um diese für die kommenden Generationen festzuhalten, schaffte sie sich ein kleines Diktiergerät an. „Mir war bewusst, dass es diesen Menschenschlag nicht mehr geben wird, mit seinem Wissen, seiner besonderen Art und ihren Erfahrungen. Sie werden all das mit sich nehmen.“ Es sollte leider nicht zu diesem Projekt kommen - und dieses Diktiergerät zeichnete letztlich die Geschichten anderer weiser Alten im Sudan auf. „Ich bin dankbar, diese Momente im Sudan miterlebt haben zu dürfen, auch einige, die selbst Einheimische nicht erleben“. Enikö Nagy gefällt die Vorstellung, jedes Land der Welt auf diese Weise kennenzulernen. „Durch die Würdigung des Sudans habe ich meine eigene Kultur gewürdigt“, weil die Arbeit an das kulturelle Erbe eines jeden Volkes erinnert.
Nach anderen Veröffentlichungen arbeitet sie zurzeit als Referentin für globales Lernen in Deutschland, und leitet ein Frauenhaus. Immer wenn es möglich ist „will ich meiner Tochter (2 Jahre alt) zeigen, wie groß die Welt ist. Viel größer als wir denken“, sagt sie, und schließt ein Projekt in Siebenbürgen nicht aus.